1Idee und Inspiration
Nehmen Sie Platz.
Im ersten Abschnitt dieses Buchs erwartet Sie:
Nichts Technisches. Nichts Praktisches. Kein Tutorial.
Im Mittelpunkt steht das Theater selbst, das große Ganze! Lassen Sie sich bezaubern.
Finden Sie Ihre Inspiration.
Werden Sie ein bisschen wahnsinnig – und wieder nüchtern. Gönnen Sie sich für den Sprung auf die Bühne eine Anlaufstrecke.
1.1Das Theater
Was unterscheidet den Menschen von allen anderen Lebewesen? Die Fähigkeit zum Schauspiel. Wo finden Schauspieler und Publikum zusammen? Im Theater. Seine andauernde Popularität verdankt das Theater wie keine andere Institution der Fähigkeit zum Wandel. Ganz grob lassen sich drei Epochen unterscheiden:
1.Das klassische Theater.
2.Das moderne Theater.
3.Das Social-Media-Theater.
1.1.1Das klassische Theater
Im Athen der Antike war das Theater so beliebt, weil die Inszenierungen sehr genau widerspiegelten, was die Menschen im Stadtstaat bewegte: Liebe und Krieg, Triumphe und Niederlagen, Schicksale und Entscheidungen. Als Höhepunkt der Saison galten die Tragödien- und Komödienwettbewerbe, die in jedem Frühjahr zu Ehren des Dionysos ausgetragen wurden, des Gottes des Rauschs und der ungezügelten Ausschweifungen. Dieses Spektakel durfte sich keine Bürgerin und kein Bürger entgehen lassen. Höchstes öffentliches Ansehen genossen die Stückeschreiber, Regisseure und Schauspieler. Inspiriert wurden sie von den neun Musen, allesamt Töchter des Göttervaters Zeus und seiner Gespielin Mnemosyne. Sie werden diese Damen, die bis heute weder an Anmut noch an Bedeutung verloren haben, in diesem Buch noch näher kennen- und schätzen lernen.
1.1.2Das moderne Theater
Dem Niedergang der griechischen Kultur und des römischen Imperiums folgte das finstere Mittelalter; die Schauspielkunst verlor für fast ein Jahrtausend an Bedeutung. Mit der Epoche der Renaissance, der Wiedergeburt der Ideen der Antike, begann dann der lange und stetige Aufstieg des modernen Theaters. Es wurde gespielt und zensiert, gestritten und randaliert, geliebt und politisiert. Dramatiker wie Shakespeare, Molière und Brecht brachten das Blut in Wallung und die Emotionen zum Kochen. Noch im vergangenen Jahrhundert, insbesondere in den 20er- und 60er-Jahren, galt das Theater gar als subversiv.
Nun sind die Spielstätten ja immer noch in Betrieb, und ihre Existenzberechtigung soll nicht angefochten werden, aber welche gesellschaftliche Relevanz kommt ihnen zu? Subversiv sind sie schon lange nicht mehr. Im Theater von heute sitzt – bedauerlicherweise – nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung. Und wozu erdreistet sich dieser bildungsbürgerliche Rest in der Pause oder gar heimlich, still und leise während der Vorstellung? Sie haben es erraten: Das Publikum widmet seine Aufmerksamkeit dem Smartphone. Es treibt sich auf Facebook, Twitter und Instagram herum. Was gibt es da zu sehen, etwa auch Schauspieler?
1.1.3Das Social-Media-Theater
Ja, Schauspieler sind dort auch zu sehen. Allerdings wurde die klassische Form des Theaters aufgehoben – die Anordnung, die den Schauspielern einen Platz auf der Bühne garantiert und die Zuschauer auf die Ränge verbannt.
Bühne ohne Barriere
Im Social-Media-Theater fehlt die Barriere zwischen Bühne und Saal. Auf den Brettern spielen alle wild durcheinander und buhlen gleichzeitig um Aufmerksamkeit. Gesehen und gehört wird allerdings nur, wer den Nerv der Zuschauer trifft – ihre Wünsche, Ängste und Bedürfnisse.
Eine Bühne ist kein Konferenzraum
Eine Bühne ist weder Konferenzraum oder Auskunftsbüro noch Ort zur Verkündigung von Presseerklärungen. Links liegen lässt das vergnügungssüchtige Publikum alles, was auch nur im Verdacht steht, Langeweile zu verbreiten. Nur sehr spärliche Aufmerksamkeit erhalten die Neulinge. Gnadenlos unter geht jede Premiere, die nicht mit Emotionen und Geschichten begeistern kann – und sei es mit der Auslösung eines Skandals.
