Wie Sie für sich und Ihre Mitarbeiter Sinnerfahrungen durch
eine Ausrichtung am Wichtigen ermöglichen
Stellen Sie sich vor: Sie wurden gefangen genommen. Niemand hat Ihnen gesagt weswegen und für wie lange. Am ersten Tag nach Ihrer Gefangennahme werden Sie mit Mitgefangenen in ein Wüstencamp gebracht. Dort werden Sie vor die Wahl gestellt: Entweder Sie verbringen den ganzen Tag in einer Zelle oder Sie helfen mit, einen Graben für einen Bewässerungssystem auszuheben. Sie entscheiden sich für die Schaufel. Eine schweißtreibende Arbeit, doch am Abend verläuft über mehrere hundert Meter ein Graben durch die Wüstenlandschaft. Am nächsten Morgen werden Sie erneut vor eine Wahl gestellt: Entweder Sie bleiben den ganzen Tag über im Gefängnis oder Sie helfen mit, den Graben, den Sie gestern mit ausgehoben haben, wieder zuzuschütten. Auf Ihre verstörte Frage an einen Mitgefangenen, worin der Sinn bestehe, wo doch eine Bewässerungsanlage gebaut werden solle, erfahren Sie, dass die Wärter jedem Neuankömmling die Mär von dieser Anlage erzählen. In Wirklichkeit werde einen Tag lang ein Graben ausgehoben und derselbe am nächsten wieder zugeschüttet, am darauffolgenden Tag werde der Graben wieder ausgehoben usw. Würden Sie unter diesen Bedingungen zur Schaufel greifen? Wenn Sie nicht zu denen gehören, die versessen darauf sind, im Sand schaufeln zu dürfen, dann vermutlich nicht. Denn vermutlich gehören Sie zu denen, die so etwas, was offensichtlich sinnlos ist, bestimmt nicht tun wollen.
Welchen Einfluss hat die Sinnlosigkeit auf Ihre Motivation? Einen verheerenden. Wahrscheinlich hätte Ihre Motivation noch ein wenig Auftrieb erhalten, in dem Glauben, mit dem Bau zu einer Bewässerungsanlage beizutragen, die hungernden Kindern Nahrung und Wasser verspricht. Und Sie hätten vielleicht am Abend mit ein wenig Stolz auf das tagsüber vollbrachte Werk blicken können. Doch die Sinnlosigkeit raubt diesen positiven und kraftspendenden Gefühlen die Grundlage. Und so werden Sie vermutlich am darauf folgenden Morgen, erneut vor die Wahl gestellt, die Zelle wählen.
Losgelöst von diesen Gedankenexperimenten bedeutet dies: Für unsere Motivation und unser Wohlbefinden ist es essenziell, dass wir in dem, was wir tun, einen Sinn sehen. Die Sinnerfahrung ist für Sie als Führungskraft dabei in doppelter Hinsicht relevant: Zum einen in Bezug auf Sie selbst, denn nur wenn Sie das, was Sie tun, als sinnvoll ansehen, können Sie Kräfte aufbringen und sich dabei wohl fühlen. Und zum anderen in Bezug auf die Ihnen anvertrauten Mitarbeiter. Nur wenn diese ihr Tun als sinnvoll erleben, werden sie sich mit vollem Einsatz einbringen und dabei positive Gefühle entwickeln.
Doch die Frage nach dem Sinn birgt einige Schwierigkeiten. Zwar lässt sich die Frage danach, welchen Sinn Ihr Handeln hat, wenn Sie z. B. ein Meeting ansetzen, leicht im Hinblick auf den von Ihnen verfolgten Zweck beantworten. Doch wenn dieser Zweck nicht Selbst-Zweck ist – und das ist praktisch nie der Fall – so stellt sich diese Frage nach dem Sinn, bezogen auf den Zweck, erneut.
In der Erzählung „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral” von Heinrich Böll3 zeigt sich dieses Phänomen in einem amüsanten und zugleich verstörenden Gewand. Der Vorschlag eines Touristen, der Fischer könne, anstatt in der Sonne zu dösen, doch mehrmals hinausfahren und seinen Fang vergrößern, provoziert die Frage nach dem Sinn. Die Antwort liegt für den Touristen auf der Hand: Mehr Geld, noch bessere Möglichkeiten, Effizienz und Gewinne zu maximieren und ein prosperierendes Unternehmen aufzubauen. Doch erneut lässt sich die Frage nach dem Sinn stellen. Der Tourist verweist auf die sich durch die Mehrarbeit ergebende Chance, in der Sonne dösen zu können. Dies kann der Fischer jedoch bereits jetzt, so dass sich die vermeintliche Sinn-Suche als zirkulär entpuppt.
Einfache Antworten auf den Sinn unseres Tuns mögen im Moment befriedigen. Sie spenden Kraft, die uns unser Tun fortsetzen lässt. Wir laufen jedoch Gefahr, dass wir als tragische Figur einem Zweck hinterherlaufen, der sich als Fata Morgana erweist. Denn dieser Zweck steht auf einem Fundament, das hohl und brüchig ist oder mit anderen unserer Überzeugungen kollidiert. Würde der Fischer der Empfehlung des Touristen folgen, wäre er eine solche tragische Figur. Denn er würde mit enormer Kraftanstrengung einem Zustand hinterherjagen, den er zu Beginn ohne diesen Aufwand bereits erreicht hat. Wir sollten also nicht vorschnell bei einfachen Antworten stehen bleiben.
Allerdings weiten sich dann die einfachen Fragen nach dem Sinn seiner Aktivität aus. Man könnte nämlich auch das Handeln des Fischers radikal hinterfragen: Welchen Sinn hat es, in der Sonne zu dösen? Wieso soll es mehr Sinn machen, in der Sonne zu dösen, als sich anzustrengen und den unternehmerischen Erfolg zu vergrößern? Die Frage nach dem Sinn scheint Antworten zu liefern, denen der Boden fehlt oder die sofort weitere Sinnfragen nach sich ziehen. Jede Antwort provoziert die Frage nach dem Sinn erneut, so dass wir letzten Endes zu der Frage nach dem Sinn von allem geführt werden und damit zu der großen Frage nach dem Sinn des Lebens.
Im nächsten Abschnitt werden wir versuchen, dieser großen Frage eine sinnhafte Antwort abzuringen, die uns hinsichtlich des Themas Führung weiterbringt. Wir werden untersuchen, wie ein System aus konsistenten Zielen und Werten Orientierung und Sinn spenden kann. Wir werden prüfen, wie wir gewährleisten können, dass wir nicht durch innere und äußere Mächte von unserem Kurs abgebracht werden. Und schließlich widmen wir uns der Frage, wie Sie als Führungskraft dem Tun Ihrer Mitarbeiter Sinn geben und dadurch Orientierung spenden können.