Oberengadin, Schweiz, 1881
«6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit»
August 1881, Sils Maria im Oberengadin. Friedrich Nietzsche verbringt seinen ersten Sommer hier. Hochgebirgsluft, «stark und kalt», eine Szene, die einen besonderen Blick möglich macht, eine Überschau, fern von den menschlichen Dingen. Im «Zarathustra» ist später vom «Vogel-Umblick» die Rede, von einem Geist der Freiheit und Leichtigkeit, der die Welt «unter sich» sieht.
Hier und jetzt nimmt dieser Blick seinen Anfang, hier wird er geboren. Vom Haus Durisch aus, wo er ein einfaches Zimmer gemietet hat, wandert Nietzsche in die Umgebung. Die Gegend sei ihm blutsverwandt, meint er, und er wiederholt es zwei Jahre später in einem Brief an Carl von Gersdorff, – «hier, wo die Natur auf wunderliche Weise ‹feierlich› und geheimnisvoll ist». Man findet das alles in seinem Werk wieder, vor allem im «Zarathustra»: schroffe Felswände und lichte Hochebenen, brausende Bergbäche, die abwärts strömen, eine schweigsame Einöde in der Kargheit des Hochplateaus. Zwei stille Seen sind von den Bergketten eingefasst. Auch sie stehen für das große Schweigen in der Natur, «geheimnisvoll», wie der Denker zu meinen scheint, in ihren Tiefen, so wie die Berge in der Erhabenheit ihrer hohen und schroffen Gestalt. Auf der Chasté, einer der Halbinseln des Silser Sees, dort, wo einmal ein römisches Castell gestanden hat, würde der Denker sich gerne ein einfaches Holzhaus bauen, «eine Art ideale Hundehütte», um dort zu wohnen, so schreibt er an den Freund Gersdorff, wo schon seine Musen wohnten. Am See von Silvaplana aber, etwa anderthalb Stunden Fußweg von Sils Maria entfernt, lokalisiert er sein Offenbarungserlebnis. Es ist, so Nietzsche, der Beginn der Geschichte des Zarathustra, eine Erkenntnis von «größtem Schwergewicht», schwer in der Konsequenz, schwer in Begriffe zu fassen, schwer zu bewältigen über die Erkenntniswege des Intellekts, mehr eine mystische Schau, wie es scheint, und damit dem entsprechend, was Schopenhauer philosophische Kontemplation nennt.
«6000 Fuß über dem Meere», so beschreibt Nietzsche in einer ersten Skizze, die er dann zur Genealogie seines Werkes heranzieht, sei er ihm erstmals gekommen, der Gedanke von der ewigen Wiederkehr. «6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit.» «Ich ging an jenem Tage am See von Silvaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgetürmten Block unweit von Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke.» Ewige Wiederkehr. Eine Kreislaufbewegung. Kein Zeitpfeil wie in der christlich-jüdischen Lehre. Ewiger Zyklus, ewige Wiederkehr. Auch bei Schopenhauer gibt es ein ewiges Werden, das niemals ein «Sein» wird, ewiges Streben ohne Sinn und Zweck, reine Vitalkraft, die in den menschlichen Willensäußerungen genauso deterministisch dem Satz vom Grunde folgt wie beim Wasserfall, der der Tiefe zueilt oder beim Stein, der zu Boden fällt. Ewiges Werden, das kein Beharren kennt, also nichts, worauf es hinaus «will», keine Befriedigung und kein Ziel, und das per se leidvoll ist, endend in Schmerz oder Langeweile, da die verschiedenen Willensmotive der Individuen miteinander in Widerspruch treten. Es ist Ausdruck von Leid, Sinnlosigkeit, ewiges Einerlei. Sieht Nietzsche das auch? Nein, ganz im Gegenteil. Nietzsches Erkenntnis der ewigen Wiederkehr wird zum Erlebnis äußerster Lebensbejahung. Im «Zarathustra» führt sie zum «trunkenen Mitternachtssterbeglück», das in den Versen gipfelt:
O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief –
Aus tiefem Traum bin ich erwacht –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh –
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit –
– Will tiefe, tiefe Ewigkeit.
Doch so weit sind wir noch nicht. Der Denker, der Suchende steht am Seeufer von Silvaplana. Er ist vermutlich nicht über die Bergkämme von Marmorè an die Stelle gekommen, da er ja so stark kurzsichtig ist und das beschwerliche Auf- und Absteigen in den unwegsamen Gefilden des Hochgebirges seine ganze Konzentration erforderte und keinen Raum ließe für Kontemplation, sondern vom Dorfausgang aus beinahe ebenerdig und schließlich immer am Seeufer entlang. Ort einer Eingebung. Die Stille des Sees, in dem sich die Berggipfel spiegeln, führt zu den letzten Dingen, ob man es will oder nicht. Hier scheinen Anfang und Ende von allem zu sein.
