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Kapitel 2
Wenn die Seele Fieber hat
1. Mose 4,1-16
Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain … Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer, Kain aber wurde ein Ackermann.
Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer brachte von den Früchten des Feldes. Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick.
Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist’s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
1. Mose 4,1-12
Eine schlimme Geschichte – ein Konflikt mit tödlichem Ausgang. Vor Kurzem, bei der Schöpfung, war noch alles sehr gut. Jetzt geschieht der erste Mord.
Mord – warum eigentlich? Darüber erfahren wir in dieser Geschichte sehr wenig bis fast nichts. Es bleibt das Erschrecken, was möglich ist – und das zwischen Brüdern!
Das Unbegreifliche
Sowohl Kain als auch Abel bringen dem Herrn jeweils eine Opfergabe – doch die eine beachtet Gott, die andere nicht. Beide tun das Gleiche, aber es ist nicht das Gleiche. Schon da regt sich unser Gerechtigkeitssinn, oder?
Wir könnten daraus schließen, dass die Ursache von Konflikten Ungerechtigkeit ist. Aber halt! So einfach ist das nicht. »Jedem das Gleiche« – ist das gerecht? Oder geht das nicht haarscharf an der Wirklichkeit unseres Lebens vorbei – an der Verschiedenheit von uns Menschen?
Ich mag den Satz, den ich einmal irgendwo gelesen habe und der ungefähr so heißt: »Es gibt nichts Ungerechteres als das Gleiche für Ungleiche.« So schön, wie es sich auch anhört: »Jedem das Gleiche« – damit wäre uns nicht geholfen!
Kain ist Ackerbauer, Abel ist Hirte. Gott sieht den einen an, den anderen nicht. Kain und sein Opfer werden nicht angesehen. Mehr erfahren wir nicht. Es ist keine Rede von einem minderwertigen Opfer. Wir erfahren nichts, was Kain falsch gemacht hätte. Es wird hier auch nicht erklärt, dass es ein blutiges Opfer hätte sein müssen, damit Gott Gefallen daran fand. Als Ackerbauer hätte er das ja auch gar nicht gehabt.
Es gibt immer mal wieder Deutungsversuche – aber so richtig kann ich mir nicht erklären, warum es so gekommen ist. Mir ist kein Grund bekannt. So ist das ja oft genug im Leben. Da geschieht etwas, und wir haben keine Ahnung, warum. Es gibt nicht für alles eine logische Erklärung, es ist nicht alles einsichtig. Zurücksetzung, aus welchem Grund auch immer, bewirkt Konflikte. Dagegen kann man doch nichts machen, oder?
Kain erfährt Nichtachtung, Ablehnung. Das macht etwas mit ihm. Und es bleibt nicht ohne Folgen.
Übersehen werden
In meinem Dienst als Gefängnisseelsorgerin habe ich es öfter als einmal erlebt: Der eine Beamte wird befördert, der andere nicht. Keiner weiß letztlich, warum. Es ist einfach so und es macht etwas mit dem, der nicht befördert wurde.
»Die faule Socke, ausgerechnet der!« Immerzu ist vor Augen, was der Beförderte alles nicht macht und nicht kann. Der Karriereschritt bedeutet außerdem: Der andere bekommt eine neue Gehaltsstufe. Das ärgert und wurmt. Da steigen Neid und Rache im Herzen auf, Wut. »Wieso wird der angesehen und ich schon wieder übersehen?« Das ist eine quälende Frage.
Kain wird übersehen. Es verletzt ihn, es tut ihm weh. Es macht ihn zornig. Und das ist verständlich und, ich möchte fast sagen, völlig okay. Zorn ist ein berechtigtes und manchmal nötiges Gefühl. Wie gut, dass Kain Gefühle hat!
Und doch sind wir hier an einem Punkt, der wesentlich für Konflikte ist: die emotionale Reaktion auf ein Erlebnis oder, besser gesagt, der Umgang mit unserer emotionalen Reaktion, die ein Erlebnis in uns auslöst. Kain ist zornig, und er hat jetzt verschiedene Möglichkeiten: Wird er seine Gefühle wahrnehmen oder wird er sie ignorieren?
Es ist gar nicht so einfach, wenn ich gerade überkoche, dann noch zu merken, was da gerade passiert. Es braucht ein bisschen Übung, um von Gefühlen nicht übermannt zu werden. Es ist gut, wenn wir uns angewöhnen, langsam zu werden. Wenn wir achtsam mit uns selbst und mit dem, was in uns vor sich geht, werden. Das können wir in guten Zeiten trainieren, damit wir in schwierigen Zeiten etwas besser dazu in der Lage sind.
