Vorwort
Dieses Buch ist Rückblick und Ausblick zugleich. Der Blick zurück ist auf die Gründe und Entwicklungen gerichtet, die dazu geführt haben, dass die Demokratie nicht nur in Deutschland in die Krise geraten ist. Der Blick nach vorne spaltet sich auf, in ein Negativszenario und eine Vision, wie aus dem, was sich so krisenhaft darstellt, etwas Besseres entstehen kann, eine gerechtere, menschlichere, offenere, echte Demokratie.
Die Situation jedenfalls ist dramatisch: Die Grundlagen, Maßstäbe, Funktionsweisen und Werte der Demokratie stehen zur Disposition, und zwar nicht weit entfernt in Diktaturen, aufflackernd in den Abendnachrichten, sondern hier, im Zentrum und Herzen der westlichen Welt, die den eigenen Abstieg und Verlust von geopolitischem Einfluss verkraften muss – es überlagern sich, mit anderen Worten, verschiedene Krisen, Transformationsprozesse, Disruptionen, und das verbindende Gefühl ist, dass man auf einem Förderband steht, das sich in verschiedene Richtungen gleichzeitig bewegt. Das Ergebnis ist Verwirrung, und der angemessene Modus wäre der des permanenten Kopfschüttelns.
Da ertrinken Menschen im Mittelmeer, und Europa schaut zu. Da stehen Demonstranten auf Marktplätzen und rufen: »Absaufen, absaufen«. Da wird eine Partei in den Bundestag gewählt, deren Vertreter auf Geflüchtete schießen lassen, den politischen Gegner jagen oder »in Anatolien entsorgen« wollen und die den Holocaust relativieren. Da zerlegt ein sexistischer Zampano die amerikanische Republik, schon länger mehr Oligarchie als Demokratie, und verwandelt sie in eine medial manipulierte Kleptokratie, verleugnet die Grundlagen von Wissenschaft und Wahrheit, verkauft die Natur und damit die Zukunft des Landes und seiner Menschen dem Meistbietenden, hofiert Diktatoren, stigmatisiert die freie Presse. Wie ist es so weit gekommen?
Diese Frage steht im Zentrum dieses Buches. Was wir gerade erleben, die Verrohung der politischen Sprache und Praxis, die offene oder schleichende Entdemokratisierung, die Schwächung der Institutionen, der Finanzkapitalismus in seiner destruktivsten Form, die ökonomische Ungleichheit, der Abstieg der Mittelschichten, die Wut der Unterschichten, die Entkopplung der Reichen vom Rest der Gesellschaft, das Ressentiment, die Gereiztheit, der Rassismus, die Aggression gegen andere, Geflüchtete, Schwache und Menschen in Not, der Egoismus und die Kälte – all das hat eine Vorgeschichte, all das ist Teil einer Entwicklung, die unterschiedlich weit zurückreicht. Ein entscheidendes Datum für viele Veränderungen ist aber das Jahr 2008, das Jahr der Wahl von Barack Obama zum amerikanischen Präsidenten, das Jahr vor allem der Wirtschafts- und Finanzkrise, die Schwächen des gegenwärtigen Kapitalismus offenbarte und in der Folge die Demokratie nachhaltig schädigte.
Das Jahrzehnt von 2008 bis 2018 ist in diesem Buch zu besichtigen, die Jahre der Bankenrettung, der Euro- und der Griechenlandkrise, die Jahre von »too big to fail« und von »Schulden werden sozialisiert, Gewinne werden privatisiert«, die Jahre der Umverteilung von unten nach oben, der »marktkonformen Demokratie«, der Alternativlosigkeit und der Austerität, die Jahre, als mit großer Selbstverständlichkeit von der Spaltung der Gesellschaft gesprochen wurde und sich tatsächlich Gräben auftaten, die es vorher entweder nicht gegeben hatte oder die übersehen worden waren, die Jahre, in denen die Erde immer wärmer wurde und in Syrien ein Bürgerkrieg wütete, der erst dann wirklich zum Thema der Politik wurde, als die Geflüchteten auf einmal vor der eigenen Tür standen.
Es waren Jahre der Realitätsverdrängung im Merkel’schen Modus der Anti-Politik, die doch nur die weitgehende Weltabgewandtheit oder Weltverweigerung von wesentlichen Teilen der Öffentlichkeit und der Politik spiegelt, »the closing of the German mind«, eine Politik ohne Politik oder Prinzipien, die das Land in einen Schlaf versetzte und den demokratischen Diskurs zum Erlahmen brachte, der eh schon kurz vor dem Verschwinden war. Es waren aber auch Jahre des Realitätseinbruchs, eine Wiederkehr der Welt in Form von Angst und Terror, als der Krieg auf dem Umweg über die ehemaligen Kolonien in die Metropolen des Westens zurückkehrte, ein »Zeitalter des Zorns«, wie es der indische Denker Pankaj Mishra genannt hat, in dem sich Konflikte gegenseitig aufluden, die nicht erst seit Jahren oder Jahrzehnten, sondern oft seit mehr als hundert Jahren schwelten.
