Eine Anleitung
zum Glücklichsein
Ein Büchlein über die Heiligkeit – wirklich? Das Wort »Wunder« kommt hier nur einmal vor, eher marginal, und dasselbe gilt für das Wort »Heiligsprechung«. Stattdessen geben in dem neuen Lehrschreiben andere Begriffe den Ton an: »Humor« zum Beispiel viermal; oder, immer wieder, das Wort »Freude«, insgesamt ganze dreißigmal.
Papst Franziskus setzt uns damit auf eine Fährte. Denn Freude spielt in allen großen, eigenen Lehrschreiben, die er in den bisher fünf Jahren seines Pontifikats verfasst hat, die entscheidende Rolle: Freude des Evangeliums (2013), Laudato si’, »Gelobt seist du« (2015), Die Freude der Liebe (2017).
Und jetzt also Gaudete et exsultate, Freut euch und jubelt. Natürlich geht es hier um Heiligkeit – aber auf eine ungewohnte Weise, auf eine Franziskus-like Weise. Denn diese Heiligkeit hat viel mit Freude zu tun.
»Freut euch und jubelt« ist ein Jesus-Zitat, es steht am Ende der biblischen Seligpreisungen, und Franziskus setzt es ein, um von vornherein zu klären, was Heiligkeit aus seiner Sicht ist: Freude eben, »wahres Leben«. Oder noch einmal anders gesagt: »Glück« (Nr. 1).
Wer will, kann sich hier an das pursuit of happiness erinnert fühlen, das die US-Unabhängigkeitserklärung einst zum Menschenrecht erklärte. Jedenfalls geht es dem ersten amerikanischen Papst der Geschichte tatsächlich um eine »Demokratisierung des Heiligkeitsbegriffs« (Jan-Heiner Tück); »glücklich« erklärt Franziskus mit Blick auf die Seligpreisungen ohne Umschweife »zum Synonym für ›heilig‹« (Nr. 64). Damit dreht sich sein Schreiben nicht um etwas Entrücktes, das nur einige wenige anginge, sondern um das, was wir alle wollen und suchen: das Glück.
Das bedeutet: Franziskus, der geniale Vereinfacher auf dem Stuhl des Petrus, hat einen Glücksratgeber geschrieben. Nicht einfach einen weiteren für das Bücherregal »Ratgeber / Wellness / Esoterik«, sondern ein »Handbüchlein, wie es immer wieder geistliche Lehrer verfasst haben« (Kardinal Christoph Schönborn OP). Auf einige dieser Vorbilder (Bernhard von Clairvaux, Ignatius, Franz von Sales, den russischen Pilger) bezieht sich der Papst ausdrücklich. Sein Text liest sich deshalb an vielen Stellen wie eine Aktualisierung der spätmittelalterlichen »Nachfolge Christi«, eine Imitatio 2.0.
»Auch für dich«
Mit den Handbüchlein des geistlichen Lebens aus zwei Jahrtausenden der Kirchengeschichte hat Franziskus’ Glücksratgeber vor allem die direkte Apostrophe gemeinsam: Er duzt seine Leser. »Auch für dich« heißt eine Zwischenüberschrift, sie markiert den Punkt, an dem der Autor sich auf einmal direkt an seinen Leser wendet. Bis hierhin verwendet er mmer wieder »man« und »wir«. Jetzt auf einmal heißt es: du. Das stellt Augenhöhe her zwischen uns und dem Heiligen Vater aus Rom. »Sei heilig, indem du deine Hingabe freudig lebst … Sei heilig, indem du deinen Mann oder deine Frau liebst und umsorgst … Sei heilig, indem du den Kindern geduldig beibringst, Jesus zu folgen.« (Nr. 14)
Franziskus spricht »nicht über etwas, sondern zu jemandem« (Bernd Hagenkord SJ): zu dir und zu mir. Er »ändert die Allerheiligenlitanei«, wie eine Nachrichtenagentur nach der Veröffentlichung von Gaudete et exsultate formulierte, um mich und dich darin einzutragen. Doch das ist keine Masche, keine captatio benevolentiae, sondern dahinter steckt eine tiefe theologische Überzeugung: »Der Heilige Geist verströmt Heiligkeit überall, in das ganze heilige gläubige Gottesvolk hinein« (Nr. 6).
Das heißt zunächst einmal, dass jeder heilig-glücklich werden kann und zur Heiligkeit, zum Glück berufen ist. Es bedeutet aber noch mehr: Heiligkeit als christliche Höchstform von Glück ist keine Leistung Einzelner, sondern eine gemeinschaftliche Sache. Eine Sache des ganzen Gottesvolkes, und damit ist nicht nur die katholische Kirche gemeint, sondern ausdrücklich alle Christen (Nr. 9). Auch Orthodoxe, Anglikaner und Protestanten – sie werden dezidiert genannt – partizipieren an dieser flächendeckenden, alles durchdringenden Heiligkeit.
Hier zeigt sich die perspektivische Weite dieses Papstschreibens – eine Weite, die auch im häufigen Bezug auf Äußerungen von Bischofskonferenzen aus aller Welt, aus Kanada zum Beispiel oder aus Indien, deutlich wird.
Wenn der Papst über die »Heiligen von nebenan«, so ein weiterer Zwischentitel, räsoniert und »Hab keine Angst vor der Heiligkeit« (Nr. 32) fordert, geht es ihm allerdings nicht um eine Banalität des Guten. Wir sind nicht alle irgendwie und nahezu automatisch heilig, wenn wir uns nur einigermaßen benehmen – im Gegenteil, gutes Benehmen ist für Franziskus geradezu das Gegenteil von Heiligkeit. Der Weg zum Glück des Glaubenden, den der Papst aus Argentinien skizziert, ist anspruchsvoll und steinig. Das macht das zweite Kapitel deutlich, das unvermittelt vor »subtilen Feinden« warnt, vor den elitären Vorstellungen von Heiligkeit nämlich.
