Einführung
Kinder brauchen Frühförderung. Mehr denn je. Das können wir empirisch belegen. Die Nachfrage steigt insbesondere im Bereich der medizinischen Therapie, aber auch in Form von familienorientierten Hilfen zur Stärkung des gesamten Umfeldes der Kinder. Aber was ist Frühförderung? Und was brauchen unsere Kinder wirklich, die angeblich immer therapiebedürftiger werden?
Wird „Therapie“ zunehmend eingesetzt als Kompensation gesellschaftlicher Veränderungen und ihrer Auswirkungen auf die Entwicklungsmöglichkeiten von kleinen Kindern? Offensichtlich hat sich der Druck durch „PISA“1 noch verstärkt: Wenn deutsche Kinder im internationalen (Leistungs-)Vergleich zurück bleiben, muss doch mehr getan werden! Aber was?
Die Entwicklung in der Praxis zielt in zwei Richtungen: Zum einen in eine mittelstandsorientierte Frühförderung im Spiegel eines leistungsorientierten Denkens. Die Folge sind dramatische Steigerungsraten in den klassischen Therapieformen, v.a. Ergotherapie und Sprachtherapie. Zum anderen mit einem Fokus auf sogenannte „Sozial benachteiligte Familien mit niedrigem Bildungstand“, deren prägnanter Ausschluss von Integrations- und Entwicklungsmöglichkeiten besonders in Deutschland beklagt werden muss. Hieraus entwickeln sich neue Fragestellungen an eine moderne Frühförderung.
In der Reihe „Praxis Heilpädagogik – Handlungsfelder“ spielt der Bereich „Frühförderung“ eine besondere Rolle, die auf ihre historische Entstehung zurück führt: Entstanden als ursprünglich pädagogischer Begriff aus dem Deutschen Bildungsrat 1973, bildet er seitdem die fachliche Grundlage für die hieraus entstandenen Frühförderstellen. Deren Grundlage bildeten wiederum sogenannte „heilpädagogische Maßnahmen“, für die der Gesetzgeber 1974 einen Rechtsanspruch einführte. Bis heute bildet die Heilpädagogik eine Art Leitdisziplin für Frühförderstellen. Dieses Buch wird aufzeigen, warum dieser Anspruch für den pädagogischen Bereich nach wie vor Gültigkeit hat, gleichzeitig sich sowohl die Heilpädagogik als auch die gesamte Frühförderung in einem fachlichen und strukturellen Wandel befindet, von dem noch nicht absehbar ist, in welche Richtung er sich vollziehen wird. Dabei stehen sich fachliche und wissenschaftliche Konzepte einerseits und administrative Interessen und Traditionen andererseits scheinbar unvereinbar gegenüber.
Frühförderung hat sich in den letzten vier Jahrzehnten zu einem selbständigen System entwickelt, das sich an den Rändern unscharf mit Nachbarsystemen überschneidet. Sie hat dabei punktuell eine eigene Identität entwickelt, die sich daran festmacht, dass sich Fachpersonen als „Frühförderer“ verstehen mit eigenen abgegrenzten professionellen Ansprüchen. Zu den Ansprüchen (der klassisch pädagogischen Frühförderung) gehört bspw. in den westdeutschen Bundesländern die Mobilität, das Aufsuchen der Familien zu Hause. Diese Identität ist seit Jahrzehnten spürbar, wenn Fachpersonen aus Frühförderstellen auf überregionalen Kongressen zusammen kommen und ihre Rahmenbedingungen und Arbeitserfahrungen in den jeweiligen Regionen austauschen.
„Die Frühförderung ist ein System, das die Unterstützung der Entwicklung der Kinder mit den Bedürfnissen der Eltern nach Hilfe und Begleitung zusammenführt“ (Sohns 2000 a, 11).
Um das Selbstverständnis von Frühförderung zu verstehen und nachvollziehen zu können, warum die Frühförderung sich so ausgestaltet hat, wie sie sich heute darstellt, und ihre inhaltlichen Angebote für Kinder und ihre Familien sich so und nicht anders gestalten, ist es notwendig, das in den 1970er Jahren entstandene System einerseits in seinem Selbstverständnis zu erfassen, andererseits in seinen Auseinandersetzungen – Abgrenzungen und zaghaften Kooperationsversuchen – mit anderen mächtigen Systemen. Im Schatten dieser Systeme – dem medizinischen System, das der pädagogischen Frühförderung gerade in der Anfangszeit ihre Existenzberechtigung absprach, der Schule und der Kindertagesstätten – fristete (pädagogische) Frühförderung ein Schattendasein. Sie baute sich weitgehend unbemerkt von den sonstigen Fachdiskussionen ihre eigene Mentalität auf – mal klagend über fehlende Kooperationen, mal den Kopf einziehend in der Hoffnung, die Aufmerksamkeit der Kostenträger mit ihren Kürzungen im Sozialbereich mögen an der zarten Pflanze Frühförderung vorbei gehen. Entsprechend verwundert es nicht, dass Frühförderung bis heute nur unzureichend wahrgenommen wurde (Fegert 2008, 49; Naggl/Thurmair 2008, 55).