Und beides, die Verdrängung und die Rückkehr der Wirklichkeit, hing miteinander zusammen, das Sichtbare und das Unsichtbare, das Symbolische und das Reale. Da war das eine Schlüsselereignis jener Jahre, die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2008 voll durchschlug, Demokratie und Gesellschaft massiv veränderte und weitgehend ohne Bilder, Hauptakteure, Schuldige und damit ohne einschneidende öffentliche Wirkung stattfand, in vielerlei Hinsicht ein technokratischer Staatsstreich hinter verschlossenen Türen. Und da war die andere im Grunde unübersehbare Entwicklung jener Jahre, die Migration über das Mittelmeer, die stetig zunahm in den Jahren seit 2011, verdrängt und abgewehrt von einem Europa, das sich zur Festung verschloss, und es war eigentlich klar, dass sich so eine Abschottung nur durch die Preisgabe von demokratischen Werten aufrechterhalten lassen würde. Man kann die Grundrechte eben schlecht an die Außengrenzen exportieren.
»Moral« wurde ein Schimpfwort in den deutschen Debatten jener Jahre, der Islam wurde als Feindbild gefunden, wodurch sich Millionen von Deutschen fremd im eigenen Land fühlen mussten, Millionen von Deutschen, die mitgeholfen hatten, dieses Land nach dem Krieg wiederaufzubauen, und die sich nun sagen lassen mussten, dass sie wegen ihrer Religion nicht hierher gehörten oder genetisch minderwertig seien. Das war 2010, der Sarrazin-Schock, gefolgt 2011 von der Nachricht, dass rechte Terroristen jahrelang Deutsche mit griechischen oder türkischen Wurzeln gejagt und ermordet hatten – der Rassismus, der sich hier und in den Polizeiermittlungen zu diesen von den Ermittlern so genannten »Döner-Morden« gezeigt hatte, verbunden mit dem jahrelangen und am Ende unbefriedigenden Zschäpe-Prozess bis zum Urteil 2018, all das zeigte, wie sehr sich dieses Land von der an der Oberfläche so modernen BRD zu einem Land gewandelt hatte, in dem das Hässliche und Hassende wieder einen Platz und eine Stimme hatten.
Die AfD ist diese Stimme, sie ist die Partei der Rassisten, gegründet von Euro-Skeptikern und in den Tagen der Agitation gegen Geflüchtete und den Islam immer mehr nach rechts getrieben, übernommen von Leuten, die die Siege und die sogenannte Ehre deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg offen feiern und eine »geschichtspolitische Wende« wollen – ihr Ziel ist ein anderes Land, sie wollen ein Deutschland, das sich rassisch und kulturell homogen definiert, eine Fiktion immer schon, denn im Europa der Völkerwanderungen gibt es diese Homogenität nicht, gab es sie nie, sie ist immer ein Phantasma gewesen, und gefährlich wurde es in der deutschen Geschichte stets, wenn dieses Phantasma Politik wurde.
Vorbereitet, gefördert und flankiert wurde der Aufstieg der AfD, die mittlerweile etwa so stark ist wie die SPD, von einer Phalanx von Publizisten, Philosophen, Privatgelehrten, die die Veränderungen des Landes und implizit der Welt nicht hinnehmen wollen, die den Multikulturalismus ablehnen, also die deutsche Realität der Einwanderungsgesellschaft, und die mit paranoider Verstiegenheit einen linken Feind sehen, den es in dem moderaten Land nie gab, ein linkes Meinungsmilieu, das den Diskurs kontrolliere, so der Vorwurf – tatsächlich, und das ist eine wesentliche Entwicklung jener Jahre, war es genau umgekehrt: Der Diskurs wurde durch Leitartikel, Kolumnen und vor allem die Talkshows von ARD und ZDF Stück um Stück nach rechts verschoben, Feindbilder wurden gepflegt und Spaltungen in »die« und »wir« wurden vertieft, und der Dauervorwurf der »political correctness« hat eine direkte Verbindung zum rechtsextremen Denken der AfD.
Es war eine Art Arbeitsteilung, die sich auch in der Kampagne gegen Angela Merkel zeigte, seit 2005 im Amt und Symbolfigur dieser Epoche: Als die »Merkel muss weg«-Rufe der Pegida-Hetzer von bürgerlichen Leitartiklern und Meinungsmachern übernommen wurden, offenbarte sich eine fanatische und kopflose Bewegung, es war auch eine Form von Exorzismus der Merkel’schen Politik, der diese Meinungsmacher verfallen waren und der sie folgten, solange diese Politik ihren Interessen und Ansichten entsprach, in der Euro-Krise, im zunehmenden nationalen Egoismus, in der rigorosen und teils moralisierenden Haltung gegenüber Griechenland etwa. Als sich Merkel aber in eine andere Richtung bewegte, in dem Moment, als sie sagte: »Wir schaffen das«, da wandten sie sich ab und verfolgten die Kanzlerin mit Feuer und Zorn bis an den Rand der Lügen und darüber hinaus.
Da waren die, die Merkel eine »Volksverräterin« nannten, auf den Marktplätzen und mit verzogenen Fratzen, und da waren die, die von der »Flutung« des Landes sprachen, von »Gesetzesbruch« und von »Staatsversagen«, und diese Leute saßen in Redaktionen oder auf Lehrstühlen und bekamen Preise im Namen der Nation. Die Verschiebungen in diesem Land sind, mit anderen Worten, tiefgreifend, sie reichen weit hinein in ein kulturelles und medial-politisches Milieu, das eine andere Vorstellung davon hat, welches Land es will, und es war die Sprache, es waren Begriffe und Formulierungen, mit denen dieses Milieu mit großer Beharrlichkeit diese andere Realität herstellen wollte, die seiner Weltsicht entsprach: Da war vor allem der Begriff der »Grenzöffnung«, die es tatsächlich nicht...