Einleitung
»Nicht leicht, nicht leicht …«
Das Projekt
Es gibt individuelle Schicksale, die mit der Geschichte zusammentreffen. Das ist bei Papst Franziskus der Fall, der mit seiner lateinamerikanischen Herkunft eine neue Identität in die katholische Kirche hineinbringt. Mit seiner Persönlichkeit, seiner Vorgehensweise, seinen Taten fordert er eine Epoche heraus, die von der Wirtschaft, aber auch von der Suche nach Sinn, Authentizität und oft nach spirituellen Werten geprägt ist. Dieses Zusammentreffen zwischen einem Menschen und einer Geschichte bildet den Kern unserer Gespräche: Gespräche zwischen einem Kirchenmann und einem französischen Intellektuellen, Laizisten und Experten für Kommunikation, der sich seit vielen Jahren mit der Globalisierung, der kulturellen Vielfalt und der Andersheit beschäftigt.
Warum ein Zwiegespräch? Weil es eine Öffnung zum anderen hin, einen Austausch von Argumenten und die Präsenz des Lesers zulässt. Das Zwiegespräch – der Dialog – verleiht der menschlichen Kommunikation einen Sinn, der über die Performance und über die Grenzen der Technologie hinausgeht.
Der Blickwinkel, den ich für dieses Buch gewählt habe, bezieht sich auf eine jener Fragen, die in der Geschichte der Kirche immer wiederkehren: Worin besteht die Eigenart ihres sozialen und politischen Engagements? Was unterscheidet sie von einem politischen Akteur? Fragen, die sich immer dann stellen, wenn die Lektüre des Evangeliums, die neuerliche Lektüre der Kirchenväter und der Enzykliken ein kritisches Engagement und ein Handeln zugunsten der Armen befürworten, der Unterdrückten, der Ausgegrenzten … Diejenigen, die im Lauf der Jahrhunderte aufgestanden sind, um Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten anzuprangern, haben oft eine direkte Verbindung zwischen politischer Botschaft und Spiritualität hergestellt.
Eines der letzten großen Beispiele hierfür ist die Debatte und sind die Konflikte im Kontext der Befreiungstheologie. Wie kann man sich die spirituelle Dimension des politischen Handelns der Kirche vorstellen, wie sie erkennen? Wie weit darf man gehen und wie weit nicht? Es soll – so die Idee – zum Nachdenken darüber angeregt werden, was Spiritualität und politisches Handeln verbindet und trennt. Dieses Nachdenken ist zwingend notwendig, zumal in einer Zeit, in der eine Rückkehr der spirituellen Suche zu verzeichnen ist und die Globalisierung der Information überdies die Ungleichheiten deutlicher zutage treten lässt, wodurch nicht nur das Engagement dringlicher, sondern auch die Argumente einfacher werden und nicht selten die Tendenz besteht, alles auf einen politischen Ansatz zu reduzieren. Wie lässt sich verhindern, dass die Kirche mit ihrem kritischen Engagement im Namen der »Modernität« auf einen globalen politischen Akteur ‒ so etwas wie eine entfernte Cousine der UNO ‒ reduziert wird? Die Jesuiten sind durch ihre Geschichte und Lateinamerika ist durch die Geschichte des Papstes ein eklatantes Beispiel für diese Debatte, für die Notwendigkeit und für die Schwierigkeit, einen Unterschied zwischen diesen beiden Logiken aufrechtzuerhalten.
Die Begegnung
Eine Begegnung kann man nicht kontrollieren, sie folgt ihren eigenen Gesetzen. Diese hier war frei, nonkonformistisch, vertrauensvoll, humorvoll. Sympathie auf beiden Seiten. Der Papst ist präsent, aufmerksam, bescheiden, durchdrungen von der Geschichte und, was die Menschen angeht, illusionslos. Ich treffe ihn außerhalb jedweden institutionellen Rahmens, bei ihm zu Hause, aber das allein genügt nicht, um seine Fähigkeit des Zuhörens zu erklären, seine Freiheit, sein Entgegenkommen. Floskeln sind ganz, ganz selten.
Manchmal wird mir schwindelig, wenn ich an die erdrückende Last der Verantwortung denke, die auf seinen Schultern ruht. Wie kann er inmitten so vieler Zwänge und Erwartungen entscheiden, denken, zuhören, handeln, und das nicht nur für die Kirche, sondern auch für eine ganze Anzahl anderer Belange der Welt? Wie macht er das? Ja, er ist vielleicht wirklich der erste Papst der Globalisierung, ein Papst zwischen Lateinamerika und Europa. Menschlich, bescheiden, und doch zugleich so entschlossen: einer, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Geschichte steht. Obwohl seine Rolle nichts mit der der großen politischen Leader der Welt zu tun hat, wird er ständig damit konfrontiert.
Der vielleicht stärkste Satz, der ihm mitten im Gespräch wie selbstverständlich über die Lippen kam, war: »Mich kann nichts erschrecken.« Und dann, eines Abends, beim Abschied, zwischen Tür und Angel und ganz leise, hat er noch etwas anderes gesagt, das ich nie vergessen werde, weil es seine Menschlichkeit, sein Apostolat so gut zum Ausdruck bringt: »Nicht leicht, nicht leicht …« Was ist dem noch hinzuzufügen, dieser Bescheidenheit, Einsamkeit, Hellsichtigkeit und Intelligenz?