Gegen elitäre Absonderung vom Kirchenvolk
Mit scharfen Worten macht derselbe Franziskus, der eben noch so werbend für ein inklusives Gottesvolk eintrat, hier Front gegen alle, die glauben, durch Wissen oder Willenskraft perfekt werden zu können, die sich also auf dem Weg des Christlichen für etwas Besseres halten und sich vom »gemeinen« Kirchenvolk absondern. Die Verve des Papstes hat streckenweise sogar fast etwas Verstörendes; die Du-Apostrophe fehlt in diesem Kapitel, der Ton erinnert eher an Kirchenlehrer, die in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung gegen Häretiker polemisierten.
Es ist nicht der einzige stilistische Umschwung in diesem Apostolischen Schreiben. Gerade hier aber wird deutlich, wie hoch Franziskus’ Anleitung zum Glücklichsein zielt. Dass es eine Art »Mittelschicht der Heiligen« (Nr. 7) gibt, hat in seinen Augen nichts mit Mittelmäßigkeit zu tun, Heiligkeit zu demokratisieren, bedeutet keine Senkung des Niveaus.
Dabei birgt ausgerechnet dieses zweite Kapitel auch ein ökumenisches Kleinod: »Die Kirche hat wiederholt gelehrt, dass wir nicht durch unsere Werke oder unsere Anstrengungen gerechtfertigt werden, sondern durch die Gnade des Herrn, der die Initiative ergreift« (Nr. 52), führt der Papst in einiger Breite aus.
In diesem Zusammenhang fällt zwar nicht der Name Martin Luthers (schade eigentlich!), aber das »sola gratia« des Reformators klingt doch deutlich an, zumal sich Franziskus bei der Erläuterung dieser laut Zwischenüberschrift »oftmals vergessene(n) Lehre der Kirche« zur Rechtfertigung des sündigen Menschen vor Gott ausdrücklich, wie einst der Wittenberger, auf den heiligen Augustinus beruft. Hier zeigt sich, wie recht der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat, wenn er hinter Franziskus’ häufigem Insistieren auf der göttlichen Barmherzigkeit eine Aktualisierung des »wesentliche(n) Kern(s) der Rechtfertigungslehre« ausmacht, die vor 500 Jahren zum Urknall der Reformation geführt hat (Interview von Jacques Servais SJ mit Benedikt XVI., veröffentlicht am 18. März 2016 von Radio Vatikan).
Das dritte Kapitel findet zum positiven Grundton und auch zum Du des ersten Kapitels zurück. Der Papst dekliniert nun an den Seligpreisungen Jesu (»Es sind wenige, einfache Worte, aber praktisch und für alle gültig«, Nr. 109) durch, was Glück, was Seligsein, was Heiligkeit im Licht des Evangeliums bedeutet. Scharfe Formulierungen fehlen hier fast gänzlich. Dieses Kapitel will eher meditiert als analysiert werden.
»Ohne Ausflüchte und Ausreden«
Kennzeichnend für Franziskus ist, dass er die Seligpreisungen ungeachtet exegetischer Spitzfindigkeiten mit der Gerichtsrede von Matthäus 25 (»Was ihr für einen dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan«) kurzschließt. In der Kombination dieser zwei Texte sieht er die ganze biblische Botschaft in nuce. »Mit diesen beiden Dingen habt ihr den Aktionsplan: die Seligpreisungen und Matthäus 25«, sagte er am 25. Juli 2013, nach nur vier Monaten Amtszeit, zu Jugendlichen in Rio. Und er fügte hinzu: »Ihr braucht nichts anderes mehr zu lesen.« Mit vergleichbarer Dringlichkeit ruft er auch in Gaudete et exsultate dazu auf, diese Worte Jesu »ohne Kommentar, ohne Ausflüchte und Ausreden« anzunehmen und in die Tat umzusetzen (Nr. 97).
Auf diesen Sprung vom Wort zur Tat kommt es dem Papst an. Keine Lehre will er ausfalten, keine dogmatischen Leitplanken in den Boden rammen: »Das Christentum ist … vor allem dazu gemacht, gelebt zu werden«, drängt er, und alles Nachdenken und Debattieren darüber hat nach seinem Dafürhalten »nur Wert, wenn es hilft, das Evangelium im Alltag zu leben« (Nr. 109). Das ist »Lehramt für den kleinen Mann« (Kilian Martin), mit einem ständigen Drall ins Konkrete.
Und gerade hier, wo es um das aus seiner Sicht Eigentliche des Christentums geht, formuliert der Franziskus überraschend poetisch: »Wenn ich einem Menschen begegne, der in einer kalten Nacht unter freiem Himmel schläft, kann ich fühlen, dass dieser arme Wicht … ein Störenfried auf meinem Weg (ist), ein lästiger Stachel für mein Gewissen, ein Problem, das die Politiker lösen müssen … Oder ich kann aus dem Glauben und der Liebe heraus reagieren und in ihm ein menschliches Wesen erkennen, mit gleicher Würde wie ich, ein vom Vater unendlich geliebtes Geschöpf … Das heißt es, Christ zu sein!« (Nr. 98)
Eigentlich könnte das Papstschreiben an dieser Stelle enden – alles Wesentliche scheint gesagt. Doch Franziskus kommt in einem vierten Kapitel noch...