Vorwort
Franz Kafkas Wirklichkeit war ein weitläufiger Raum der Einbildungskraft. «Die ungeheuere Welt, die ich im Kopfe habe», notiert er im Juni 1913 in seinem Tagebuch (T II 179).[1] Während sich Kafkas äußeres Leben mit wenigen Ausnahmen in der überschaubaren Topographie Prags und der Provinzstädte Böhmens abspielt, bleibt die Erfahrung, die ihm das Reich des Imaginären vermittelt, unumschränkt und grenzenlos. Was sein literarisches Werk inspiriert, stammt nur in Bruchteilen aus den Zonen der externen Realität. Auf merkwürdige Weise scheint seine Welt der Phantasie von der wechselvollen Geschichte der Moderne unberührt. Die gravierenden Zäsuren, die Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmen, spielen für Kafkas Leben scheinbar keine Rolle – weder seine Briefe noch die Tagebücher widmen ihnen größere Aufmerksamkeit. Die russische Revolution vom Winter 1905 taucht in der Erzählung Das Urteil auf, als sei sie ein gleichsam literarisches Ereignis. Die Balkankriege von 1912 und 1913 nimmt der Briefschreiber wie durch den Schleier des Tagtraums wahr (Br I 204). Die Mobilmachung vom August 1914 registriert der Tagebuchautor in einer lakonischen Beiläufigkeit, die befremdlich wirkt (T II 165). Dem Zusammenbruch der k.u.k.-Monarchie, der am 28. Oktober 1918 zur Geburt der tschechischen Republik führt, widmet er kaum ein Wort. Die Existenz des neuen Staates, als dessen Bürger er fortan lebt, ist ihm keinen näheren Kommentar wert; einzig über die bürokratischen Widerstände, denen sich der Reisende im Europa der Nachkriegszeit ausgesetzt sieht, klagt er gelegentlich. Als er 1923 nach Berlin zieht, beobachtet er die gesellschaftlichen Umbrüche des großen Inflationswinters wie ein Forscher, der den Gegenständen seiner wissenschaftlichen Neugier fernbleiben muß, um sie besser zu verstehen: «(…) und so weiß ich von der Welt viel weniger als in Prag.» (Br 468)
Als Visionär ohne Geschichte und Mystagogen ohne Realitätssinn haben die Nachgeborenen Kafka wahrgenommen. Das Porträt des einsamen Prager Asketen, der seine privaten Ängste und Obsessionen in traumhaft-phantastischen Texten verarbeitet, darf jedoch nicht davon ablenken, daß es auch noch eine andere Seite gibt. Sie zeigt dem Betrachter einen auf komplizierte Weise in die Epoche Verstrickten, der vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit seiner Zeit die Augen nicht verschließt. Als Jurist in öffentlichen Diensten ist ihm die staatliche Bürokratie in Böhmen aus den Details eines grauen Büroalltags vertraut. Die Fabriken des Industriezeitalters, jene Schreckensorte im Inferno moderner Technik, hat er, anders als die meisten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, in seiner Rolle als Gutachter für den Unfallschutz bei Inspektionsbesuchen sehr genau kennengelernt. Seine privaten Reisen führen ihn durch die Länder Mitteleuropas, in die Schweiz, nach Frankreich und Oberitalien. Die großen europäischen Metropolen erkundet er mit der Neugier des Voyeurs, der vom nervösen Pulsschlag urbanen Lebens fasziniert ist. Sämtliche bedeutenden intellektuellen Strömungen der Zeit hat er aufmerksam registriert, ohne sich freilich von ihnen vereinnahmen zu lassen; Zionismus und Psychoanalyse, Anthroposophie und Naturheilkunde, Sozialismus und Anarchismus, Frauenbewegung und Pazifismus nimmt er als Epochenphänomene mit dem scharfen Blick des distanzierten Beobachters wahr. Sein Wissen verbirgt er dabei hinter der Maske des naiven Dilettanten, der die Souveränität bewundert, mit der die Akteure auf der Bühne des Geisteslebens ihre Rollen spielen.
Wer diese Selbstinszenierung als Tarnung durchschaut, erblickt einen sehr bewußt lebenden Zeitgenossen, dem seine kulturelle Umwelt niemals gleichgültig bleibt. Kafka hat seine besondere Identität als deutscher Jude in Prag, belehrt durch Theodor Herzls Zionismus und Martin Bubers Religionsphilosophie, mit wachsender Sensibilität reflektiert. Es ist das gesellschaftliche und kulturelle Milieu Böhmens im Zeitalter der jüdischen Assimilation, das seine Kindheit und Jugend am Ende des 19. Jahrhunderts bestimmt. Hier, vor dem Hintergrund einer verschatteten Überlieferung – der jüdischen Glaubenskultur – und auf dem Boden der technischen wie kulturellen Moderne, liegen die Voraussetzungen seiner ästhetischen Produktivität. Selbst wenn sein Werk die Spuren der Epoche stets nur indirekt verarbeitet, läßt es sich nicht lösen von deren politischen, sozialen und intellektuellen Signaturen. Auch der in seine Privatkonflikte eingesponnene Autor Kafka ist ein Künstler mit zeitgeschichtlich geprägter Identität, dessen literarische Arbeit unter den gesellschaftlichen Bedingungen eines katastrophenreichen Jahrhunderts steht.
