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Frühe Kindheit als Schicksal?

Trauma, Embodiment, Soziale Desintegration. Psychoanalytische Perspektiven. Mit kinderanalytischen Fallberichten von Angelika Wolff und Rose Ahlheim

AutorMarianne Leuzinger-Bohleber
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783170227415
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Die soziale Schere zwischen Kindern, denen alle Türen zu einer attraktiven Zukunft offen stehen, und jenen, die am Rande der Gesellschaft aufwachsen, klafft immer weiter auseinander. Die Förderung und Integration sozial Benachteiligter gelingt in Deutschland häufig nur unzureichend. Die Autorin zeigt vor dem Hintergrund nationaler wie internationaler Studien die Grundlagen und Möglichkeiten einer spezifisch psychoanalytisch fundierten Theorie und Praxis der Frühprävention auf, die auch neuere Befunde der Neurowissenschaften und der Embodied Cognitive Science mit einschließen. Eine Vielfalt verschiedener psychoanalytischer Theorien der Frühentwicklung wird gut verständlich zusammengefasst. Ausführliche Behandlungsberichte aus Kindertherapien geben dabei anschauliche Einblicke in Indikation, psychodynamische Diagnostik, behandlungstechnische Aspekte sowie in den therapeutischen Prozess mit Kindern in seelischer Not.

Professor Dr. Marianne Leuzinger-Bohleber ist geschäftsführende Direktorin des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt/Main und lehrt an der Universität Kassel (Institut für Psychoanalyse).

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Leseprobe

Vorwort


Als Angehörige der sog. 68er-Generation hat mich in den letzten vierzig Jahren die Frage ständig begleitet, ob und in welcher Weise psychoanalytische Konzepte einerseits selbst durch gesellschaftliche Aktualitäten geprägt sind und wie sie andererseits fruchtbar in aktuelle gesellschaftliche Diskurse eingebracht werden können. Zu Zeiten von Alexander Mitscherlich, dem Begründer des Sigmund-Freud-Instituts (SFI), dessen hundertsten Geburtstag wir dieses Jahr feiern, schien es unbestritten, dass die psychoanalytische Sozialpsychologie den Auftrag hat, unbewusste Prozesse in aktuellen gesellschaftlichen Realitäten zu erkennen und zu deuten. Viele seiner bekanntesten Bücher waren diesem Anliegen gewidmet: „Die Idee des Friedens und die menschliche Aggressivität“ (1968), „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967), „Auf dem Weg zu einer vaterlosen Gesellschaft“ (1963), die „Unwirtlichkeit der Städte“ (1965), um nur einige zu nennen. Alexander Mitscherlich verstand sich vor allem als politische und öffentliche Persönlichkeit. Auch sein Nachfolger und der direkte Vorgänger des heutigen Direktoriums des SFI, Horst Eberhard Richter, teilte, wenn auch in anderer Form, dieses basale Verständnis eines gesellschaftlich engagierten Psychoanalytikers. Als Mitbegründer der „Ärzte gegen die Atomkraft“ erhielt er 1985 den Friedensnobelpreis, einer der Höhepunkt der Würdigung seines zeitkritischen Engagements.

Es ist nicht einfach, heute in stimmiger Weise diese Tradition aufzunehmen und sie mit neuen Aufgaben eines international anerkannten psychoanalytischen Forschungsinstituts zu verbinden. Anhand der in diesem Band geschilderten Forschungsprojekte mag exemplarisch der Versuch der neuen Leitung des SFI sichtbar werden, uns als psychoanalytische Kliniker, Theoretiker und Forscher in ein interdisziplinäres und internationales Netzwerk von Forschern einzubinden und uns gemeinsam um ein vertieftes Verständnis und einen möglichst differenzierten Umgang mit komplexen, gesellschaftlich drängenden Problemen zu bemühen. Die Frühprävention ist ein solches Forschungs- und Interventionsfeld. Psychoanalytiker, Neurowissenschaftler, Pädagogen und Soziologen sind sich darin einig, dass viele Weichen in der Entwicklung eines Menschen und seiner Persönlichkeit sehr früh gestellt werden. Die Zeichen stehen auf Sturm: die Schere zwischen den Gewinnern und den Verlierern von Globalisierung, Flexibilisierung, Migration und Wettbewerb klafft immer weiter auseinander. Einige Zahlen werden in diesem Band aufgeführt: jedes vierte Kind mit Migrationshintergrund verlässt die deutschen Schulen ohne Abschluss. Die Bereitschaft, Konflikte gewaltsam auszutragen, scheint zuzunehmen und ist vor allem bei immer jüngeren Kinder in allen Schichten der Bevölkerung zu beobachten. Diese Fakten sind alarmierend, besonders wenn wir an die enormen Chancen denken, frühe Entwicklungen zu fördern und nicht optimal verlaufende Startbedingungen in den ersten Lebensjahren zu korrigieren.

