Zweite Meditation
Liebe Freunde, ein weiteres Mal haben wir uns hier versammelt, weil uns ein allen gemeinsames Thema beschäftigt, der Tod, dem sich niemand entziehen kann. Beim letzten Mal schlug ich vor, die Blickrichtung umzukehren: Anstatt den Tod von unserer Seite des Lebens aus starr zu fixieren, könnten wir das Leben vom Tod her betrachten, den wir nicht als absurdes Ende begreifen, sondern als die Frucht unseres Seins. Denn in einer unbeständigen Welt voller Unwägbarkeiten haben wir nur eine absolute Gewissheit: Jeder von uns muss eines Tages sterben.
Aber heißt das, dass wir angesichts dieser Absolutheit nichts mehr zu sagen haben? Ich denke nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass der Tod uns mit Blick auf das Leben nicht als etwas völlig Absolutes erscheint. Tatsächlich gäbe es den Tod nicht, wenn es das Leben nicht gäbe. Da der Tod die Aufhebung eines bestimmten Lebenszustands bedeutet, kann seine «Absolutheit» nicht aus sich selbst heraus entstanden sein: Sie kann nur durch etwas anderes, noch Absoluteres – wenn ich so sagen darf – durchgesetzt worden sein, nämlich durch das, was zum Erscheinen des Lebens geführt hat. Dieser URSPRUNG hat den Tod zu einem seiner eigenen Gesetze bestimmt, und so ist der Tod selbst zu einem Beweis für die Absolutheit des Lebens geworden. Wir können das Leben nicht denken, ohne den Tod mitzudenken, ebenso wenig wie wir den Tod denken können, ohne das Leben mitzudenken. Aber innerhalb dieses unteilbaren Binoms hat das Leben den Vorrang. Wird der Tod das letzte Wort haben? Das ist alles andere als sicher.
Halten wir schon jetzt einen Gedanken fest, um ihn später im Verlauf unserer Meditationen zu entwickeln: Die Absolutheit des Lebens bedeutet, dass es sich jedem als Geschenk anbietet und zugleich eine Forderung ist. Es impliziert eine gewisse Anzahl grundlegender Regeln, die für ein offenes Leben bürgen, und damit für die wahre Freiheit. Leben beschränkt sich nicht auf die körperliche Existenz. Leben verlangt den Menschen in seiner Gesamtheit, bestehend aus einem Körper, einem Geist und einer Seele. Leben verlangt darüber hinaus das individuelle Sein innerhalb des Abenteuers des SEINS an sich. Jeder von uns ist an andere Menschen gebunden, und wir alle sind an ein gewaltiges VERSPRECHEN gebunden, das vom URSPRUNG an die Bewegung des WEGES gewährleistet. In dieser grundlegenden Bindung, die sich auf allen Ebenen bestätigt, existiert zwischen jedem Schicksal und dem, was der Bestimmung des Universums vorausgeht, so etwas wie ein Pakt, eine Art Bündnis, das stillschweigende Verantwortlichkeiten einschließt. Das chinesische Denken hat für das, was jedem einzelnen Leben zukommt, den Begriff «Auftrag des Himmels» geprägt. Jeder ist verpflichtet, diesen Auftrag bis zum Ende auszuführen, ohne ihn künstlich abzubrechen. Gerade indem der Mensch sich den Prüfungen dieses «Endes» stellt, offenbart er sich gegenüber seiner unhintergehbaren Wahrheit, gegenüber dem unersetzlichen Teil seiner selbst. Darum wird der Selbstmord, was auch immer darüber gesagt wird, in Bezug auf das SEIN allgemein als ein Drama wahrgenommen, als eine Art Scheitern.
Das Leben hat Vorrang, sagte ich. Aber das ändert nichts daran, dass wir uns in einem Dilemma befinden. Wir Menschen auf der Erde sind in einer unerbittlichen Verkettung gefangen: Die Gewissheit zu sterben, ohne den Tag oder die Stunde zu wissen, wird uns zur Quelle aller Ungewissheiten. Trotz tausendfacher Maßnahmen, die uns beruhigen sollen, leben wir bedroht von Krankheiten, Unfällen, tödlichen Konflikten und dem Verlust geliebter Menschen. Daher unsere ständige Angst. In Anbetracht dieser Lage ist es durchaus gerechtfertigt, von einem Wunder zu sprechen, wenn wir hier zusammen sind und das seltene Glück eines wahrhaftigen Austauschs miteinander teilen.
Ich habe soeben die Wörter «Wunder» und «Glück» gebraucht. Es ist wohl nicht übertrieben, wenn wir diese beiden Vokabeln in eine Reihe stellen: Das Glück erscheint uns wie ein Wunder, weil wir ihm nicht häufig begegnen, und vor allem, weil es nicht von Dauer ist. Unser Bewusstsein vom Tod aller Dinge bewirkt, dass auch die strahlendsten Glücksmomente, in deren Genuss wir ab und an gelangen, immer von einem Schleier des Bedauerns verhangen sind. Jeder kann dieses Phänomen anhand seiner persönlichen Erinnerungen nachvollziehen. Anstatt jetzt meine eigenen zu durchforsten, begnüge ich mich damit, eine Szene zu schildern, die François Mauriac überliefert hat.