Nicht immer geht ja alles ganz schnell, nicht immer sind es Affekte, die mich mitreißen. Manchmal schwelt über längere Zeit etwas in mir. Ein »ungutes Gefühl« macht sich breit. In so einer Situation sollte ich mir Zeit nehmen und versuchen, auszudrücken, was ich fühle. Schon wenn ich Gefühle in Worte fasse (auch schriftlich), verlieren sie etwas von ihrer Macht. Dann kann ich mich ihnen stellen und mit ihnen umgehen. Und dann werden sie mich nicht überschwemmen und zu Handlungen mitreißen, die in ihren Folgen unabsehbar sind.
Und Kain? Nimmt er seine Gefühle wahr, stellt er sich ihnen? Wie geht er mit ihnen um? Nach dem Wahrnehmen ist der Umgang mit Gefühlen eine ganz wichtige Weiche in Konflikten. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Gesicht senkte sich (Vers 5). Vielleicht hat’s da schon lange geschwelt? Schließlich sind die zwei Brüder ganz unterschiedliche Typen. Der eine ackert, der andere bewahrt. Bei dem einen geht’s um schwere Arbeit, um Leistung. Kain spürt abends in seinen Knochen, was er geschafft hat. Und sein Bruder, nun, der hat es leicht. Der muss nur ein bisschen hüten, der steht den ganzen Tag auf der grünen Wiese herum … So einfach wie der hätte es Kain auch gern … Natürlich ist das alles Spekulation. Aber könnte es so gewesen sein?
»So hätte ich es auch gern!« – den Gedanken kenne ich auch von mir. Wie auch immer die Einzelheiten waren, klar ist: Die Ungleichbehandlung löst Zorn aus. Und vielleicht läuft das Fass hier über, weil es zuvor noch nie ausgeleert wurde.
Der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt
Kennen Sie das auch? Da geschieht nur eine Kleinigkeit und Sie rasten aus? Ihre heftige Reaktion passt in keiner Weise zum eigentlichen Vorfall. Das war doch eigentlich nur eine Lappalie! Aber Sie reagieren in diesem Moment auf ganz viele Kleinigkeiten, die es auch schon gab. Jetzt reicht’s!
Wie wichtig ist es daher, schon die Kleinigkeiten ernst zu nehmen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, im eigenen Herzen nicht über Monate und Jahre den Frust zu sammeln. Benachteiligt oder übersehen werden, das Gefühl haben, zu kurz zu kommen – das alles sind Erfahrungen und Regungen, über die es gut ist, mit jemandem zu reden. Das Herz einmal vor einer Vertrauensperson auszuschütten – das kann davor bewahren, dass ein Konflikt auf schlimme Weise eskaliert.
Eine Entscheidung
Gott fragt: »Warum bist du so zornig? Warum hat sich dein Gesicht gesenkt?« (Vers 6). Er sagt nicht: »Du darfst nicht zornig sein!« Er beschimpft Kain nicht und verbietet ihm nicht, wütend zu sein. Doch er warnt ihn vor sich selbst, vor der Sünde, zu der er fähig ist. Denn aus Emotionen kann Sünde werden.
Ist es nicht so, wenn du recht tust, erhebt es sich? Wenn du aber nicht recht tust, lagert die Sünde vor der Tür. Und nach dir wird ihr Verlangen sein, du aber sollst über sie herrschen (Vers 7; ELB).
Es ist eine väterliche Rede, die ihm einen Rückweg aufzeigen möchte, ehe es zu spät ist. Das heißt, Kain selbst war zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht verworfen! Wenn er bereits verworfen gewesen wäre, hätte Gott nicht mehr so um ihn gerungen. Er richtet einen Appell an Kain. Der hätte einlenken können. Aber er entscheidet sich anders.
Ich denke: Nicht die Verschiedenheit der beiden Brüder als solche ist das Problem, nicht irgendeine Situation, sondern das, was daraus wird. Und das ist zuallererst eine innere Sache, es ist ein innerer Prozess im Einzelnen. In Kain kocht es. Vermutlich ist es purer Neid, der in ihm Raum gewonnen hat. Er neidet dem Bruder das freundliche Angesicht Gottes.
Die Geschichte macht uns sehr deutlich: Gefühle gehören zum Wesen von Konflikten dazu. Sie fordern Entscheidungen heraus, denn die Sünde lauert vor der Tür (Vers 7). Die Sünde erscheint hier als eine objektive Macht, die außerhalb und über dem Menschen steht, die von ihm Besitz ergreifen will; er aber soll über sie herrschen.1 Die Gefühle selbst sind noch nicht die Sünde – wir können uns entscheiden, was wir mit ihnen machen, wie wir mit ihnen umgehen – und ob wir die Sünde dann schlussendlich hereinlassen oder nicht.
Konflikte schaffen Opfer
In einer konfliktreichen Zeit in unserer Gemeinde war klar...