Die globale Titanic
Der unvermeidliche Systemcrash
Wenn ein Frosch in einem Topf sitzt und das Wasser darin langsam zum Kochen gebracht wird, merkt er nicht, dass er in der Hitze umkommt, heißt es. Das ist nachweislich falsch und allenfalls beim Menschen so.
Begierden von Weltformat sind im kühnen »Building No. 1« an der London Bridge zu Hause. Wer sich an dieser Adresse in Großbritanniens Hauptstadt einmietet, baut auf globalen Erfolg und lebt vom nüchternen Blick, der schonungslosen Analyse, inspiriert von historischen Perspektiven.
Die Brücke an der Themse kennt den Wandel der Epochen. Die Römer errichteten sie aus Holz, König Aethelred befahl im Jahr 1014, sie niederzubrennen, um angreifende dänische Truppen abzuwehren.
Als steinerne Brücke bot sie im Mittelalter das Fundament für sechs Stockwerke hohe Gebäude, über dem Wasser entwickelte sich ein eigener Stadtteil, den tagsüber mehr als 3000 Menschen bevölkerten. Wegen des Andrangs durften Karren nur noch auf der Westseite ins Londoner Zentrum gezogen werden und mussten es auf der Ostseite verlassen. Dies gilt als Ursprung des Linksverkehrs auf der britischen Insel.
Rebellierende Bauern setzten die Brückenhäuser zweimal in Flammen. Der Anführer Jack Cade alias John Mortimer wurde gevierteilt, sein Kopf blieb danach weithin sichtbar aufgespießt auf einem Pfahl. Am Südtor schreckten mehr als 300 Jahre lang halb gekochte, in Pech getauchte Köpfe von Hingerichteten die Vorbeiziehenden. Ein »Keeper of the Heads« betreute sie wie ein Hausmeister. 1595 zählte ein deutscher Reisender gleichzeitig mehr als 30, andere Passanten beobachteten den perversen Stolz von Adligen, wenn sie einen ihrer Vorfahren entdeckten. William Shakespeare dürfte gesehen haben, dass da ab 1606 auch Guy Fawkes hing, dessen Maske Jahrhunderte später der »Occupy Wall Street«-Bewegung ihr Gesicht gab. Das gefürchtete »Traitor’s Gate«, das Verrätertor, wurde zu einem Markstein der Geschichte, mit kontinuierlichem Widerhall bis in die -Gegenwart.
Im Anbruch der industriellen Revolution eröffnete das britische Königspaar 1831 einige Meter flussaufwärts eine neue Brücke aus Granitsteinen, die der Unternehmer Robert McCullough im Jahr der Studentenrevolte 1968 ersteigerte und im -Bundesstaat Arizona zur weltgrößten Antiquität zusammenfügen ließ. Er hatte zuvor mit Kettensägen ein Vermögen erwirtschaftet.
Exakt an der Stelle des Traitor’s Gate überragt nun das Building London Bridge No. 1 das Südufer der Themse. In seiner verglasten Fassade spiegeln sich die Kathedrale von St. Paul, aber auch die jüngsten Wolkenkratzer der City of London, die trotz der Brexit-Abstimmung eines der wichtigsten Finanzzentren des Erdballs bleibt. Zu den Mietern im postmodernen Bau, dessen vielstöckige Eingangshalle in poliertem rosa Granit selbst kathedrale Ehrfurcht gebietet, zählen die global aktive Anwaltsfirma Howard Kennedy und ein internationaler Ableger des -Finanzriesen Prudential Financial, die Pricoa Capital Group. Sie gehört weltweit zu den größten Unternehmen, die Firmen mit Privatkapital versorgen, »verbunden mit dem Appetit unseres Risikokapitals, das sich auf nachrangige Forderungen und Vorzugskapital stützt«, wie gerne verraten wird. 82 Milliarden -Dollar werden so gemanagt, immer auf der Jagd nach den größtmöglichen Renditen.1 Das entspricht knapp dem Staatshaushalt der Republik Österreich im Jahr 2018.
Bisweilen noch weit höhere Beträge kontrollieren die Investmentstars der Firma , die sich Büros im obersten Stockwerk gesichert haben. Dabei ist keine imposante Aktiengesellschaft wie Prudential Financial, sondern ein privates Unternehmen mit Hauptsitz in Boston, gegründet von Jeremy Grantham. Das Leitbild für die 550 Beschäftigten ist unmissverständlich: »Unser einziges Geschäft ist das Managen von Investitionen mit dem Ziel, überdurchschnittliche Erträge zu erzielen und unsere Kunden zu beraten.« Wie und wo die Milliarden investiert werden, erfahren nur die Geldgeber selbst. Wer als Privatperson dazu zählen möchte, muss mindestens fünf Millionen Dollar einbringen, institutionelle Anleger mindestens zehn. Selbst dann wird jeder Neueinsteiger handverlesen, denn die -Manager »sind stolz, global einigen der prestigeträchtigsten und anspruchsvollsten Investoren dienen zu dürfen«.2
James Montier ist der schillerndste Akteur unter ihnen. Am 3. Juni 2017 saß er nicht mehr an seinem Schreibtisch im zwölften Stock, als kurz nach 22 Uhr mitten auf der London Bridge drei Attentäter in einem weißen Lieferwagen auf den Gehsteig rasten, drei Passanten töteten und gegenüber dem Building No. 1 in einen Lichtmast krachten. Er hätte aus seinem Fenster mitverfolgen können, wie die Angreifer weiterliefen und mit ihren Messern wahllos auf Menschen einstachen. Weitere fünf starben, 48 wurden teils schwer verletzt. Der islamische Terror hatte den Krieg wieder einmal in die britische Metropole zurückgebracht.