1.1.4Die großen Skandale
Schon immer waren in der Welt des Theaters zwei Gruppen von Akteuren am Werk:
1.Die Professionellen: Sie erfüllen die Erwartungen, und das Publikum spendet ihnen dafür den verdienten Applaus.
2.Die Besessenen: Die Bühnenluft ist ihr Sauerstoff. Ohne ihn gehen sie elendig zugrunde. Sie erfüllen die Erwartungen nicht. Die Reaktionen des Publikums reichen von der völligen Missachtung über den tosenden Applaus bis zum schweren Tumult. Zu dieser Gruppe zählen ebenso Schauspieler wie Regisseure. Immer gut für einen Skandal war ein gewisser Herr Friedrich Schiller.
Bild 1.1: Er war für jeden Skandal zu haben: Friedrich Schiller.
Gerade einmal 22 Lenze zählte der »Feuerkopf«, als sein erstes Stück »Die Räuber« am 13. Januar 1782 im Mannheimer Nationaltheater uraufgeführt wurde. Über die Reaktionen des Publikums berichtet ein Augenzeuge:
»Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschreie im Zuschauerraum. Fremde Menschen fielen einander schluchzend in die Arme, Frauen wankten, einer Ohnmacht nahe, zur Türe. Es war eine allgemeine Auflösung wie im Chaos, aus dessen Nebeln eine neue Schöpfung heranbricht.«
Schiller selbst beobachtete die ausverkaufte Premiere inkognito in einer Loge, denn er war zu dieser Zeit als Regimentsarzt beim Militär verpflichtet und ohne Erlaubnis seines Dienstherrn von Stuttgart nach Mannheim gereist. Für seinen Bühnenerfolg musste er schwer bluten. Der Dichter bekam nämlich nicht nur vierzehn Tage Arrest aufgebrummt, sondern wurde auch noch – weit schlimmer für einen Kreativen – mit einem Schreibverbot belegt.
Doch von seiner Leidenschaft ließ er sich nicht abhalten. Schiller büxte aus, reiste unter falschem Namen umher und arbeitete besessen an den nächsten Werken. Unterdessen sorgten »Die Räuber« für weitere Skandale an den deutschen Bühnen. Das Drama wurde entweder völlig verboten oder durch zensorische Eingriffe abgemildert – aus politischen Gründen, aus moralischen Gründen oder um Schiller als Dichter in Misskredit zu bringen. Hart traf den jungen Rebellen die Absage des Mannheimer Theaters, hatte er sich doch dort nach dem Triumph seines Stücks eine feste Anstellung erträumt. Doch trotz aller Skandale konnte Schiller immer auf die Treue seines Publikums zählen. Sie ahnen, wo in unserer Zeit Stars geboren werden und wo sich die großen Gefühlsausbrüche ereignen? Sicher nicht in den Stadt- und Kreistheatern, denn das Publikum dort weiß sich zu benehmen.
Adrenalinausschüttung
Seit Schiller vom Provokateur zum Klassiker mutiert ist, stiftet die Aufführung seiner Werke keine Unruhe mehr im Saal. Die Arbeit des Sicherheitspersonals beschränkt sich darauf, vor dem Heben des Vorhangs den ordnungsgemäßen Zustand der Feuerlöscher zu kontrollieren. Ganz andere Zustände herrschen dagegen auf den Social-Media-Bühnen. Hier hegen die Zuschauer noch große Erwartungen, und hier fallen Emotionen auf fruchtbaren Boden – mit den entsprechenden Folgen einer Adrenalinausschüttung:
Die Augen rollen, die Fäuste ballen sich, und die Füße stampfen. Das Publikum erlebt ein Wechselbad von Enthusiasmus, Verzweiflung und Erlösung. Kurz gesagt: Auf Facebook, Twitter, YouTube und Instagram herrscht ein Chaos wie zu Schillers Zeiten. Das Theater in seiner Form als Irrenhaus hat dort eine würdige Heimstätte gefunden.
1.2Das Publikum
Was erwarten die Zuschauer im Social-Media-Theater? Dasselbe wie in jedem anderen Theater:
•Sie möchten unterhalten werden.
•Sie möchten als Mensch angesprochen und in der Seele berührt werden.
•Sie möchten sich mit all ihren Wünschen, Ängsten und Hoffnungen verstanden fühlen.
•In mancherlei Hinsicht unterscheiden sich die Theaterbesucher nicht von den Staatsbürgern, den Wählern. Allerdings stehen die Damen und Herren Politiker vor einem gewaltigen Dilemma:
•Gewählt werden sie nur, wenn sie vor dem Urnengang mit großen Versprechungen locken.
•Die Wähler erwarten, dass die Versprechungen hinterher auch eingehalten werden.
Wird nach den Wahlen irgendein Kuchen nicht gebacken oder ungerecht verteilt, hagelt es heftige...