Einleitung
Die Beschießung der Kathedrale von Reims durch deutsche Truppen im September 1914 hatte verheerende Folgen. Kulturelle, wissenschaftliche und menschliche Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland waren von nun an undenkbar. (Abb. 1) Selbst in Zeiten kriegerischer Auseinandersetzungen zwischen Ländern bleiben meist berufliche und freundschaftliche Kontakte erhalten. Trotz der Verwüstungen in Heidelberg unter Ludwig XIV., trotz der Befreiungskriege gegen Napoleon und der Zerstörungen in den Jahren 1870/71 waren die Beziehungen zwischen den Nachbarländern niemals völlig abgebrochen worden.
1. Bombeneinschlag im Chor der Kathedrale von Reims, April 1917.
Im September 1914, nach der Bombardierung der Kathedrale, brachen jedoch alle Brücken zwischen den beiden Ländern ab. Selten, wenn überhaupt jemals, hat der militärische Angriff auf ein Baudenkmal einen solchen Sturm der Empörung in Texten und Bildern ausgelöst. Der Vorgang galt weltweit als ein unvorstellbarer Akt des Vandalismus. Nicht nur das Vorgehen der Armee erschien brutal. Die Deutschen insgesamt wurden nach diesem Ereignis als Barbaren, Hunnen oder Vandalen bezeichnet.
Bis heute fehlt eine Untersuchung, die die Gründe für den geistigen Zusammenbruch auf beiden Seiten darstellt, den dieses Ereignis auslöste. Die brennende Kathedrale von Reims steht vor unser aller Augen – tief in unser Gedächtnis eingeprägt durch die sich bereits damals mit großer Geschwindigkeit entwickelnden Bildmedien. Militärisch gesehen ein unerheblicher Vorgang, wurde die Beschießung in den Medien und der Propaganda als ein unfassbares kulturelles Verbrechen dargestellt und entsprechend empfunden. Warum diese Aktion zum Abbruch aller wissenschaftlichen und kulturellen Kontakte führte statt zu einem allgemeinen Aufschrei von Deutschen und Franzosen, diesen sinnlosen Krieg zu beenden, erscheint uns heute unbegreiflich. Die eingehende Betrachtung der erhaltenen Schriften und Bilder, die aus diesem Anlass entstanden, können allerdings verdeutlichen, warum es zu einem gemeinsamen Protest, über die Grenzen hinweg, nicht kommen konnte.
In diesem Buch werden die Umstände des Angriffs auf ein herausragendes Nationaldenkmal geschildert, der, vertieft durch den jahrelangen Stellungskrieg, einen dramatischen Konflikt zwischen Frankreich und Deutschland auslöste. Große Anstrengungen von etwa zwei Generationen wurden benötigt, um ihn zu überwinden. Die Vorgänge waren in ihrem politischen und historischen Zusammenhang einzigartig. Dennoch liefern sie ein paradigmatisches Beispiel für die Bedeutung, die kulturelle Monumente für eine Nation haben, und die Auswirkungen, die ihre Zerstörung nach sich ziehen kann.
Wir handeln in dieser Darstellung von einem bestimmten historischen Ereignis der europäischen Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts. Vergleichbare Vorkommnisse, wenn auch jeweils von anderen, spezifischen Voraussetzungen bedingt, haben sich jedoch seit Jahrhunderten auf vielen Kontinenten und in den meisten Kulturen ereignet und können auch in unserer Gegenwart wahrgenommen werden. Thema dieses Buches ist somit, über die im Zentrum stehende Analyse hinaus, die Bedeutung dieser herausragenden Monumente zu beleuchten und ihrem Schutz eine Stimme zu verleihen.