Dieses Buch geht von der Beobachtung aus, daß Kafkas äußeres und inneres Leben zwar punktuell seine Texte inspiriert, umgekehrt aber auch die Literatur die Linien der Biographie festlegt. Kafka hat nicht selten in seinen poetischen Arbeiten Konstellationen der eigenen Vita vorweggenommen; man könnte, anders akzentuiert, auch sagen: er hat im Leben die Literatur nachgeahmt. Dieser Befund gilt etwa für das Verlobungsmotiv der Erzählung Das Urteil, das die Beziehung zu Felice Bauer antizipiert, aber ebenso für die tödliche Wunde des Jungen im Landarzt, die das Ausbrechen der Tuberkulose zu präludieren scheint. Es gehört zu den Grundmustern von Kafkas Leben, daß es sich im Geltungsbereich der Literatur abspielt und über ihn wesentlich definiert; das reflektieren zahlreiche Äußerungen in Tagebüchern und Briefen mit nicht ermüdender Intensität. Zentrale Aufgabe dieses Buchs ist es daher, die Prägungen zu beschreiben, die das Leben durch die imaginären Welten der Poesie und die Formen ihrer inneren Ordnung empfangen hat.[2] Erst die Einsicht in die literarische Konditionierung der Erfahrung erschließt das geheime – keineswegs mythische, vielmehr bewußt produzierte – Gesetz, das Kafkas Vita machtvoll regiert. In ihr existieren keine einfachen Lösungen, sondern nur Paradoxien und dialektische Verstrickungen, denen traditionelle Mythen wie das Bild vom asketischen, lebensängstlichen Schriftsteller so wenig gerecht werden wie ihre programmatischen Entzauberungen.
Man kann Kafka im Hinblick auf solche Paradoxien einen ‹ewigen Sohn› nennen, der seine Furcht vor dem Vater mit obsessiver Lust kultiviert, weil sie für ihn die Bedingung seiner Existenz bildet. Diese Konstellation bezeichnet ein Lebensprinzip, das Kafkas künstlerische Identität ebenso wie sein – von ihm selbst so empfundenes – Scheitern in der praktischen Wirklichkeit begründet. Kafka hat sich, obgleich er sich seines literarischen Rangs bewußt war, niemals aus der Rolle des Nachgeborenen befreit, der zögert, erwachsen zu werden. Seine Liebesgeschichten treiben in Katastrophen, da der Eintritt in die Rolle des Ehemanns oder Vaters seine Identität als Sohn zerstört hätte. Sie aber bildete die Voraussetzung für seine schriftstellerische Arbeit, die sich nach seiner Überzeugung nur in der unbedingten Einsamkeit vollziehen konnte. Nicht zuletzt wird in der Rolle des Sohnes die Logik seiner Texte deutlich, die endlose Reisen auf dem Meer der Bedeutungen unternehmen. Kafkas literarisches Werk ist einer Ästhetik des Zirkulären verpflichtet, in der sich die Ich-Konstruktion des ewigen Sohnes spiegelt: das ‹Zögern vor der Geburt›, wie er es genannt hat, das Verharren in Übergängen, Bruchstücken, Annäherungen. Der Sohn, der nicht erwachsen wird, reflektiert seine psychische Selbstorganisation in Texten, die so unabschließbar sind wie sein eigenes biographisches Projekt. Der Ich-Entwurf des ‹ewigen Sohnes› ist daher das Geheimnis der Künstlerpsychologie, die Kafkas Schreiben grundiert. Er führt, die Zufälle der äußeren Biographie wie Schwellen überschreitend, in jene Zone, die man die Dämonie des Lebens nennen mag: ins Arkanum der dunklen Verstrickungen, welche die dramatische Selbstinszenierung des Autors Kafka bestimmen.
Kafka ist kein Meteor, dessen Werk aus einem geschichtslosen Himmel über uns kam. Er steht vielmehr sehr bewußt in einem komplexen Überlieferungsgeschehen, das er freilich mit den Mitteln der Ironie, Travestie und Parodie, nicht selten gestützt durch die Denkmethode der negativen Dialektik, zu verfremden weiß. Die beiden Leitbegriffe, die dieses Überlieferungsgeschehen erschließen, lauten ‹Mythos› und ‹Moderne›. Mythos: das ist für Kafka wesentlich die Welt des Judentums, dessen religiöse Sagen, Geschichten und Handlungsanleitungen ursprünglich mündlich überliefert waren. Über das Gespräch gewinnt Kafka durch Bekannte und Freunde wie Hugo Bergmann, Max Brod, Felix Weltsch, Jizchak Löwy, Martin Buber und Jiři Langer Einblicke in die Erzählwelten der jüdischen Religion. Daß deren Muster die Texte des Landarzt-Bandes, den Proceß-Roman und das Spätwerk geprägt haben, läßt sich begründet nachweisen. Zugleich mischt sich in das Ensemble der legendenhaften Stoffe, die Kafka verarbeitet, die griechische Antike ein. Die Mythen des Kampfes, des Familienkonflikts und der Reise, die er aufgreift, stehen...