Comme s’il suffisait de pouvoir mesurer pour comprendre
Jeanne Hersch
Hervorgegangen aus dem radikalen Bruch der Französischen Revolution von 1789, nahm das europäische 19. Jahrhundert den Charakter einer auf den ersten Blick äußerst diffusen Übergangszeit an, einer Passage gleichsam zwischen einer noch zu entdeckenden Vergangenheit und einer allenfalls zu erahnenden Zukunft. Mit dem Anbruch dieser Ära ging das endgültige Ende des Konfessionellen Zeitalters in Europa einher. Zum ersten Mal in ihrer abendländischen Geschichte bezog sich die Menschheit auf einen überwiegend säkularen Rahmen und entwickelte ein waches Bewusstsein ihrer selbst und ihrer Identität. Es überrascht daher nicht, dass das kennzeichnende Merkmal des 19. Jahrhunderts ein jenseits aller bisherigen historischen Erfahrung beschleunigter Wandel sämtlicher Lebensverhältnisse und Lebensformen war, ein Wandel, der allenthalben zu tiefen Verunsicherungen und mannigfaltigen Identitätskrisen führte.4 In den wissenschaftlichen „Diskurs“5 ist das Profil bzw. die Struktur dieser Epoche als das sogenannte „lange 19. Jahrhundert“ („the long 19th century“) eingegangen. Dieser Terminus ist vom englischen Sozialhistoriker und Sozialwissenschaftler Eric J. Hobsbawm in seinen Schriften The Age of Revolution: Europe, 1789-1848 (1962), The Age of Capital, 1848-1875 (1975) und The Age of Empire, 1875-1914 (1987) entfaltet worden.6 Er bezieht sich auf den Zeitraum von 1789 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Jahr 1914 und umfasst rund 125 Jahre. Am Anfang der auf diese Weise terminologisch markierten Epoche stand die Zäsur der Französischen Revolution und der aus ihr folgenden Napoleonischen Kriege. Beides führte zu einer fundamentalen Neuordnung Europas, weshalb mit Recht behauptet werden kann, dass kein anderes Ereignis so viele grundsätzliche und nachhaltige Veränderungen in der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts bewirkte wie die Revolution von 1789, sei es als Folge davon, sei es als Reaktion darauf.
Der Erste Weltkrieg (1914-1918) wiederum, der am Ende dieses langzeithistorischen Verlaufs steht, trennt als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“7 (KENNAN) das lange 19. Jahrhundert vom anschließenden „kurzen 20. Jahrhundert“ (HOBSBAWM). Dieses versteht die Epoche von 1914 bis zur Zeitenwende von 1989, mithin einen Zeitraum von 75 Jahren, als Einheit. Metaphorisch betrachtet, ‚verschlang‘ der Erste Weltkrieg buchstäblich das 19. Jahrhundert und brachte das 20. hervor.8
Mit seiner Vielzahl von in jeder Hinsicht „revolutionären“ Entwicklungs- und Umbruchphänomenen trägt das 19. Jahrhundert folglich den Charakter einer völlig eigenen Epoche. Dieser ist geprägt vom Weg in die Moderne und manifestiert sich in einem sämtliche Lebenswelten durchziehenden Fortschrittsdenken, in einer tiefgreifenden Säkularisierung und Rationalisierung sowie in Nationenbildung, Liberalismus und Konstitutionalismus. Hinzu kommt, dass sich als Folge der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert vor allem in Europa und Nordamerika die Industrialisierung und kapitalistische Wirtschaftsweise durchsetzte. Von daher sind, eingebettet in vielfältige transnationale Beziehungsgeflechte, Clusterphänomene und Rückkoppelungseffekte, die Industrialisierung, der Kapitalismus, der zunehmende Güterverkehr, der demographische Wandel mit seinen Massenphänomenen des Bevölkerungswachstums, der Auswanderung, Binnenwanderung, Landflucht und Verstädterung, sodann das Aufkommen von Frauenbewegungen und Frauenemanzipation,9 die Propagierung und Durchsetzung des nationalstaatlichen und verfassunggebenden Prinzips sowie die Verbürgerlichung der Gesellschaft, aber eben auch Imperialismus und Kolonialismus sowie die größtenteils noch vergeblichen Emanzipationsbestrebungen von Minderheiten als die wesentlichen Unterströmungen des Jahrhunderts zu verstehen. Überwölbt wurde all dies vom Glauben an die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten des quantitativen und qualitativen Fortschritts.