Das Mitglied der Académie Française besuchte eines Tages seinen Kollegen Maurice Genevoix, der als ständiger Sekretär der Akademie im Palais Mazarin wohnte. Die ihm in dieser Funktion zugeteilte Wohnung ging auf die Seine hinaus, so dass er sich eines der schönsten Ausblicke von Paris erfreuen durfte: In der Mitte liegt der Pont des Arts vertäut wie ein mit alten Träumen beladener Kahn. Etwas weiter rechts, der Square du Vert-Galant, der die ruhmreiche architektonische Prozession von Notre-Dame und Conciergerie anführt, während sich am gegenüberliegenden Ufer das Palais du Louvre erstreckt, dessen prächtige, rhythmische Fassade den Jahrhunderten trotzt. An diesem Frühlingsabend ließ das rosafarbene Licht des Sonnenuntergangs, vermengt mit dem Wasser des Flusses, Himmel und Erde zu einem Ganzen verschmelzen, das so lieblich und leicht war wie die hin und her fliegenden Möwen oder die in der Ferne sorglos dahinsegelnden Wolken. Die zwei Männer, beide schon in vorgerücktem Alter, standen lange da, sprachlos vor Rührung, bis Genevoix schließlich leise murmelnd hervorbrachte: «Wenn man denkt, dass wir all das zurücklassen müssen!» Ein melancholischer, einst von Mazarin geäußerter Satz, der uns daran erinnert, dass kein Glück unbegrenzt wiederholbar ist, dass jedes Glück einem Wunder gleicht. Und trotz alledem stellt die Aussicht auf Glück die helle Seite des Lebens dar. Trotz der zahlreichen Unglücke, die das Leben uns zufügt, hält es doch eine Reihe kleiner oder großer Glücksmomente für uns bereit, so dass ein positiv gestimmter Geist sich die Behauptung erlauben könnte, das Leben sei tatsächlich voller Wunder – ganz abgesehen davon, dass das Leben an sich schon eine wunderbare Erscheinung ist. Ein gewaltiges Paradox also: Das Bewusstsein des Todes, das uns quält, ist bei weitem keine rein negative Kraft, es lässt uns das Leben auch nicht als einfache Gegebenheit sehen, sondern als ein unglaubliches, heiliges Geschenk. Es erweckt in uns den Sinn für seinen Wert, indem es unsere Leben in lauter einmalige Einheiten verwandelt. Hier kommt uns die lapidare Lebensweisheit Malraux’ in den Sinn: «Ein Leben ist nichts wert, aber nichts ist so viel wert wie ein Leben.»
Die Einmaligkeit eines jeden Lebens ist ein Begriff, der uns im Verständnis des menschlichen Abenteuers eine weitere Stufe erklimmen lässt. Die Einmaligkeit beschränkt sich nicht auf den menschlichen Körper, sie ist überall in der Natur zu beobachten: Kein Blatt gleicht dem anderen, kein Schmetterling sieht aus wie der andere. Beim Menschen betrifft diese Einmaligkeit auch die gesamte Arbeit des Geistes und die gesamte Offenbarung der Seele. Das Wesen jedes Menschen ist in seiner Gesamtheit einmalig und erschafft sich in Anbetracht des Todes ein einzigartiges Schicksal. «Der Tod verwandelt das Leben in Schicksal», hat ebenfalls Malraux ganz richtig gesagt. Demzufolge ist das Universum nicht bloß ein Haufen von Entitäten, die sich blind bewegen, es besteht aus einer außerordentlichen Vielfalt an Wesen, von denen jedes, getrieben vom Wunsch zu leben, einer gerichteten Bahn folgt, einer Bahn, die ausschließlich ihm eigen ist. Eine zwingende Kraft drängt uns, vorwärtszugehen. Und diese Kraft ist, wie wir wissen, nichts anderes als die unumkehrbare Zeit.
Die Zeit ist der große Organisator, der die Gesamtheit der Lebewesen in den faszinierenden Prozess des Werdens hineinzieht. Im Mittelpunkt dieses Prozesses befinden sich die Menschen, die sich als Einzige ihrer Sterblichkeit bewusst sind, in einer ganz besonderen Situation. Jeder Mensch macht sich irgendwann in seinem Leben Gedanken über die Tatsache, dass seine Einmaligkeit zugleich Privileg und Beschränkung bedeutet. Er weiß sehr wohl, dass er nicht unendlich viel Zeit hat, dass die begrenzte Zeit, die ihm zur Verfügung steht, ihn drängt, sein Leben in vollen Zügen zu genießen. Aber droht eine solche Logik nicht, die Person in einer entsetzlichen Haltung aus Stolz und Egoismus einzuschließen? Die Gefahr ist sehr real, sie ist eine Quelle des Bösen. Auf diesen Punkt werden wir in einer anderen Meditation zurückkommen. Einstweilen lassen Sie uns festhalten, was uns der gesunde Menschenverstand lehrt: Wenn ich einmalig bin, dann sind es die anderen auch, und je einmaliger sie sind, desto einmaliger bin ich selbst. Zumal meine Einmaligkeit nur über die Konfrontation oder im Zusammensein mit der Einmaligkeit der anderen zu beweisen und zu erfahren ist. Hier beginnt die Möglichkeit, «ich» und «du» zu sagen, hier beginnen Sprache und Denken – und das zeigt sich besonders eindrücklich in Liebesbeziehungen. Es existiert also über alle unvermeidlichen...