Ich frage (werdende) Eltern in meinen Kursen immer, was ihrer Meinung nach eine glückliche Kindheit ausmacht. »Liebe« ist eine der häufigsten Antworten. Aber auch: gesehen zu werden, Berücksichtigung der Bedürfnisse, Zeit mit den Eltern zu verbringen, viel Körperkontakt, sich ausprobieren dürfen, keine Gewalt erleben. Betrachten wir diese Antworten, wird eines klar: All dies sind genau die Zutaten, die für den Aufbau einer sicheren Bindung wichtig sind. Eine glückliche Kindheit zu haben bedeutet, sichere Bindungen zu haben. Und andersherum: Eine sichere Bindung zu den Bezugspersonen ist eine gute Voraussetzung, damit die Kindheit als glücklich und geborgen erlebt wird.
Was bedeutet Bindung eigentlich?
Bindung, das ist das Zauberwort der Pädagogik und der Psychologie. Schließlich wird auf sie so vieles zurückgeführt: wie sich kleine Babys bewegen, wie viel Nähe sie brauchen, wie sie auf andere reagieren, ob die Eingewöhnung im Kindergarten langsam oder schnell verläuft. Natürlich auch, wie die Kinder Beziehungen zu anderen Kindern und Erwachsenen aufbauen, und schließlich, wie sie später ihre Partnerschaft leben. Bindung begleitet uns ein ganzes Leben lang und ist eine Grundbedingung für die Entwicklung. »Bindung vor Bildung«, schreibt der Kinder- und Jugendpsychiater Karl-Heinz Brisch und meint, dass Bindung die Basis für jedes weitere Lernen ist. Auf der Grundlage einer sicheren Bindung ist das Kind überhaupt erst fähig, neugierig und freudig die Welt zu entdecken.
Tatsächlich können wir uns Bindung vorstellen wie ein Band, das zwischen Kind und Eltern verläuft. Das, was wir zwischen unseren Kindern und uns spannen, ist individuell und einzigartig, ein unsichtbarer Faden von unglaublicher Intensität.1 Nicht austauschbar, nicht einfach zu einer anderen Person zu verlagern. Es ist das besondere Garn unseres Lebens, das wir verweben, mit vielen anderen Strängen zur Familie und zu Freunden. Es soll schließlich einen warmen und weichen Teppich ergeben, auf dem wir uns bewegen.
Es ist das Grundbedürfnis eines jeden Menschen, solche Bänder, einen solchen Teppich herzustellen. Doch schon hier fängt das »Kann« an, denn es sind ganz unterschiedliche Wege möglich: Die Person, an die sich das Baby bindet, muss nicht zwangsläufig eines der biologischen Elternteile sein. Es ist auch möglich, dass Adoptiveltern, Großeltern, Pflegeeltern oder andere Personen, die dem Baby Schutz und Zuwendung bieten, diese Bindungspersonen werden. Erste Bindung muss nicht weiblich sein. Zwar wird schon in der Schwangerschaft ein Band aufgebaut, doch ist dies zu Beginn des Lebens aufseiten des Kindes noch sehr variabel. Bei der Auswahl der Personen, an die sich das Baby bindet, ist es nämlich genetisch nicht festgelegt: Bevorzugt werden die Menschen, die eben am meisten Zuwendung zeigen und am stärksten verfügbar sind. Solche, die es nähren und am Leben erhalten. Das muss nicht jemand sein, der es wunderbar und optimal versorgt, sondern lediglich ein Mensch, der die Grundbedürfnisse nach Schutz und Pflege erfüllt. Bindung ist aufseiten des Neugeborenen erst einmal ein Sicherheitssystem, das das Überleben gewährleistet. Der Überlebensinstinkt des Babys ist so groß, dass es sich sogar an Menschen bindet, die nicht feinfühlig und sorgsam mit ihm umgehen, sondern es vielleicht nur gerade so in den Grundbedürfnissen versorgen. Nicht das Vorhandensein einer Bindung sagt also etwas über die Geborgenheit aus, sondern die Art, wie diese Bindung ausgestaltet ist. Dass Babys überhaupt eine Bindung eingehen, ist erst einmal reiner Überlebenstrieb. Jedes Kind hat irgendeine Art von Bindung zu den Hauptbezugspersonen.
Die vielen Arten der Bindung
Wie sich die Qualität der Bindung entwickelt, hängt davon ab, wie genau die Interaktion stattfindet und auf welche Weise das Baby umsorgt wird. Wird prompt, sicher und angemessen auf die Bedürfnisse eingegangen, kann sich eine sichere Bindung entwickeln. Zeigt die Bindungsperson aber stark schwankende Verhaltensmuster oder ist sie sogar ablehnend, bildet sich eine andere Art der Bindung aus, die sich wiederum darauf auswirkt, wie das Baby die Welt erlebt und später von sich aus Kontakte aufbaut. Es wird dann später selbst auch eher ambivalent sein.
