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2018
Gernoth von Rudenstein
Als mich der Marburger Verleger Axel van Olf während einer Open Air-Literaturveranstaltung in Bad Harzburg fragte, ob ich mir vorstellen könne, eine Biografie über die Hit Company zu schreiben, reagierte ich zunächst mit einer Mischung aus Verwunderung und Neugier. Ich war verwundert, weil ich bis dahin noch keine Erfahrung mit dem Schreiben von Biografien gesammelt hatte und lediglich auf zwei bis dahin mäßig verkaufte Romane, einige Ratgeberbücher und eine Adels-Kolumne in der Drienburger Allgemeinen zurückblicken konnte und neugierig, weil ich – als bekennender Schlagerfan und Deutschrock-Liebhaber – den Werdegang der wohl vielversprechendsten deutschen Band schon seit ihrer Gründung im Jahr 1986 verfolgt hatte.
Mit Peter und Bernd, die beide in meiner Eifeler Nachbarschaft groß geworden sind, verbindet mich bis heute eine tiefe Freundschaft. Ich kenne ihre Familie noch aus den gemeinsamen Tagen im Sandkasten, war sogar einmal mit ihnen im Kroatienurlaub und weiß um all ihre kleineren und größeren Macken. Auch Wolle, Kurt, Werner, Uli, Volker und Domenico kenne ich über meine beiden Jugendfreunde mittlerweile sehr gut und habe sie im Laufe der Jahre als warmherzige Freunde schätzen gelernt.
Nach unzähligen Gläsern Bockbier und van Olfs Versprechen, mir bei der Gestaltung der Biografie freie Hand lassen zu wollen, erbat ich mir einige Tage Bedenkzeit. Er gab mir eine Woche. Am darauffolgenden Sonntag sollte ich ihn zum Frühstück im Erfurter Hotel Ambassador treffen.
Es begann die bis dahin wohl schwierigste Woche in meinem Leben. Zu viele ungelöste Fragen und Probleme beschäftigten mich. Ich fand, Aufschieben, Verdrängen und Vergessen seien drei gute Methoden, um die Woche irgendwie zu bewältigen. Doch der in meiner Studentenzeit zur höchsten Vollendung gebrachte prokrastinische Müßiggang wollte sich nicht einstellen. Bewusst versuchte ich an diese Zeit anzuknüpfen, verbrachte drei Tage und eine halbe Nacht vor einem Radio, aus dem laute Jazz-Musik quoll, und schüttete sauren Rotwein in mich und über mein muffiges Hemd. Doch ich konnte mich nicht entspannen, konnte meine Sorgen und Befürchtungen nicht zur Seite schieben, konnte weder eins werden mit der Musik noch mit dem gelbstichigen Bardolino, der in meiner Kehle wie der Sud eines ganzen Glases Gewürzgurken brannte. Mir ließ die alles entscheidende und in jeder Zelle meines Körpers wuchernde Frage, welche Rolle ich als Biograf meiner Freunde einnehmen sollte, keine Ruhe.
Jeder Biograf hat mit der schwierigen Balance von Nähe und Distanz zu kämpfen. Einerseits ist die Nähe zum Künstler elementar für eine lebendige und fundierte Biografie, andererseits muss immer auch eine klare Linie professioneller Distanz gezogen werden, um sabbernden Gefälligkeitsjournalismus zu vermeiden. Durch meine Freundschaft mit der Hit Company schien mir ebenjener Vorwurf bereits vor dem Schreiben im Raum zu stehen. Gleichzeitig lag mir viel an der Fortsetzung dieser Freundschaft; eine Freundschaft, deren Tiefe mit unermesslich wohl noch zu gering ausgelotet wäre. Weder wollte ich auf Distanz zu meinen Freunden gehen, sie mit unangenehmen Fragen quälen und Schlamm aus der Vergangenheit ans Tageslicht befördern, der sie seelisch möglicherweise schwer belasten würde (man denke hier nur an die schrecklichen Tage von Wolfgangs Wendy-Abhängigkeit), noch wollte ich die Rolle des Hofschreibers im literarischen Zirkus übernehmen. Zu viele Biografen, auch solche, die zuvor bereits sehr gelungene literarische Werke abgeliefert hatten oder bei hochangesehenen Qualitätszeitungen beschäftigt waren, sind schon vor mir in genau diese Falle getappt. Die plötzliche Nähe zum schon seit der Jugend bewunderten Star, eine verschwiegene Erbschaft oder eine heimliche Liaison mit der Mutter des biografischen Objektes – es gibt unzählige und sogar noch profanere Gründe als pure Freundschaft, die einen Biografen verleiten können, sämtliche journalistische Sorgfaltsregeln über Bord zu werfen. Erinnert sei hier nur an die völlig misslungene Cowboyman-Biografie von H.D. Scheckel. 1
Scheckel, mit der damals unvorstellbaren Gage von 120.000 US-Dollar ruhiggestellt und außerdem ein enger Freund von Cowboymans Vater T.D. Burnessy, ergeht sich in seitenlangen Beschreibungen alltäglicher Belanglosigkeiten und fühlt sich bemüßigt, jedes nur ansatzweise lustig wirkende Bonmot von Cowboyman zu erzählen. So gerät die Biografie in einen Taumel tausend wohlgemeinter Freundschaftsdienste und erschöpft sich leider darin, eine einzige persönliche Liebesbekundung zu sein. Von Kritik natürlich keine Spur.
