I
Die letzten Bewohner von Ostia
Antike Ruinen gehören zum Landschaftsbild Italiens, ganze Ruinenlandschaften sind immer wieder beschrieben, gemalt, bedichtet worden. Der elegischen Stimmung, die davon ausgeht, kann man sich schwer entziehen. Aber der Historiker sollte, bevor er sich solcher Stimmung hingibt, erst einmal die menschlichen Schicksale ins Bewußtsein bringen, die mit jedem Verfall einhergehen. So soll hier nicht Ruinenlandschaft beschrieben werden, sondern wie – im weiten Niemandsland zwischen Antike und Mittelalter – Ruinenlandschaft entsteht.
Dazu sollte man zunächst einmal den elementaren Vorgang baulichen Verfalls vor Augen haben. Um eine Vorstellung zu gewinnen, wie ein verlassenes Gebäude in der Landschaft ohne menschliches Zutun allmählich zerfällt, braucht man nur ein und dasselbe verlassene Casale viele Jahre lang in seinem natürlichen Verfall regelmäßig zu beobachten (wie ich es an zwei casali in der römischen Campagna über Jahre verfolgt habe). Ist erst einmal ein Teil des schützenden Daches eingebrochen, bricht bald auch der erste Tragbalken und schüttet den Dachboden ins Erdgeschoß. Noch läßt sich Verwertbares aus den Trümmern bergen. Pflanzen, die sich in den Fugen einnisten, bewirken zunächst noch nicht viel. Aber wenn dann ein im Innern wachsender Baum den Rest des Daches abhebt und eine Gebäudeecke auseinanderdrängt, findet die Mauer keinen Halt mehr, oder Halt nur noch in dem ansteigenden eigenen Schutt, aus dem man sie später ausgraben wird.
Ähnlich lassen sich auch Einsichten in den natürlichen Verfall von Landschaft gewinnen. Wenn man eine aufgegebene oder verwahrloste Agrarlandschaft durchstreift, eine zwei Generationen alte 1:25.000-Karte in der Hand, erkennt man den Wandel leicht: eine Baumallee, nun lückenhaft, führt zu keinem erkennbaren Ziel mehr; ein Fahrweg, den man als ein Stück römischer Trasse auf der Karte verfolgt hatte, ist inzwischen aus der Landschaft verschwunden, ein ausgetrockneter Wasserlauf nur noch am begleitenden Gebüsch zu erkennen. Ein Wald, auf der Karte noch mit klarer Grenze, ist in den Acker vorgedrungen, der Acker zur Brache geworden. Und weitere Indizien für eine Archäologie des Geländes.
Wie eine verlassene Stadt zerfällt und allmählich in der umgebenden Landschaft aufgeht, ließe sich bereits nach dem geschilderten gewöhnlichen Ablauf von Verfall erschließen und ausmalen. Aber das soll uns hier nicht genügen, denn Verfall ist nicht nur ein natürlicher, sondern auch ein historischer Prozeß. Der Vorgang sollte darum aus dem Grabungsbefund einer bestimmten Stadt zu belegen sein. Und das sei am Beispiel von Ostia versucht, der Hafenstadt Roms an der Tibermündung.
Zuvor noch eine Überlegung. Ruinenstädte werden gern mit Pompeji gleichgesetzt. Doch darin liegt keine Erkenntnis, denn eine plötzlich untergegangene Stadt ergibt andere Ruinen als eine allmählich verlassene. Erkenntnis wird daraus erst, wenn man, im Gegenteil, Ostia und Pompeji vergleichend gegeneinandertreibt. Pompeji eine Stadt, die – 24. August des Jahres 79 n. Chr. – binnen 48 Stunden von der Asche versiegelt wurde, sozusagen eine dem historischen Prozeß enthobene Musterprobe antiken Alltags; Ostia eine Stadt, die im Laufe von drei Jahrhunderten allmählich verlassen wurde, und wo der Grabungsbefund auch diesen Hergang der Verödung sichtbar macht und entsprechende Fragen erlaubt: Welche Stadtviertel wurden als erste aufgegeben? Welches Material wird wo zu neuer Verwendung entnommen? Was zerstört der Mensch, und was zerstört die Zeit?
Und Erkenntnis wird daraus auch, wenn man, in kühnem Gedankenspiel, den historischen Prozeß auf das versiegelte Pompeji losläßt, den Film der Geschichte nicht weiter anhält und sich einmal fragt, wie das da denn wohl ohne Vesuv-Ausbruch in gewöhnlichem Ablauf weitergegangen wäre. Vielleicht hätte sich in den verfallenden Gewölben des Amphitheaters die Kapelle eines – dort hingerichteten – lokalen Märtyrers eingerichtet, die dann zur Stadtkirche geworden und aus den Ruinen herausgewachsen wäre. Die Gebäude an der Hauptachse, dem Decumanus, wären nahe der Tore in der agrarisch werdenden Welt des frühen Mittelalters wahrscheinlich zu Stallungen geworden. Der Jupitertempel wäre wohl spurlos vergangen, von seinen Kapitellen vielleicht eines, ausgehöhlt, zum Weihwasserbecken in einer Kirche, ein anderes zum Prellstein an einer zentralen Kreuzung geworden. Irgendwann wäre auch die letzte noch über der Erde verbliebene heidnische Statue verschwunden und zu Kalk gebrannt worden. Kurz: ein unbeachtetes Landstädtchen, das, nach seinen zahlreichen antiken Gewölben, heute vielleicht S. Maria delle Grotte hieße.
