Im Tal der Wupper: Mehr Kohlendampf und Staub als Sauerstoff
«Der schmale Fluß ergießt bald rasch, bald stockend seine purpurnen Wogen zwischen rauchigen Fabrikgebäuden und garnbedeckten Bleichen hindurch; aber seine hochrote Farbe rührt nicht von einer blutigen Schlacht her, denn hier streiten nur theologische Federn und wortreiche alte Weiber gewöhnlich um des Kaisers Bart; auch nicht von Scham über das Treiben der Menschen, obwohl dazu wahrlich Grund genug vorhanden ist, sondern einzig und allein von den vielen Türkischrot-Färbereien.»[1]
Ein schönes Tal, dieses Wuppertal – anmutig auch, von sanften Bergrücken gesäumt und Wäldern, darüber blauer Himmel, der sich im Rot des Flusses spiegelt. Seine Städte und Städtchen, vor allem die Menschen darin, strahlen biedere Behäbigkeit aus. Die braven Bürger und frommen Kaufleute zwischen Barmen und Elberfeld sind tüchtig, und sie schämen sich ihrer Tüchtigkeit nicht. Sind sie nicht fürsorgliche und freigebige Väter ihrer reformierten Gemeinden? Folgt ihr reges Tun an Werk- und Feiertagen nicht von altersher den Glaubenslehren Luthers und Calvins – deren einer das Lob der Arbeit predigte, der andere Erwerb, Erfolg und Zinsen gottgefällig nannte? Das traf sich gut mit ihrem nüchternen Streben.
Denn im Wuppertal hatte man schon früh vom alten bäuerlichen Erwerb Abschied nehmen müssen. Durch dauernde Erbteilungen zersplitterten die Höfe und warfen nicht mehr genug für die Lebenshaltung ab. So begann man schon im 15. Jahrhundert, als Zuerwerb oder Nebenerwerb auf den Wiesen und Weiden an der Wupper Garne zu bleichen; das kalkarme Wasser eignete sich dafür hervorragend. Das Rohgarn wurde aus Westfalen und Hessen bezogen und dann weiterverkauft ins Bergische und Niederländische. Gegen die Konkurrenz aus der Umgebung sicherten sich die Barmer und Elberfelder 1522 durch ein Bleichmonopol des Herzogs von Berg ab. Das Privileg kostete zwar 781 Goldgulden. Aber die Wuppertaler Bleicher, unter denen sich einige schon als Zwischenhändler und Unternehmer hervortaten, hatten bereits das nötige Kapital angesammelt.
So ließ auch die Teilung von Handel und Produktion nicht mehr lange auf sich warten. Die Kaufleute schafften mit Barzahlung das Rohmaterial heran, ließen die Garne in den ansässigen Bleichereien bearbeiten, und verkauften sie dann unter Kreditgewährung weiter. Es lag nahe, da noch zusätzliche Stufen der gewerblichen Verarbeitung zu übernehmen. So entstanden die ersten Webereien für Leinwand und Leinenband, zum großen Teil in Heimarbeit – eine weitere Erwerbsmöglichkeit für die verarmende bäuerliche Bevölkerung, die «Weberkötter».
Nach den Rückschlägen des Dreißigjährigen Krieges weitete sich der Handel mit Wuppertaler Garnen nach Süddeutschland, England, Frankreich und gar Amerika aus. Eigene Handelsniederlassungen wurden in Bremen, London und den Niederlanden gegründet – und damit die Vermögen der großen Familien im Wuppertal.
Zu den Bleichern und Webern gesellten sich jetzt auch die Färbereien, in denen gegen Ende des 18. Jahrhunderts der neue Farbstoff «Krapp» eingeführt wurde, das Türkischrot. In der «Riemendreherei» wurden außer Riemen auch Kordeln und Litzen geflochten, bei den Gebrüdern Engels zudem Spitzen und Kanten gearbeitet; bald waren alle Zweige des Textilgewerbes im Tale heimisch. Seine Besatzartikel behaupteten sich gegen die modischere französische Konkurrenz durch die billigeren Preise. Die waren natürlich nur zu erzielen, indem man die Weber und Zubereitungsarbeiter bei kargen Stücklöhnen hielt und die Preise der Färber, Bleicher und Spinner drückte. Denn es gab zwar schon Manufakturen, doch der Großteil der Weiterverarbeitung wurde in Heimarbeit, im Lohngewerbe geleistet. Die Bleicher und Spinner und Weber besaßen ihr eigenes Arbeitsgerät und Gelände – die Produktionsmittel –, aber Auftraggeber waren die Kaufleute und Handelsfirmen, die «Verleger», sie verfügten über das Kapital, die Ware und die Märkte.
Um 1767 zählte die Textilindustrie im Wuppertal 3500 Webstühle, 2000 Bandstühle und 100 Bleichereien und beschäftigte 33000 Menschen. Die Geschäfte florierten auch in den folgenden drei Jahrzehnten, als man vom Leinen auf Baumwolle umstellte. Allein in Barmen, dem Hauptort der Produktion, verdoppelte sich die Einwohnerzahl in dieser Zeit auf 12500.