Am Sigmund-Freud-Institut haben sich daher in enger Kooperation mit dem Institut für Analytische Kinder- und Jugendpsychotherapie in den letzten Jahren psychoanalytische Studien zur Frühentwicklung und Frühprävention als einer der Forschungsschwerpunkte herausgebildet. Wir hoffen, durch sorgfältige wissenschaftliche und interdisziplinär angelegte Studien nicht nur das Wissen zu frühen Entwicklungsprozessen und Möglichkeiten der Förderung zu erweitern, sondern auch die politische Öffentlichkeit für die Notwendigkeit des Handelns zu sensibilisieren. Seit der Abgabe dieses Buchmanuskriptes wurde im Juni 2008 unser Forschungsantrag im Rahmen der Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz (LOEWE) bewilligt, uns an einem interdisziplinären Forschungszentrum zur Untersuchung von Risikokindern (Centre für Research on Individual Development and Adaptive Education of Children at Risk) (IDeA) zu beteiligen. Das Sigmund-Freud-Institut wurde vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung und der Johann Wolfgang Goethe Universität als Kooperationspartner (Scientific Coordinator: Prof. Dr. Marcus Hasselhorn) angefragt, weil wir in der Frankfurter Präventionsstudie auch empirisch nachweisen konnten, dass sich unser professioneller, hoch spezialisierter Blick auf unbewusste Phantasien und Konflikte von Vorschulkindern lohnt, um ihre aggressiven, ängstlichen und hyperaktiven Symptome langfristig zu lindern und die psychische und psychosoziale Situation vieler dieser Risikokinder nachhaltig zu verbessern. Wir freuen uns sehr, dass wir in diesem Rahmen unsere Studien zur Frühprävention, von denen in diesem Band berichtet wird, intensivieren und fortsetzen können.

Als Psychoanalytikerin und Wissenschaftlerin bedeuten die Studien im Bereich der Frühprävention für mich persönlich zudem eine Chance, meine klinischen Erfahrungen als praktizierende Psychoanalytikerin, meine Auseinandersetzung mit der Theorienvielfalt der heutigen Psychoanalyse und den damit verbundenen interessanten und komplexen wissenschaftstheoretischen und –-historischen Fragen sowie mein Engagement in vielen Formen der psychoanalytischen und interdisziplinären Forschung nochmals neu zu überdenken und zu integrieren. In diesem Buch spiegelt sich ein Teil dieses Integrationsversuchs, der oft frühere Arbeiten aufnimmt und weiterführt. Ich hoffe, dass diese Auseinandersetzung mit klinischen, konzeptuellen, empirischen und interdisziplinäre Annäherungen an frühe Entwicklungsprozesse das Interesse sowohl meiner psychoanalytischen Kolleginnen und Kollegen, als auch interdisziplinärer Gesprächspartner und von nichtpsychoanalytischen Fachleuten findet, die sich tagtäglich – professionell oder persönlich – mit kleinen Kindern beschäftigen. Ich denke dabei an neugierige und engagierte Eltern, Erzieher, Lehrer, Sozialpädagogen1 und andere Berufsgruppen in diesem Feld. Zudem hoffe ich sehr, dass sich die heranwachsende Generation von Fachleuten durch dieses Buch anregen lässt, Studierende, die sich näher mit Psychoanalyse befassen möchten und vielleicht sogar überlegen, sich selbst in diesem Gebiet zu qualifizieren. Wünschen würde ich mir natürlich auch, dass Politiker, die für den Bereich der frühen Sozialisation und Bildung zuständig sind, Zeit und Interesse finden, das eine oder andere Kapitel dieses Buches zu lesen. Die politische und gesellschaftliche Sensibilität, wie wichtig sich die frühen Entwicklungsprozesse für die individuelle, aber auch die psychosoziale Entfaltung und Integration erweisen, scheint mir erfreulicherweise trotz aller Ohnmachtgefühle und resignativen Einschätzungen politischer Zusammenhänge in den letzten Jahren zuzunehmen.

