Vorwort
Ich war schon eine Weile mit den Vorarbeiten zu diesem Buch beschäftigt, als mir aufging, wie lange mich dessen Thema schon umgetrieben hatte: wissenschaftlicher Eigensinn und seine sozialen Verankerungen. Als ich mich 1980 in Freiburg im Breisgau immatrikuliert hatte, war alles neu für mich, denn in meiner Familie wusste man wenig von der Wissenschaft und der Universität. Wieso wurde ich dort der «Philosophischen Fakultät» zugeteilt? Ich wollte doch Deutsch und Geschichte studieren. Was, bitteschön, war ein «Historisches Seminar»: ein Institut oder eine bestimmte Versammlungsform, hier gravitätisch «Lehrveranstaltung» genannt?
Ganz offensichtlich war Professor nicht gleich Professor, denn Dozenten unterschieden sich sowohl nach ihren Würdegraden als auch nach ihrem Äußeren. Die einen, offenbar auf einer niedrigeren Hierarchiestufe zu Hause, trugen Parka und lange Bärte, und ihre Kurse behandelten im zyklischen Wechsel die Bände von Marxens Kapital. Andere wiederum trugen Anzug und Krawatte und waren immer sauber gescheitelt. Waren sie verkappte Kleriker? Immerhin wurden sie altertümlich als «Ordinarien» bezeichnet. Verbissen hatte der Direktor meines Gymnasiums die Fiktion verteidigt, dass es für uns keinen Unterschied mache, ob wir bei Herrn Eitel oder Frau Fehltag in Geschichte unterrichtet würden. Hier nun wurde uns ganz im Gegenteil nahegelegt, auf die Eigenarten, Schwerpunkte und Vorlieben der Lehrenden zu achten und uns unsere Stundenpläne (hier ein verpöntes Wort) danach zusammenzustellen, ob wir uns von ihnen angesprochen fühlten oder nicht.
Wie viele andere Novizen aus nichtakademischen Familien betrachtete ich das akademische Treiben fasziniert und zugleich mit einer gewissen Reserve. Was mir den Einstieg letztlich doch leicht machte, war, dass sich das Studieren statt über den Stoff, den ich mir aneignen sollte, über die Lebensform begreifen ließ, die mit ihm einherging. Zu dieser Lebensform gehörten Seminare, Bibliotheken und Referate, aber durchaus auch Kino, Theater und Konzert sowie die Kneipendiskussion über das gerade Gelesene. So gestärkt, konnte man der Fremdheit der akademischen Formen recht schnell etwas Individuelles entgegensetzen und sich behutsam darauf einlassen.
Als ich Jahre später vom «anthropologischen Blick» hörte, ahnte ich gleich, was gemeint war. Vor allem war zu beobachten, dass bestimmte Wissenschaften einen jeweils eigenen Geschmack ausprägten – oder doch Leute anzogen, die für sie bereits eine habituelle Präferenz mitbrachten. Wenn man sich im Campus-Café die Studierenden und ihr Auftreten ansah, konnte man sie schon bald mit einiger Treffsicherheit bestimmten Fächern oder Fachrichtungen zuordnen. Soziologinnen trugen gewöhnlich Jeans und Pullis, Jurastudentinnen (von uns «Perlhühner» genannt) Blusen mit hochgestelltem Kragen und Halsketten, die wie Erbstücke aussahen. Historiker nahmen eine Mittelstellung zwischen den Gediegenen und den Hausbesetzern ein: relativ bodenständige Macher-Typen in Cordjacken, die sicher auftraten, nicht zu Demonstrationen gingen, aber immerhin eine Meinung zu diesen hatten. Über ihre berufliche Zukunft sprachen sie mit mehr Zuversicht als andere sogenannte Geisteswissenschaftler.
Bald reizte es mich, diejenige Sphäre näher kennenzulernen, die ich in meinem ersten Seminar bei Michael Borgolte kennenlernte: die Forschung. Denn sie folgte einer wunderbar verschwenderischen Ökonomie, nach der man so viel Zeit wie möglich ins Interessanteste investierte, Geld für Bücher ausgab statt für Essen. Je deutlicher der Gedanke der Forschung, desto größer die Distanz zu dem, was ich als bürgerliche Lebensform ansah. Rein äußerlich näherte ich mich wohl einer Untergruppe der nachlässig Gekleideten an, doch ein wenig verschämt trug ich schließlich an dem Tag, an dem ich mein Promotionsstipendium antrat, in der Tat zum ersten Mal in meinem Leben an einem Werktag ein Sakko. Ich war ja jetzt irgendwie staatlich approbierter Forscher, und Faserschreiber und Zettelkastenzettel brauchten eben ihren Platz.
Anfechtungen und Verunsicherungen blieben im Lauf der folgenden Jahre nicht aus. Nach dem Examen, der Promotion und erst recht der Habilitation drückte die Ungewissheit, wie es weitergehen würde. Nach Aufenthalten in London, Berlin und Bielefeld gerade in Göttingen zu landen, war auch mit Irritationen verbunden, denn anders als an den früheren Orten lag der Forschersinn hier mit dem Geist des Bürgertums keineswegs im Wettstreit. Wissenschaft zu treiben meinte in Göttingen keine Negation bürgerlicher Lebensführung, eher war es eine Steigerungsform davon.