Erst Werner brachte mich bei einer Aftershow-Party am Samstagabend vor dem Treffen mit van Olf zu einem anderen Blick auf die vor mir liegende Aufgabe. Er machte mir klar, dass niemand aus der Band eine Liebeserklärung oder eine Aneinanderreihung schlecht nacherzählter schlechter Witze erwarten würde. Sie würden mich weiter als Freund schätzen, auch wenn ich Unangenehmes berichten würde, da die Idee zur Biografie schließlich nicht im Management, sondern innerhalb der Band selber entstanden sei: Einzig aus dem Wunsch, alles festzuhalten, alles noch einmal erleben zu können – und zwar mit allen Höhen und Tiefen.
Der Sonntag kam näher und mit ihm die Entscheidung, ob ich das Projekt angehen solle oder nicht. Trotz Werners Aufmunterung wurde ich in der Nacht von meinen Sorgen um die Biografie gequält. Wie sollte ich mich nur entscheiden? Aus jeder Zimmerecke blickten mich die zu Fratzen verzerrten Gesichter der Hit Company an. Dachte ich, sie würden freundlich lachen und ging ich dann mit offen Armen auf sie zu, so zuckten sie mit einer spöttischen Ablehnung zurück, die die Tränen in meinen schlafverschmierten Augen gefrieren ließ. Ich sah die Biografie, ziegelsteingroß, in enormen Stapeln in den Buchläden liegen und babylonisch in den künstlich bestrahlten Himmel wachsen, hörte meine letzten Worte aus leeren Konzerthallen zurückhallen, las schaurige Abgesänge über die Hit Company im Feuilleton meiner Lieblingszeitung, wollte mit ihnen reden, es ihnen erklären – was überhaupt? – sie in den Arm nehmen und die Zeit zurückdrehen, dann erwachte ich schweißgebadet neben meiner Frau, die nur kurz aufzuckte und sagte: »Liebling, du weißt doch, gemeinsam schaffen wir alles. Lass mich jetzt schlafen!«
Ich erinnerte mich an Werners warme Worte und sah auf einmal, dass die Biografie der Hit Company für mich nicht Qual bedeuten sollte, sondern Freude! Freude darüber, einer potentiell einflussreichen Band der Zeitgeschichte ein Denkmal setzen zu dürfen und der Vergangenheit meiner Freunde minutiös nachspüren zu können, aber auch – und das ist mir hier wichtig – kritisch nachfragen zu dürfen.
Daher habe ich während des Schreibens versucht, wie ein Bildhauer vorzugehen, der sich dem Grundstein als zärtlicher Geliebter nähert, ihn aus allen erdenklichen Perspektiven betrachtet und vermisst und der dann die zarten Lebenslinien und Geheimnisse mit dem feinen Hammer freilegt; ein Bildhauer, der aber auch nicht davor zurückschreckt, mit dem größeren Hammer eine Ecke abzuschlagen, um zum Kern vorzudringen. Beim Schreiben der Biografie habe ich mir eine gewisse literarische Freiheit genommen, denn ich war nicht bei allen Gesprächen und Ereignissen im Leben der Hit Company anwesend. Außerdem bin ich fest davon überzeugt, dass die Kunst genau dann das Wahre freizulegen vermag, wenn sie die Realität bearbeitet und der ersten, täglich erlebbaren und dadurch abziehbaren, durch Erinnerung und Alltag überlagerten Realität eine zweite, beständige und reflektierte Realität zur Seite stellt.
Fundstücke soll daher keine klassische Biografie sein, auch wenn über weite Teile der Vergangenheit nur berichtet wird, sondern auch ein Lebensroman, in dem einzelne Ereignisse von mir nachempfunden und inszeniert werden – immer aber im Dienste einer tieferen Realität, oder, um es mit dem französischen Existenzialisten Goynard zu sagen, »immer im Dienste des Menschen«. 2
Manche Kapitel erscheinen daher mehr als Bericht, andere wie eine Kurzgeschichte, wieder andere gleichen einer wissenschaftlichen Arbeit. Diese Zwitterform aus Biografie und Roman verlangt notwendigerweise sowohl absolute Faktentreue als auch eine gewisse Bearbeitung der Wirklichkeit, die sich jedoch immer im Rahmen des Möglichen und des Überlieferten bewegen muss. Bewusst habe ich eine episodische Darstellung gewählt, spiegelt sie doch die Brüche im Leben der Band am besten wider.
So ist Fundstücke letztlich eine Biografie geworden, die sich unterschiedlicher literarischer Stil- und Gestaltungsmittel bedient, darüber hinaus aber zu fast 100 % auf Fakten, Tagebüchern, Briefen, Emails, Tondokumenten, wissenschaftlichen Arbeiten und unzähligen Gesprächen beruht – ein in Buchform gedruckter Spagat zwischen literarischer...