Bei dem Thema „Umstrukturierung des Systems Frühförderung“ stehen nun drei zentrale Fragen im Mittelpunkt:
- Was hat die Frühfördersysteme bisher ausgezeichnet? Welchen gesellschaftlichen Veränderungen und fachlichen Anforderungen muss ein reformiertes Frühfördersystem Rechnung tragen? Welche Gründe führten zu diesen Veränderungen und wie kann Frühförderung hier eingreifen?
- Wo und mit welcher Zielsetzung sollten sie verändert werden?
- Inwiefern kann eine vom Gesetzgeber vorgegebene „Komplexleistung“ als strukturelle Antwort auf neue Anforderungen dienen? Wie muss sie ausgestaltet werden, damit sie den Ansprüchen gerecht werden kann?
Diesen Fragen wird dieses Buch nachgehen. Bei der Analyse der Situation der deutschen Frühförderung wird offenbar werden, dass die Ausgestaltung der finanziellen, rechtlichen und fachlichen Grundlagen in hohem Maße von außen beeinflusst werden konnte. Entsprechend zeigt sich auch, dass überall dort, wo VertreterInnen der Frühförderung versucht haben, auf diese Ausgestaltungsprozesse mit ihren Kenntnissen aus der Praxis Einfluss zunehmen, dies der Frühförderung zugute kam. Gleichzeitig wird offenbar, wie wenige Fachkräfte der Frühförderung sich um eine solche Einflussnahme bemüht haben und somit auch keine berufsgruppenübergreifende Identität entwickelten. Bezüglich der rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen herrscht bei einer Vielzahl der Frühförderer in den Einrichtungen die Mentalität vor, man könne ohnehin nichts machen. Insofern ist es auch Ziel dieses Buches, Grundlagen-Informationen für ein Empowerment für die Frühförderfachkräfte zu liefern.
Notwendig erscheint diese Erweiterung des fachlichen Blickwinkels und Engagements durch die Tatsache, dass zwar in zahlreichen deutschen Landkreisen sich politische Vertreter dieser Kreise um eine moderne, fachlich fundierte und familienorientierte Frühförderung bemühen, gleichzeitig jedoch in Hunderten von anderen Landkreisen die Fachkräfte der Frühförderung und die Familien darunter leiden, dass hier die Vertreter der Rehabilitationsträger ihr Augenmerk und ihre Kompetenz primär oder ausschließlich darauf richten, die unmittelbaren Kosten einer Frühförderleistung – ohne umfassenden Blick auf deren mittelfristige Zusammenhänge – möglichst niedrig zu halten. Diese Verengung einer Kostenträgersicht nagt an den Fundamenten der kommunalen Selbstverwaltung und an den gesetzlichen Erwartungen an freie Krankenversicherungen. Die gleiche Mentalität wurde auf Bundesebene auf erschreckende Weise offenbar, als 2003 die verschiedenen Beteiligten auf der Grundlage eines gesetzlichen Auftrages die sogenannten BAR-Empfehlungen einvernehmlich erstellt hatten und diese aus strategischen oder aus naiven verbandspolitischen Überlegungen von Seiten kommunaler Kostenträger abgelehnt wurden. Diese Offenbarungen schwächen nicht nur die Möglichkeit, moderne Hilfestrukturen auf der Grundlage systemübergreifender, wissenschaftlicher Erkenntnisse zu effektiveren, sie schwächen mittelfristig auch das Ansehen und den Stellenwert der beteiligten Rehabilitationsträger selbst. Das Buch hat entsprechend zum Inhalt, derartige Widersprüche offen zu legen und Alternativen aufzuzeigen. Dazu ist es notwendig, die Bedarfe der Eltern an Frühförderung in einer sich veränderten Gesellschaft ebenso aufzuzeigen wie die sich daraus ergebenden fachlichen Ansprüche und notwendigen Rahmenbedingungen an eine moderne Frühförderung. Nur auf dieser Grundlage lassen sich Rückschlüsse darauf ziehen, wie das Gesamtsystem der deutschen Frühförderung mit ihren vielfältigen Verzweigungen effektiv miteinander verknüpft und organisiert werden kann.
Der Gesetzgeber hat hierzu versucht, mit der Einführung einer „Komplexleistung“ 2001 neue Akzente zu setzen. Eine Zwischenbilanz nach fast 10 Jahren wird dabei überwiegend zur Dokumentation eines historischen Misserfolgs dieses anspruchsvollen Innovationsversuchs. Wenn wir uns unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Entwicklung von kleinen Kindern, zu ihrer Verwundbarkeit gegenüber gefährdenden Einflüssen und die Möglichkeiten zur Stärkung ihrer Resilienz vergegenwärtigen und die Ausgestaltung unserer Hilfe- und Unterstützungssysteme für die Familien mit kleinen Kindern daran messen, dann fühlt man sich – trotz des umfangreich zur Verfügung gestellten Geldes – oftmals an einen Chirurgen erinnert, der statt mit moderner Lasertechnik eine Augenoperation mit bloßer Hand und einem Taschenmesser durchführt.
Entsprechend analysiert dieses Buch die bestehende Struktur der Frühförderung als ein originär heilpädagogisches Aufgabenfeld, das sich auszubauen hat zu einem Gesamtsystem unterschiedlicher Disziplinen. Es enthält daher keine Anleitung für die Umsetzung „heilpädagogischer Übungen“, tendenziell sogar eher das Gegenteil: Es bettet die Frühförderung...