Eine kommunale Verwaltung kannte man bislang im Herzogtum Berg nicht. Dafür bestimmten im Tal wenige Dutzend Familien das Geschehen. Es waren die Unternehmer, «das schädliche Volk der Kapitalisten», wie der bergische Hofkammerrat Friedrich Heinrich Jacobi schrieb: «Leider ist ihre Existenz eine Folge des guten Fortganges der Fabriken. Daß die Anhäufung der Reichtümer auf eine Person der Gesellschaft nicht vorteilhaft sei, ist eine ziemlich allgemein anerkannte Wahrheit, aber daß in allen Fällen ein sogenannter Rentier ein gefräßiges Ungeziefer, eine Heuschrecke ist, wird nicht so durchgängig eingesehen.»[2]
Die gesellschaftliche Oberschicht regierte durch ihre wirtschaftliche Macht, das Kapital des Rentiers zum Beispiel, und durch ihre Stellung in den reformierten und lutherischen Gemeinden. Deren weitgehende Selbstverwaltung gewährte ihnen unmittelbares Einwirken in kommunale Dinge, so auf das Schulwesen und das Armenwesen. Sie waren die Wohltäter und Arbeitgeber, die Herren der Frommen im Tal der Wupper. Als Napoleon seinem Marschall Joachim Murat 1806 das Großherzogtum Berg verlieh, es 1807 zum Rheindepartement zusammenfaßte und ihm 1808 eine französische Gemeindeordnung gab, wurde in Barmen ein Stadtrat berufen. Seine Zusammensetzung bestätigte die wirtschaftliche Vormacht dieser Gruppe auch politisch. Die Unternehmer besetzten die Ratsstühle – die Bredt, Brüning, Engels, von Eynern, Siebel und neunzehn andere ehrbare Familien.
«Die Gegend ist ziemlich anmutig; die nicht sehr hohen, bald sanft steigenden, bald schroffen Berge, über und über waldig, treten keck in die grünen Wiesen hinein, und bei schönem Wetter läßt der blaue, in der Wupper sich spiegelnde Himmel ihre rote Farbe ganz verschwinden. Nach einer Biegung um einen Abhang sieht man die verschrobenen Türme Elberfelds (die demütigen Häuser verstecken sich hinter den Gärten) dicht vor sich, und in wenigen Minuten ist das Zion der Obskuranten erreicht.»[3]
Der Berichterstatter des Telegraph für Deutschland hat für diesen Platz wenig übrig. Sein äußeres Bild beschreibt er mit Attributen wie merkwürdig, plump, langweilig, charakterlos, eng und häßlich. «Endlich gelangt man wieder an die Wupper, und eine schöne Brücke zeigt, daß man nach Barmen kommt, wo wenigstens auf architektonische Schönheit mehr gegeben wird. Sowie die Brücke passiert ist, nimmt alles einen freundlicheren Charakter an; große, massive Häuser in geschmackvoller, moderner Bauart vertreten die Stelle jener mittelmäßigen Elberfelder Gebäude, die weder altmodisch noch modern, weder schön noch karikiert sind; überall entstehen neue, steinerne Häuser, das Pflaster hört auf, und ein grader chaussierter Weg, an beiden Seiten bebaut, setzt die Straße fort. Zwischen den Häusern sieht man auf die grünen Bleichen; die hier noch klare Wupper, und die sich dicht herandrängenden Berge, welche durch leicht geschwungene Umrisse und durch mannigfaltige Abwechslung von Wäldern, Wiesen und Gärten, aus denen überall rote Dächer hervorschauen, die Gegend immer anmutiger machen, je weiter man kommt.»[4]
Ordentliche Ware kommt aus dieser Gegend. Die Lohnweber und Manufakturarbeiter sind schon durch Generationen auf komplizierte Arbeitsgänge eingestellt. Die sächsische und schlesische Konkurrenz ist in der Meterware zwar billiger und auf dem innerdeutschen Markt nicht zu schlagen, aber in Band- und Flechtarbeiten sind die «Barmer Artikel» ziemlich konkurrenzlos. Allerdings sind das modische Artikel, dem raschen Wechsel des Geschmacks unterworfen, und den bestimmen die Franzosen. Sie schützen ihren Absatz durch hohe Zollschranken, und dadurch geraten die Wuppertaler Geschäfte unter französischer Herrschaft in eine schwere Krise. Exporte sind nach 1806 kaum mehr möglich, dann werden mit Napoleons Kontinentalsperre die überseeischen Märkte vollends verschlossen.
Die findigen Kaufleute suchen Anschluß. Sie verlegen ihre Produktionsstätten auf linksrheinisches, auf französisches Gebiet. 1807 erreicht der Elberfelder Kaufmann Gerhard Siebel auf Fürsprache Murats bei Napoleon in Warschau vorübergehend Handelserleichterungen. 1810 antichambriert eine Wuppertaler Deputation in Paris, um den Anschluß an Frankreich zu erbitten, die Eingliederung ins französische Zollgebiet. 1811 werden Vertreter aus dem gesamten Großherzogtum Berg mit demselben Anliegen vorstellig. Dann fahren die Kaufleute aus Barmen und Elberfeld nach Düsseldorf zur Industrieausstellung, um dort dem Kaiser im Dekor einer Ehrengarde zu huldigen. Doch keinem der Begehren war Erfolg beschieden.
Die Befreiung des Bergischen Vaterlandes 1813 bringt keine Besserung, im Gegenteil. Zwar gibt es eine große Feier, als die Siegesgöttin vom Brandenburger Tor auf ihrer Rückführung von Paris nach Berlin die Stadt Elberfeld passiert, und der Oberbürgermeister Rüttger Brüning kann unter dem Jubel der Bevölkerung «unsre Freude laut an den Tag legen,...