Noch kurz zur Konzeptualisierung dieses Bandes: Selbstverständlich weiß ich um die Schwierigkeit, sowohl Experten aus der eigenen Disziplin, ausgebildete und erfahrene Psychoanalytiker des Erwachsenen-, Jugend- und Kindesalters, als auch nicht psychoanalytische Fachleute und sogar interessierte Laien unterschiedlichster Altersgruppen ansprechen zu wollen. Ich hoffe nicht, mich dabei zwischen alle Stühle gesetzt zu haben. Ich versuchte in einer klar verständlichen Sprache zu schreiben, ohne auf ein Niveau der fachlichen Differenzierung und der Vermittlung der Komplexität von Phänomenen und deren Konzeptualisierungen zu verzichten. Zudem können alle einzelnen Kapitel des Buches für sich gelesen werden; jedes Kapitel enthält darüber hinaus am Schluss eine Zusammenfassung.

Nach einem einleitenden Kapitel wird in einem ausführlichen Bericht aus einer Psychoanalyse mit einem jungen Mann veranschaulicht, welche Chancen verpasst werden, falls Kindern in seelischer Not nicht rechtzeitig jene Hilfe und Unterstützung erhalten, die sie für ihre psychische Entwicklung benötigen (Kapitel 2). Die Falldarstellung mag illustrieren, dass wir als Psychoanalytiker nicht in Kategorien von „seelisch krank“ und „seelisch gesund“; „normaler“ und „pathologischer“ Entwicklung denken, wenn wir uns mit Fragen der Frühprävention befassen. Wir versuchen, einzelne Kinder oder Kindergruppen möglichst differenziert und in ihrer Einmaligkeit zu verstehen, für uns eine Voraussetzung für therapeutisches und pädagogisches Handeln sowie für kritische Reflexionen von gesellschaftlichen Realitäten. Wie in den Zusammenfassungen verschiedener theoretischer Modelle der heutigen pluralistischen Psychoanalyse zur Frühbeziehung (Kapitel 3) ersichtlich wird, geht es in einer psychoanalytischen Betrachtung immer um das Verständnis individueller Entwicklungsprozesse und ihrer unbewussten, persönlichen Determinanten im Spannungsfeld mit der jeweiligen psychosozialen und gesellschaftlichen Realität, in der sich Entwicklung vollzieht, und nicht um normative oder kategoriale Sichtweisen mit der bekannten Gefahr einer sozialen Stigmatisierung und Ausgrenzung. Auf die zu diesen Fragen stattfindenden grundlagenwissenschaftlichen Diskurse in der Sozialpsychologie oder Sonderpädagogik kann ich in diesem Rahmen nicht eingehen. Ich möchte mich darauf beschränken, einen Einblick in die Vielfalt heutiger psychoanalytischer Konzeptforschung zu frühen Entwicklungsprozessen zu vermitteln. Da ich bei meinen Studierenden immer wieder feststelle, dass sie Autoren der „klassischen“ psychoanalytischen Entwicklungstheorien, wie z. B. Anna Freud, Melanie Klein, René Spitz, Erik Erikson, Margret Mahler u. a. nicht mehr kennen, habe ich mich entschlossen, einige ihrer wichtigsten Beiträge nochmals zusammenzufassen und neueren Entwicklungstheorien kritisch gegenüberzustellen. Um den Erklärungsgehalt dieser Theorien zu illustrieren, wird immer wieder...

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