John Bowlby und Mary Ainthworth haben in ihren Studien vier Bindungstypen identifiziert, die sich aus der Art, wie Eltern auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, ausbilden: die sichere Bindung, die unsicher-vermeidende Bindung, die unsicher-ambivalente Bindung und die desorganisierte Bindung. Wenn wir von bindungsorientierter Elternschaft sprechen, ist das Ziel, eine sichere Bindung zwischen Eltern und Kind aufzubauen. Hier bei uns ist diese Form bei etwa 60 bis 65 Prozent der Mutter-Kind-Bindungen anzutreffen. Das ist nicht viel. Es wäre schön und auch für die Gesellschaft wünschenswert, wenn es viel mehr wäre. Doch dieser Prozentsatz ist dem Umstand geschuldet, dass wir so mit Kindern umgehen, wie wir es nicht nur in der eigenen Familie, sondern auch im historisch und soziologisch gesetzten Rahmen erlernt haben und welche Ziele wir mit »Erziehung« verfolgen. Je mehr wir verstehen, welch wichtige Bedeutung die Bindung von Anfang an hat und mit welch kleinen Veränderungen man Einfluss nehmen kann, umso intensiver können wir Bindung aufbauen und umso mehr nähern wir uns einer letztlich für alle besseren Zukunft an.
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Die Bindungstheorie
Der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker John Bowlby (1907 bis 1990) ist der Begründer der Bindungstheorie. Entgegen den Annahmen der Kollegen seiner Zeit, die nach Sigmund Freud psychische Störungen auf innere Konflikte zurückführten, kam Bowlby zu der Überzeugung, dass die frühen Umwelterlebnisse, also äußere Faktoren und insbesondere die Bindungserfahrungen des Kindes, die psychische Entwicklung beeinflussen. In der Abteilung für Kinderpsychotherapie einer Londoner Klinik beobachtete er nach Kriegsende die traumatischen Auswirkungen von Trennung von oder Verlust der Bindungspersonen auf Kinder. Eine von ihm im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) durchgeführte Studie über die hohe Säuglingssterblichkeit der Nachkriegszeit in europäischen Waisenhäusern unterstützte seine These, dass mangelnde Beziehungen und Bindungen verletzende bis tödliche Auswirkungen auf Kinder haben.
Seine Mitarbeiterin Mary Ainthworth entwickelte 1970 den »Fremde Situation«-Test: einen Test für Mutter und Kind, durch den das Bindungsmuster bestimmt werden kann. Neben den drei ursprünglichen Mustern, »sichere« Bindung, »unsicher-vermeidende« und »unsicher-ambivalente«, kam etwas später die »desorganisierte« Bindung dazu, die bei Beziehungen mit traumatisierten Eltern auftritt.
Auf Basis der Studien beider Forscher hat sich die Sicht auf das Kind und die Beziehung zwischen Bindungsperson und Kind revolutioniert. Die Bindungstherapie wurde in den folgenden Jahren aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln untersucht und weiterentwickelt und bildet heute die Basis für viele Konzepte der pädagogischen und psychologischen Betrachtung. Es ist mittlerweile unumstritten, dass die frühen Bindungserfahrungen das Fundament der seelischen Entwicklung bilden.
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Bei der angestrebten sicheren Bindung kann das Kind seine Bedürfnisse äußern und bekommt verlässliche, prompte und angemessene Antworten darauf. Auf dieser Basis entwickelt sich ein grundlegendes Vertrauen, das auch später Beziehungsmuster prägt und die Basis für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung bildet. Sicher gebundene Kinder verfügen meist über mehr Empathie, Flexibilität und Kreativität, sind ausdauernder und lernen leichter. Mit der Zeit wird das Band immer fester, auf Basis dessen, was das Kind erlebt.
Wenn die Kommunikation aber gestört ist und Bindungspersonen unzuverlässig auf die Bedürfnisse des Babys reagieren, wird das Kind dieses Vertrauen nicht aufbauen und seinerseits auch weniger sichere Bindungen eingehen können. Es wird zwischen der unsicher-vermeidenden Bindung und der unsicher-ambivalenten Bindung unterschieden. Eine unsicher-vermeidende Bindung kann entstehen, wenn auf die Bedürfnisse von Babys in den Situationen, in denen sie Sicherheit und Schutz benötigen, nicht angemessen mit Zuwendung reagiert wird, sondern sie mit diesem Bedürfnis allein gelassen werden und selbstständig damit umgehen sollen. Sie erfahren dann, dass sie von ihren Bindungspersonen nicht ausreichend versorgt werden und vermeiden mit der Zeit zunehmend das Einfordern von Unterstützung, Nähe und Zugewandtheit. Die unsicher-ambivalente Bindung kann durch zwiespältige Signale entstehen: Einerseits wird in den Situationen, in denen das Baby liebevolle Zuwendung benötigt, diese auch durch Körperkontakt gegeben, gleichzeitig aber beispielsweise verbal oder durch die Körperhaltung signalisiert, dass diese intensive Zuwendung unerwünscht ist: Das Baby wird getröstet, bekommt aber gleichzeitig gesagt, dass es sich nicht so aufregen soll, dass es nun aber genug sei oder es keinen Grund habe. Hierdurch fällt es dem Kind besonders schwer, sich schnell wieder zu beruhigen. Das Erkundungsverhalten von unsicher-ambivalent gebundenen Kindern ist eingeschränkt, da die oft ängstlichen Bindungspersonen ihnen vermitteln, dass das Erkunden zwar interessant, aber auch gefährlich sei. Gibt es bei der Erkundung Probleme, weiß das Kind, dass es von der Bindungsperson zwar getröstet, gleichzeitig aber auch für schuldig erklärt wird und vermeidet daher das Erkunden gänzlich. Beide unsicheren Bindungsmuster können sowohl die psychische als auch die kognitive und...