Doch die Anfechtungen, die zu etwas Bedenklichem zusammenwuchsen und die dieses Buchvorhaben in seine Bahnen hoben, kamen aus einer anderen Richtung. Erkennbar wurden sie seit circa 2005, als meine Alma Mater wie andere auch mehr und mehr Wert auf gute Stimmung, positives Denken und ihre eigene «Corporate identity» legte. Gigantische wettbewerbsförmige Initiativen standen an und gaben Anlass, die wissenschaftlichen Kernbereiche wie Markenzeichen, erfolgreiche Köpfe wie Champions, Forschungsschwerpunkte wie Exportprodukte zu behandeln. «Corporate colours» wurden normiert, ebenso das Design von Internetauftritten und Briefpapier – konkurrierende Universitäten versahen dieses sogar mit fragwürdigen Mottos. Die Folgen ließen nicht auf sich warten: Immer häufiger begannen Kolleginnen und Kollegen zu offiziellen Anlässen Krawatten und Schals mit Hochschul-Logo zu tragen. Universitäre Forschungsmagazine, bisher biedere Verlautbarungsblätter, waren plötzlich das technisch-designerisch Feinste, was die Universitäten zu bieten hatten.
Versuchte ich, dies alles mit Rekurs auf politische Großwetterlagen und Vorgaben zu verstehen, war eine gewisse Logik in diesen Tendenzen nicht zu verkennen. Denn schon seit Roman Herzog Bundespräsident gewesen war, war in Deutschland immer wieder von der Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Bildungsanstrengung die Rede gewesen. Deutschland, so Herzogs Nachfolger Horst Köhler in seiner Antrittsrede 2004, war «zu langsam auf dem Weg in die Wissensgesellschaft», jetzt solle es ein «Land der Ideen» werden. Naturgemäß waren die Universitäten dabei besonders gefordert: Neugier und die Freude am Experimentieren waren gefragt, ebenso Mut, Kreativität und die Lust auf Neues. Während in der Finanzkrise von 2008 anderswo das nackte Grauen regierte, konnte man sich an einer deutschen Universität seiner Sache einigermaßen sicher sein. Hochschulen wurden von der Gesellschaft gebraucht, ja sie standen nach Zeiten der Schmähung in dem Ruf, das Gut zu verwalten, auf das es gegenwärtig am meisten ankam: Wissen. Die Universitäten dankten all dies der Gesellschaft, indem sie signalisierten: Schaut her, wir sind schon so, wie du es erst noch werden sollst: bunt, flexibel und zukunftsfroh.
Hier setzten die Zweifel ein. Gehörte zum wissenschaftlichen Wissen, wie ich es mir seit jenen glücklichen Freiburger Jahren angeeignet hatte, nicht unverzichtbar die Skepsis, die gesunde Respektlosigkeit? Wo war von ihnen die Rede? Die Alltagspraxis des Forschers, der sich mit dem Menschen und den Aggregatzuständen seiner Vergemeinschaftung beschäftigt, beruhte doch darauf, dass er sich an vermeintlichen Gewissheiten abarbeitet, an Ergebnissen, Methoden und Theorien der Vorgänger. Das Hand- und Lehrbuchwissen, das sich Studienanfänger zuerst mühsam aneignen, wird dem Fortgeschrittenen zum Anlass für erneutes Fragen und Weiterforschen unter neuen Voraussetzungen und Blickrichtungen. Die Novizen der Wissenschaft initiiert man in die Denkgemeinschaften der jeweiligen Disziplinen, indem ihnen die bereits Eingeweihten den Gestus des Bezweifelns und des Widerspruchs antrainieren. Gelingt dieser Sozialisationsprozess, haben sie ihr Wissen in drei Dimensionen konditioniert, denn fortan strebt es nach Expansion, Systematik und Reflexivität zugleich. Dies bedeutet eben auch, dass das Wissen gelernt hat, die Prämissen, unter denen es steht, als ein ständiges Problem mit zu bedenken.
Der Wissenschaftler: eigentlich eine Spezies von professionellen Zweiflern und In-Frage-Stellern. Ein Professor, so hatte man nur zwei Generationen vor mir in Deutschland gespottet, ist «ein Mensch, der anderer Meinung ist».[1] Wie vertrug sich das mit der akademischen «Alle-mitmachen»-Attitüde des jungen 21. Jahrhunderts? Muss die Universität nicht im Gegenteil auf ihrem Eigensinn beharren, darauf, dass man, solange man ihr angehört, der Logik der Skeptiker und nicht derjenigen der Stimmungskanonen zu folgen hat?
Schließlich die Wissenschaft von den Menschen in Vergangenheit und Gegenwart: Um Aussagen über sie, über soziale Gruppen und Großgruppen wie Gesellschaften...