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E-Book

Gebrauchsanweisung für Berlin

2. aktualisierte Auflage 2016

AutorJakob Hein
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783492970389
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Der echte Berliner ist wie ein glücklich Verliebter, er ruht in sich, seine Welt ist abgeschlossen. Was soll es auch groß zu sagen geben? Berlin ist die beste Stadt der Welt. Stimmt vielleicht sogar, schließlich ist die ganze Welt zu Gast. Denn Berlin ist im Fokus, nicht nur im politischen. Die Stadt wandelt sich wie keine andere, Ost und West sind Geschichte, Flughäfen werden geöffnet und geschlossen, die In-Viertel wechseln beinah so schnell wie die angesagten Lokale. Aber einiges bleibt dann doch gleich, und auch darauf wirft der Fast-Berliner Jakob Hein einen einsichtsreichen und humorvollen Blick, er lauscht der Berliner Schnauze und flaniert durch die Viertel, er kostet Döner und Currywurst und genießt die Kunst. Am Ende wissen Sie, was es heißt, wenn einer sagt: Ick bin ein Berliner.

Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, wuchs in Berlin auf, wo er heute als praktizierender Arzt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt. Neben den Bestsellern »Mein erstes T-Shirt«, »Formen menschlichen Zusammenlebens« und »Herr Jensen steigt aus« erschienen unter anderem von ihm sein autobiografisches Familienporträt »Vielleicht ist es sogar schön«, »Gebrauchsanweisung für Berlin«, »Antrag auf ständige Ausreise«, »Der Alltag des Superhelden«, »Vor mir den Tag und hinter mir die Nacht« und der Roman »Liebe ist ein hormonell bedingter Zustand«.

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Leseprobe

Kommse rin, könnse rauskiekn!


Ich hab noch einen Koffer in Berlin

der bleibt auch dort, und das hat seinen Sinn

auf diese Weise lohnt sich die Reise

und wenn ich Sehnsucht hab, dann fahr ich wieder hin.

Text: Aldo v. Pinelli/Musik: Ralph M. Siegel (1951)

Schon bevor Sie das Stadtgebiet Berlins mit eigenen Füßen betreten, könnten Sie fast alles über diese Stadt wissen. Besonders wenn Sie mit dem Flugzeug kommen, landen Sie mittendrin in allem, was Berlin ausmacht. Denn normalerweise hätten Sie auf dem neuen Zentralflughafen Berlin-Brandenburg International landen müssen. Seit 1991 läuft das Planungsverfahren für einen neuen, größeren Berliner Flughafen, der die drei bisherigen Flughäfen Tegel, Tempelhof und Schönefeld ablösen sollte. Vernünftig wäre es gewesen, diesen Flughafen auf dem weiten Brandenburger Land, etliche Meilen außerhalb des Stadtgebiets, zu bauen, so wie das alle anderen Großstädte tun. Aber wie der berühmte Berliner Schwabe Brecht gesagt hat: »Kein Vormarsch ist so schwer wie der zurück zur Vernunft.«

Als Zugeständnis an die Taxiunternehmer und aufgrund von lokalen Befindlichkeiten (ein Berliner Flughafen muss auf Berliner Grund und Boden stehen, was, wenn die Russen wiederkommen?) setzte der CDU-Senat unter dem Bürgermeister Diepgen die Planung für Schönefeld durch – bis zur Eröffnung war es ja noch viele Wahlperioden hin. Und tatsächlich fielen erst Diepgens Nachfolger Wowereit die Probleme auf die Füße, die sich aus dem Bau eines Flughafens mitten in einem städtischen Ballungsraum ergeben. Vermeintlich war das Flughafendesaster sogar ein wesentlicher Grund für dessen Rücktritt. Es scheint fast kein Detail zu geben, das bei der Flughafenplanung glatt gelaufen wäre. Es stellte sich sogar heraus, dass der vorgesehene internationale Flughafencode BBI, mit dem man jahrelang Werbung gemacht hatte, schon seit Jahrzehnten an einen Provinzflughafen im Osten Indiens vergeben ist.

Der absolute Tiefpunkt war schließlich im Juni 2012 erreicht. Nach sechsjährigen Bauarbeiten sollte der Flugbetrieb am Abend des 2. Juni in Tegel und dem alten Schönefelder Flughafen eingestellt und der neue Flughafen am Morgen des 3. Juni 2012 eröffnet werden. Zu diesem Zweck waren 3000 LKWs angemietet und eine fünfstündige Sperrung der Stadtautobahn beantragt worden. Das alles hinderte die Stadt natürlich nicht daran, für den 3. Juni außerdem eine große Fahrradsternfahrt zu genehmigen, für die der Autoverkehr in der Innenstadt zu weiten Teilen lahmgelegt werden musste.