Für Montier sind solche Anschläge noch weit entfernt von jenen fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen, die ihn inzwischen alarmieren. Ausgerechnet dieser vielfach gerühmte Finanzstratege benennt das ökonomische Modell, das so viele seiner Kunden und auch ihn reich gemacht hat, als Ursache für die großen politischen Verwerfungen der Gegenwart. In seinem sorgfältig gesicherten Computer kann Montier ein Grundsatzpapier aufrufen, das er gemeinsam mit einem Kollegen für seine Anleger verfasst hat und das keinen Zweifel lässt. »Der Neoliberalismus ist ein Projekt, das man so buchstabieren sollte: D. E. S. A. S. T. E. R« lautet eine fettgedruckte Überschrift.3
Niemand dürfe sich wundern, dass »die Bürger verschiedenster Länder rund um die Welt nach und nach aufgewacht sind und rebellieren«, so Montier. Es sei nachvollziehbar, dass »Menschen sich auf das Problem der Migration konzentrieren, um ihre Frustration mit dem gesamten System zum Ausdruck zu bringen«. Doch die wahre Ursache »ist ein kaputtes System von ökonomischen Vorgaben, eben der Neoliberalismus«. Er »kam Mitte der 1970er-Jahre auf, und vier wesentliche ökonomische Strategien kennzeichneten ihn: der Verzicht auf Vollbeschäftigung als ein wünschenswertes politisches Ziel und stattdessen Inflationssteuerung; eine verstärkte Globalisierung bei der Mobilität von Menschen, Kapital und beim Handel; die Maximierung des Shareholder Value statt neuer Investitionen und Wachstum; schließlich das Streben nach flexiblen Arbeitsmärkten und die Schwächung der Gewerkschaften.«
Doch die Bilanz dieser wirtschaftlichen Strömung, die seit der -Präsidentschaft Ronald Reagans und des Falls des Eisernen Vorhangs in zahllosen Staaten die intellektuelle und später auch politische Vorherrschaft übernahm, fällt für den so erfolgreichen Finanzspekulanten verheerend aus: »Der Neoliberalismus ist ein politisches und ökonomisches Projekt, das buchstäblich für Politik und Wirtschaft nicht schlechter hätte sein können. Die Rezepte, die er vorschreibt, sind hochgradig unpopulär und unzweckmäßig. Bürger geraten wegen des Verlustes von Arbeitsplätzen und früherer Stabilität sowie ihrer bescheidenen Einkommen ins Straucheln, während die Gesamtwirtschaft in die Instabilität und in die Stagnation kippt.«
Als ob der Vorsitzende der britischen Labour-Partei Jeremy Corbyn in die Tasten seines -Computers getippt hätte, fährt Montier fort: »Es ist auch ein Projekt, das nur wenigen auf Kosten der vielen nutzt. Es führt nicht nur zu einer verwöhnten Gesellschaftsschicht von High Income Individuals, also einzelnen Personen mit hohem Einkommen, sondern auch zu einer Schicht von abgehobenen Technokraten. Diese Abgehobenheit erlaubt ihnen, ihre törichten Grundsätze weiter zu verfolgen, die aber die Wirtschaft ins Chaos stürzen. Während dies geschieht, trösten sie sich mit der Behaglichkeit von ökonomischen Theorien, die der Wirklichkeit widersprechen.«
Dann wendet sich der in Investorenkreisen vielfach preisgekrönte Montier direkt an die Lebenswirklichkeit seiner Kunden: »Wenn im Establishment jetzt viele Menschen ihre Köpfe kratzen und fragen, warum sie in Ungnade gefallen sind«, so müsse klar sein, dass »die wachsende Ungleichheit mit jenen verknüpft ist, die von den steigenden Aktienkursen profitieren. In den besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung fast 40 Prozent aller Aktien, die privaten Haushalten gehören, die obersten zehn Prozent sogar 80 Prozent. Sie sind die Nutznießer der Shareholder-Value-Maximierung.«
Das Problem ist aber keineswegs nur »dieser Affront gegen jeden Sinn von Fairness«, so Montier, der auch an verschiedenen englischen Universitäten lehrt. »Die verbleibenden 90 Prozent haben eine viel größere Kauflust. Sie sparen praktisch nichts. Da sich aber Einkommen und Vermögen in den Händen von immer weniger Menschen konzentrieren, ist es auch wahrscheinlich, dass sich das Wirtschaftswachstum signifikant abschwächt, denn dieses eine Prozent legt 40 Prozent seines Einkommens zur Seite.«
Die Eigendynamik erfasst auch die Politik. »Populismus ist eine Antwort auf den Neoliberalismus. Es dauerte 40 Jahre, bis dessen wahre Auswirkungen sichtbar wurden. Aber jetzt, da sie sichtbar sind, sind sie dramatisch. Die meisten entwickelten Volkswirtschaften sind ausgehöhlt und nur noch leere...