Die Schwierigkeit bestand darin, eine mögliche Ebene für diesen Dialog zu finden, weil wir einerseits so verschieden und doch andererseits auch so entschlossen waren, einander zu verstehen oder es wenigstens zu versuchen, »Mauern einzureißen« und Fehlkommunikationen zuzugeben. Es war »nicht leicht«, jemanden zum Sprechen zu bringen, der ohnehin schon so oft das Wort ergreift und dies sehr gut und mit großer Einfachheit tut, zumal der religiöse Diskurs immer auf alles eine Antwort hat und alles bereits gesagt worden ist … Wiederholungen zu vermeiden im Hinblick auf das, was von seinen Stellungnahmen bereits bekannt ist, sich abzuheben vom religiösen und offiziellen Vokabular. Die Wahrheit zu suchen, die unvermeidliche Fehlkommunikation anzunehmen, wann immer sie aufkam. Wir haben uns häufiger auf der Ebene der Geschichte, der Politik, als im Spektrum der spirituellen Dimensionen bewegt.
Im Übrigen ließe sich dieser an Übereinstimmungen wie auch an Verschiedenheiten gleichermaßen reiche Dialog zwischen dem Ordensmann und dem Laien beliebig fortsetzen. Ich war weder Claqueur noch Kritiker, sondern einfach ein Wissenschaftler, ein Mann, der in gutem Glauben versuchte, ein Gespräch mit einer der herausragendsten intellektuellen und religiösen Persönlichkeiten der Welt zu führen. Diese Freiheit, die ich im Lauf der Unterhaltungen gespürt habe, gehört ganz und gar zu ihm. Er ist weder konventionell noch konformistisch. Übrigens muss man, um das zu begreifen, nur sehen, wie er in Argentinien und Lateinamerika gelebt, geredet und agiert hat. Der Unterschied zu Europa ist grundlegend.
Empirisch betrachtet habe ich – nicht immer bewusst ‒ dieselbe Vorgehensweise angewandt wie in meinen Gesprächen mit dem Philosophen Raymond Aron (1981), dem Kardinal Jean-Marie Lustiger (1987) und dem Präsidenten der europäischen Gemeinschaft Jacques Delors (1994). Die Philosophie, die Religion, die Politik. Drei Dimensionen, die sich letztlich auch hier wiederfinden. Sicherlich eine Position, die die Haltung des Suchenden trefflich veranschaulicht, der, unsichtbar, aber für das Nachdenken über die Geschichte und die Welt unentbehrlich, gleichsam für den Weltbürger spricht. Sprechen, einen Dialog führen, um die unüberwindlichen Entfernungen zu verringern und zu ermöglichen, dass man einander ein Stück weit versteht. Berührungspunkte gab es paradoxerweise häufig auf dem Feld einer gemeinsamen Kommunikationsphilosophie. Dem Menschen Vorrang geben vor der Technologie. Die Fehlkommunikation akzeptieren, den Dialog begünstigen, die Kommunikation enttechnologisieren, um die humanistischen Werte wiederzuentdecken. Akzeptieren, dass die Kommunikation mindestens ebenso sehr im Verhandeln und im Miteinander (Anm. d. Lektorats: Der soziologische Fachbegriff cohabitation wird in diesem Buch mit Miteinander wiedergegeben) wie im Teilen besteht. Die Kommunikation als politische Diplomatietätigkeit.
Die großen Themen
Unsere Gespräche fanden zwischen Februar 2016 und Februar 2017 bei insgesamt zwölf Begegnungen statt. Das ist, wenn man die vatikanischen Gepflogenheiten bedenkt, immerhin bemerkenswert. So gut wie nichts war im Vorfeld festgelegt worden. Oft gingen die Gespräche über den engeren Rahmen des Buches hinaus, und nicht alles ist direkt in den Text eingeflossen, der gleichwohl einen guten Eindruck vom Ton, von der Atmosphäre und von der Freiheit unseres Austauschs vermittelt. Der Papst hat das Manuskript natürlich gelesen, und wir sind uns mühelos einig geworden.
Die angesprochenen Themen betreffen die politischen, kulturellen und religiösen Fragen, die die Welt und ihre Gewalt umtreiben: den Frieden und den Krieg; die Kirche in der Globalisierung und angesichts der kulturellen Vielfalt; die Religionen und die Politik; die Fundamentalismen und den Laizismus; die Beziehungen zwischen Kultur und Kommunikation; Europa als Schauplatz eines kulturellen Miteinanders; die Beziehungen zwischen Tradition und Moderne; den interreligiösen Dialog; den Status des Individuums, der Familie, der Sitten und der Gesellschaft; die universalistischen Ansätze; die Rolle der Christen in einer von der Rückkehr der Religionen geprägten laizistischen Welt; die Fehlkommunikation und die Besonderheit des religiösen Diskurses.
Diese Themen sind in acht Kapiteln angeordnet. In jedem dieser Kapitel habe ich unsere Gespräche mit Auszügen aus 16 großen Ansprachen ergänzt, die Papst Franziskus seit seiner Wahl am 13. März 2013 in aller Welt gehalten hat. Jeweils zwei dieser Ansprachen, die unsere Zwiegespräche veranschaulichen, finden sich am Ende eines jeden Kapitels.
Bewusst nicht eingegangen wird dagegen auf die politischen und institutionellen Konflikte im Herzen der Kirche. Abgesehen davon, dass andere...