Respekt und Antagonismus
Nach dem Untergang des Second Empire 1870, nachdem Frankreich ein bitterer, ja demütigender Friedensvertrag aufgezwungen worden war, suchte das Land nach den Gründen der Niederlage, die zu einer neuen Verfassung und einem veränderten Regierungssystem in der Troisième République geführt hatten. Das Verhältnis zu Deutschland blieb in der Dritten Republik angespannt, von Misstrauen gekennzeichnet und von Revanchegedanken gegenüber dem Deutschen Kaiserreich geprägt. Aber Frankreich blickte auch bewundernd auf die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen des Nachbarlandes. Nicht nur die Gegnerschaft, sondern auch der Respekt gegenüber den Deutschen hatte Tradition.[1] Musikliebende Franzosen waren regelmäßige und begeisterte Besucher der Wagner-Festspiele in Bayreuth. Gleichzeitig entstanden in Deutschland die bedeutenden Kunstsammlungen der französischen Moderne, die entscheidende Anregungen für die deutsche Kunst boten und bis heute die Qualität der Museen prägen. Wissenschaftliche und kulturelle Begegnungen von Deutschen und Franzosen fanden häufig statt und inspirierten die Vertreter beider Länder. Auch in Zeiten politischer Kontroversen zwischen der Dritten Republik und dem Deutschen Kaiserreich studierten französische Fachleute die deutsche Schul- und Universitätsausbildung, da sie in mancher Hinsicht als vorbildlich angesehen wurde. Die Produkte der deutschen Industrie wurden in der Galerie des machines der Weltausstellungen von 1889 und 1900 bestaunt und studiert. Und als besondere Geste der französischen Nation gegenüber sandte Wilhelm II. drei Gemälde aus seinem Privatbesitz zur Weltausstellung 1900, die die Gastgeber nur zu gern in den Sammlungen des Musée du Louvre gesehen hätten. Sie waren bereits im 18. Jahrhundert von Friedrich dem Großen erworben worden: Jean-Antoine Watteaus Einschiffung auf Kythera (1718/19), das Ladenschild von Gersaint (1720) und die Italienischen Komödianten (ca. 1720).
Die politische Gegnerschaft der beiden Länder behinderte auch nicht, dass deutsche Künstler die berühmte Cézanne-Ausstellung nach dessen Tod im Jahre 1906 in Paris besuchten und die deutschen Maler des Expressionismus die Kunst der französischen Fauves studierten. Die deutsche Kunstkritik berichtete ausführlich über die Salons und die Ausstellungen privater Galerien.[2] Seurat, Signac, Gauguin, Matisse, Delaunay und viele andere waren und blieben für die deutschen modernen Maler verehrte Vorbilder. Daran änderte sich auch während und nach dem Ersten Weltkrieg nichts.
Die Vorurteile zwischen Deutschen und Franzosen reichen weit zurück. Sie erfuhren eine neue Dimension im 18. Jahrhundert, als die Bestrebungen nach Einheit der deutschen Partikularstaaten, wie sie etwa von Johann Gottfried von Herder und Johann Gottlieb Fichte zum Ausdruck gebracht wurden, von Frankreich als Bedrohung ihrer europäischen Führungsrolle angesehen wurden. Andererseits trug Frankreich im 19. Jahrhundert durch die napoleonischen Feldzüge sowie die liberalen Revolutionen von 1830 und 1848 selbst dazu bei, den Gedanken an einen gemeinsamen Staat aller Deutschen lebendig zu erhalten und geradezu zu fördern. Das Deutsche Reich wurde schließlich durch die Politik Bismarcks nach dem Sieg über Frankreich unter der Vorherrschaft Preußens in der Spiegelgalerie von Versailles durch die Proklamation Wilhelms I. zum Kaiser gegründet. Diese Provokation blieb den französischen Nachbarn auf lange Zeit fest im Gedächtnis haften.
Trotz der Feindseligkeiten war 1870 noch ein Gespräch zwischen deutschen und französischen Gelehrten möglich, wie der intensive und bewegende Briefwechsel zwischen dem Philosophen und Theologen David Friedrich Strauß und dem Philosophen und Historiker Ernest Renan belegt. Ihre Schreiben suchen die gegensätzlichen politischen und geistigen Standpunkte zu erläutern, wobei sie, auf der Grundlage einer gemeinsamen humanistischen Bildung, sich mit Respekt, ja mit Hochachtung begegnen. Die Gegensätze werden deutlich ausgesprochen, wobei stets die Hoffnung mitschwingt, durch ihre kollegiale und fachliche Auseinandersetzung einen Beitrag zur Verständigung leisten zu können. So schrieb Strauß am 12. August 1870 an Renan:
«Daß ich die vielen guten Eigenschaften der französischen Nation nicht verkenne, daß ich in ihr ein wesentliches und unentbehrliches Glied der europäischen Völkerfamilie, ein vielfach wohltätiges Ferment in dieser Mischung sehe, das brauche ich Ihnen, hochgeehrter Herr, so wenig erst zu versichern, als Sie mich der gleichen unparteiischen Schätzung der deutschen Nation und ihrer Vorzüge zu versichern brauchen. Aber Nationen wie Individuen haben als Kehrseite ihrer Vorzüge auch ihre Fehler, und in Bezug auf diese haben unsere beiden Nationen seit Jahrhunderten eine sehr verschiedene, ja entgegengesetzte Erziehung genossen.»[3]
Trotz der Kriegswirren wurde der Brief von Strauß veröffentlicht, und Renan antwortete in einem ebenso in der Presse publizierten Schreiben einen Monat später, am 13. September 1870 aus Paris. Er beschwor nicht nur die Sinnlosigkeit des Krieges, sondern prangerte auch die Fatalität der Vorurteile für eine...