Professor Nietzsche aus Basel ist erst 36 Jahre alt, doch krankheitsbedingt bereits verrentet. Wegen schwerer und nach wie vor rätselhafter Erkrankungen hat er vor zwei Jahren seine Basler Professur aufgeben müssen. Von furchtbaren Kopfschmerzattacken mit Übelkeit chronisch geplagt, hoffte er dann, ein Klima zu finden, das ihm Erleichterung bringe –und im Oberengadin, in Sils, diesem «lieblichsten Winkel der Erde», schien er es endlich gefunden zu haben. Ein euphorisches Hochgefühl erfasste den Denker, als er im Juni 1879 zum ersten Mal hier war und nicht nur schmerzfreie Phasen verzeichnen konnte, sondern auch Schübe von Inspiration. «Mir ist, als wäre ich im Lande der Verheissung …», schrieb er. «Zum ersten Male Gefühl der Erleichterung … Es tut gut. Hier will ich lange bleiben.» (24. Juli 1879 an seine Schwester). Und zwei Jahre später, nur wenige Wochen vor seinem «Zarathustra»-Erlebnis: «So still habe ich’s nie gehabt, und alle 50 Bedingungen meines armen Lebens scheinen hier erfüllt zu sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein ebenso unerwartetes wie unverdientes Geschenk.» (8. Juli 1881 an Peter Gast). Die Aufgabe der Basler Professur ist dem Denker, der nun ganz unbehelligt den letzten Fragen nachgehen kann, rückwirkend auch so etwas wie eine Befreiung – und wen hat nicht schon Krankheit in die Befreiung geführt?
Er war ein Wunderkind, der kleine Nietzsche; ein glänzender Primus im berühmten Gymnasium Schulpforta bei Naumburg, herausragend in den alten Sprachen vor allem, die er von Kindheit an vornehmlich trieb. Von seinem Leipziger Universitätslehrer Ritschl glühend empfohlen, wurde er in Basel unter Umgehung diverser akademischer Zwischenschritte mit nur 24 Jahren Professor der Altphilologie. Leider machte er sich dann unbeliebt in der wissenschaftlichen Welt, wurde gar zum «enfant terrible», als er ein Bild vom Griechentum vorstellte, das das tradierte verletzte – erstes Anzeichen dafür, dass er zu markanteren, grenzsprengenderen Denkakten und -wegen bestimmt war als den limitierten der akademischen Institutionen. Niemals, stellte er noch während seiner Lehrtätigkeit fest, könne man im Rahmen der Institutionen so absolut denken, wie es erforderlich sei. «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik», 1872 erschienen, beschreibt die Heiterkeit und Diesseitsbetonung der älteren Griechen als «die aus einem düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüte der apollinischen Kultur, als […] Sieg, den der hellenische Wille durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt.»
Weisheit des Leidens … Hier setzt alles an. Die Welt des «Willens», weiß der Schopenhauer-Adept, ist Leiden und Qual. Doch in unserem Wissen um die schreckliche Wahrheit des Lebens sind wir bedürftig nach dem «schönen Schein» – für Friedrich Nietzsche der Ursprung der Kunst. Gott Apollon, der Kunstschaffende, Maßhaltende, Harmonisierende, befriedet Dionysos, Gott des Rausches und der Ekstase, das wahrhaft Seiende und Ur-Eine, das ewig Leidende und Widerspruchsvolle. Zu seiner ständigen Erlösung braucht es den lustvollen Schein – «denn nur als ästhetisches Phänomen», so Nietzsche in seinem Frühwerk, «ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.» Die älteren Griechen überwanden den Blick in den Abgrund durch die Anbetung des Scheins über den Blick in den Abgrund hinaus. «O diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu tut not, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberflächlich – aus Tiefe!» Der Wille zum schönen Schein ist Apollons Reich, eine Mondsphäre, Halbdunkel, gleißendes Silberlicht – Nietzsche mit siebenundzwanzig. Doch Zarathustra, Nietzsches Schöpfung in seinem vierzigsten Jahr, will ja «des Mondes Liebschaft», den schönen Schein mit seiner Pseudo-Entstofflichung und Transzendenz, «männlich» ersetzen durch «Sonnenliebe», «Unschuld» und «Schöpfer-Begier». In Sils Maria, wo Zarathustra ihm erstmals erschien, propagiert Nietzsche den hellen Mittag in klarer Gebirgsluft und nicht das milchige, alles vernebelnde Mondlicht im Zeichen Apolls. Denn darum soll es am Ende gehen: um die Erde und nicht mehr ums Himmelreich, nicht mehr...