Und nun das Gegenbild, Ostia, als Beispiel einer ansehnlichen, tätigen Stadt, deren Dahinsterben sich über Jahrhunderte hinzog, wie sich am Grabungsbefund Schritt um Schritt verfolgen läßt. Denn die Archäologie ergräbt nicht mehr nur Zustände, sie ergräbt auch Entwicklungen und verschmäht nicht mehr die nachklassischen Schichten. Und so läßt sich am Fall dieser gut untersuchten, nicht überbauten antiken Stadt ersehen und belegen, wie Niedergang vor sich geht, bis endlich auch die letzten Bewohner das verödete Stadtgelände verlassen und sich die Natur darüber hermacht.
Der Niedergang von Ostia, der alten Hafenstadt Roms an der Tibermündung, beginnt mit dem Aufstieg von Portus, der neuen Hafenstadt Roms am anderen, dem künstlichen Tiberarm. Ostia, das in seiner besten Zeit, dem 1. und 2. Jahrhundert n. Chr., wohl 50.000 Einwohner erreicht haben dürfte, vermochte den Hafenbetrieb, der im wesentlichen aus der Zwischenlagerung großer Getreidemengen und dem Umladen von Seeschiffen auf flußgängige Schiffe bestand, lange Zeit zu bewältigen. Davon zeugen die großen, zum Tiber orientierten Speichergebäude schon republikanischer Zeit; ein Hafenbecken mit Schiffshäusern und einem Tempel darüber konnte jüngst zwischen Tor Boacciana (dem mutmaßlichen Leuchtturm) und dem sogenannten Palazzo Imperiale festgestellt werden, also unmittelbar an der damals noch nahen Mündung ins Meer, die sich im Laufe der Jahrhunderte um 4½ km hinausschieben wird. (Abb. 1)
Abb. 1. Ostia, Gesamtplan (nach Bauer, Heinzelmann u.a. 1999)
Als sich für die Getreidezufuhr der rasch wachsenden Hauptstadt der Hafen von Ostia dann endlich als unzureichend erwies, ergriffen Kaiser Claudius und vor allem Trajan (98–117 n. Chr.) Maßnahmen zum Bau eines neuen Hafens. So verlagerte sich der Hafenbetrieb allmählich hinüber zu dem neuen, großzügig ausgestatteten Großhafen Portus mit seinem sechseckigen trajanischen Hafenbecken im Innern, dem ins Meer vorgelagerten Claudius-Hafen, dem neu gegrabenen Tiberarm der Fossa Traiana (‹Fiumicino›) und den in severischer Zeit noch gewaltig erweiterten Speicherbauten.
Nicht daß es darum mit Ostia schon zu Ende gewesen wäre. Leitungsfunktionen des Gesamtbetriebes, repräsentative Auftritte, der Sitz einzelner Behörden und hoher Annona-(Getreide-)Beamter: solche Aufgaben scheinen teilweise noch in Ostia verblieben zu sein, so daß sich Ostia und Portus, nur 3½ km voneinander entfernt, eine Zeitlang in ihren Funktionen ergänzt haben mögen. Indiz dafür ist eine bauliche Transformation, auf die die Ausgräber früh aufmerksam wurden. Denn die beobachteten Eingriffe zeigten einen sozialen Wandel an, den mit archäologischen Mitteln festzustellen sonst selten so klar gelingen wird. Die Grabungen ergaben nämlich, daß mehrere der großen Wohnkomplexe meist hadrianischer Zeit, die sogenannten insulae, mit Schlichtwohnungen oben und Läden unten, seit dem späten 3. und vor allem im 4. Jahrhundert in herrschaftliche Wohnsitze umgewandelt, aus insulae zu domus wurden.
Das waren, eingebaut in das Erdgeschoß von (ganz oder teilweise) abgetragenen Mietskasernen, reiche Wohnungen mit allen Erfordernissen abgeschirmten, luxuriösen Lebensstils, gewissermaßen eine Rückkehr zum herrschaftlichen Atriumhaus republikanischer Zeit: die Ladenzeile unten wird gegen außen zugemauert und nach innen zu Kammern umgekrempelt; aus lichtlosen Höfen werden helle Hausgärten, deren kunstvolle Wasserspiele und statuenbevölkerte Nischenwände rücksichtslos alte Binnenmauern beiseite...