Dem Credo etwa des viktorianischen Zeitalters zufolge implizierte „Fortschritt“ den unbedingten Drang zum immer Schnelleren, Höheren und Weiteren. Wenn die Rede vom „Wohlstand für viele“ war, hieß dies in erster Linie: von allem mehr. Die trotz aller Weltwirtschaftskrisen, „Great Resets“, Rezessionen und Konjunkturschwankungen evidenten wirtschaftlichen und sozialen Erfolge in den westlichen Staaten während der letzten 150 Jahre scheinen diesem Vorwärtsstreben recht zu geben. „Ideologien kamen und gingen, aber eines blieb: der Ruf nach Fortschritt durch Wachstum“ (PRECHT).10
Nicht nur der Glaube an den allgemeinen Fortschritt, sondern vor allem jener an die Vernunft erreichte, angesichts der Triumphe der Naturwissenschaften und Maschinen, seinen Höhepunkt in den 1860er Jahren. Rationalismus und Antirationalismus haben, so der britische Philosoph Bertrand Russell, seit Beginn der griechischen Zivilisation stets nebeneinander bestanden. Und sooft sich eine der beiden Tendenzen zur Alleinherrschaft aufzuschwingen schien, kam es durch Reaktionen zu einem neuen Durchbruch der entgegengesetzten Richtung. Dies gilt auch – und in besonderem Maße – für das 19. Jahrhundert.11
Innerhalb der sich industrialisierenden Gesellschaften veränderten sich die Lebensweisen teilweise dramatisch: Der soziale Wandel zerstörte althergebrachte Verhaltens- und Denkweisen, aber auch etablierte und vermeintlich bewährte soziale Konstellationen, indem die gesellschaftlichen Strukturen sich zu verschieben, aufzufächern und durch die Entstehung neuer sozialer Schichten zu erweitern begannen.12 Zum einen avancierte das 19. Jahrhundert in vieler Hinsicht zum „Jahrhundert des Bürgertums“ und der bürgerlichen Gesellschaft,13 da Kunst, Kultur, Geistesgeschichte, im Zuge des aufkommenden Nationalismus und Liberalismus aber auch die politische Kultur vom Besitz- und Bildungsbürgertum geprägt wurden. Zum anderen entwickelte sich im weiteren Verlauf die Arbeiterbevölkerung zu einer neuen, gesellschaftlich prägenden Schicht. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten die Arbeiterbewegung und der Sozialismus zu zentralen sozialen Erscheinungsformen, wohingegen der Adel und die Landbevölkerung tendenziell an Bedeutung verloren.
Während der Imperialismus im 19. Jahrhundert die direkte oder indirekte Dominanz Europas in der Welt zur Folge hatte,14 erhöhte die Verkehrsund Kommunikationsrevolution die Mobilität der Gesellschaften und deren Interdependenz. Damit einher ging nicht nur eine neue Wahrnehmung von Raum und Zeit, sondern auch die generelle Takterhöhung des Lebens und der Lebenswelten. Um 1800 vollzog sich der Reiseverkehr im Rhythmus des Pferdes, wohingegen um 1900 bestimmte Automobile bereits eine Geschwindigkeit von 100 Kilometern pro Stunde, 1906 sogar von 200 Kilometern pro Stunde erreichten. Einige Jahre zuvor hatte man ernsthaft darüber diskutiert, ob das Gehirn des Menschen die Rasanz einer Autofahrt überhaupt aushalten könne und ab welcher Geschwindigkeit der Mensch platzen würde. Nun war plötzlich Tempo angesagt, koste es, was es wolle.15
Einen weiteren Globalisierungsschub erfuhr die Welt vor und um 1900 durch neuartige Kommunikationsmittel wie Telegraf, Telefon und Telefunk sowie durch die Transportmittel Eisenbahn und Dampfschiff. Auch Wissenschaften wie Geographie, Kartographie, Biologie und Geschichte spielten eine wachsende Rolle im neuen Weltverständnis. Erfindungen, neben dem Telefon vor allem das Auto, verdichteten und beschleunigten das Leben auf allen Ebenen. In ihren Grundfesten erschüttert wurden althergebrachte Positionen und Theorien, aber auch das Selbstverständnis des Menschen, überdies durch die aufkommende Psychoanalyse, die Entdeckung (1895) und Nutzbarmachung der Röntgenstrahlung sowie durch Albert Einsteins Relativitätstheorie. Letztere revolutionierte die tradierte Vorstellung von Raum, Zeit und Gravitation. Während Einsteins 1905 veröffentlichte „spezielle Relativitätstheorie“ den Bewegungen im gravitationsfreien, also schwerelosen Raum nachgeht, betrachtet seine 1916 publizierte „allgemeine Relativitätstheorie“ die Gravitation bzw. Schwerkraft als ein Phänomen, das durch die Krümmung der Raumzeit entsteht. Ein anschauliches Beispiel zur Relativitätstheorie ist Einsteins Theorem der „Zeitdilatation“: Demnach geht eine Uhr, die einen beliebigen Punkt im Raum verlässt und dann wieder zu diesem zurückkehrt, gegenüber einer während der ganzen Zeitdauer an diesem Punkt verbliebenen Uhr nach. Viele Menschen waren angesichts dieser Entwicklungen und Erkenntnisse sowie der damit einhergehenden Reizüberflutung überfordert. Die sogenannte „Neurasthenie“, also „Nervenschwäche“, avancierte zur Modekrankheit (heute spräche man wohl von „Burnout“). Mit der Urbanisierung wiederum begann sich eine spezifisch neuzeitliche, städtische Lebensweise durchzusetzen, die ihre Fortsetzung und ihren Höhepunkt dann im 20. Jahrhundert finden sollte.
Schließlich erfolgten nachhaltige und wirkungsmächtige Umbrüche bei den politischen Organisationsformen: So erlebte das Prinzip des Nationalstaates im 19. Jahrhundert eine Hochkonjunktur. Dabei kam dem Nationalstaatsgedanken eine Mittel- oder Übergangsposition zwischen absolutistisch-feudalistischen Regierungsmodellen...