Kurzum: In der Hauptstadt des Zuspätkommens, der Heimat der Nieselprieme und Arbeiterdenkmäler sollte ein logistischer Weltrekord gestemmt werden, den sich selbst disziplinierte Völker in Asien oder Süddeutschland nicht zugetraut hätten. Statt eines Weltrekords legte Berlin eine historische Bauchlandung hin: Drei Wochen vor der Eröffnung wurde alles abgesagt, und selbst drei Jahre nach der geplanten Eröffnung zeichnet sich nicht ab, wann jemals die Eröffnung stattfinden wird, ernsthafte Stimmen bezweifeln schon längst, ob jemals ein Flughafen dort entstehen wird, wo jetzt die Gebäude vor sich hinmodern. Dabei wurde das ganz große Desaster sogar noch durch die Insubordination einer misstrauischen Mitarbeiterin verhindert: Sie beantragte die Verlängerung der Betriebserlaubnis für den Flughafen Tegel über den Juni 2012 hinaus. Denn wäre die ausgelaufen, hätte man sich einem Monate währenden Neugenehmigungsverfahren unterziehen müssen.

Zum Glück haben Sie jedoch aktuell noch die Wahl, ob Sie mit dem Flugzeug auf einem der immerhin zwei derzeit in Betrieb befindlichen Flughäfen einfliegen, ob Sie mit der Bahn auf einem der dreizehn Fern- und Regionalbahnhöfe2 eintreffen oder ob Sie mit dem Auto nach dem Überqueren der Stadtgrenze noch etwa eine Stunde auf der Autobahn unterwegs sind, bis Sie Ihr Ziel erreichen. In diesem Fall werden Sie sogar Zeuge eines Geheimnisses, das man in Berlin nur sehr schwer vor der Außenwelt verbergen kann. Wenn Sie auf der Autobahn fahren und plötzlich vor der Entscheidung stehen, ob Sie die Ausfahrt »Berlin-Zentrum (Zoo)« nehmen oder ob Sie noch geradeaus weiterfahren in Richtung »Berlin-Zentrum (Alexanderplatz)«, dann wird es offensichtlich: Die Stadt Berlin gibt es nicht.

Das sollte einen aber nicht dazu bewegen, auf dem Absatz kehrtzumachen und den langen Weg zurück nach Hause anzutreten, um dort das Reisebüro auf Schadensersatz zu verklagen. Denn natürlich gibt es so etwas wie »Berlin«, aber das Ganze ist eben nicht eine Stadt, sondern ganz viele Städte. Dieses Leitmotiv wurde schon bei der Stadtgründung eingeführt. Die Siedlung an der Spree wurde um 1230 von Anfang an als Doppelstadt Berlin-Cölln in den märkischen Boden gesetzt. Obwohl beide Städte von einer gemeinsamen Stadtmauer umgeben waren, hieß die Siedlung um das Nikolaiviertel nördlich der Spree Berlin, die Siedlung um den Molkenmarkt und die Fischerinsel nannte man Cölln. Während der letztere Name wohl am ehesten auf Sentimentalität der Bewohner zu ihrer alten Heimat am Rhein zurückzuführen ist, gibt es keine schlüssige Erklärung für den Namen Berlin. Da die Stadt ins Sumpfland gesetzt wurde, vermutet man, dass die slawische Bezeichnung barl  (Sumpf) den Wortkern bildet. Die Berliner lösten das Problem auf typisch pragmatische Weise: Sie wählten ab 1280 kurzerhand den Bären als ihr Wappentier und hatten fortan eine gute Erklärung für den Namen und einen guten Widerpart zum Cöllner Adler.

Mit dem Wachstum der Stadt wurden nach und nach auch die Siedlungen jenseits der Stadtmauer mit in das entstehende Gebilde Berlin einbezogen. Dennoch führte das nie dazu, dass diese neu eingemeindeten Orte ihre Eigenständigkeit völlig aufgaben. Ganz im Gegenteil: Bis heute gibt es eine Spandauer und eine Köpenicker Altstadt. Das Leben Neuköllns spielt sich rund um den Hermannplatz ab, der wichtigste Weißenseer Bezugspunkt ist der Antonplatz. Jeder Stadtteil hat sein eigenes Fest, seine eigenen Sehenswürdigkeiten und sogar so etwas wie eine eigene Mentalität. Daher gibt es in Berlin mehr als acht »Berliner Straßen« und immerhin drei »Königswege«. Dieser Umstand ist eine wichtige Einnahmequelle für die Berliner Taxifahrer. Setzt sich der erkennbar Ortsfremde ins Taxi und wünscht, in die Fontanestraße gefahren zu werden, wird der geschäftstüchtige Taxifahrer diejenige der sechs Berliner Fontanestraßen ansteuern, die am weitesten von seinem aktuellen Standort entfernt ist.

Zwischen vielen Bezirken, also mitten in der Stadt, gibt es sogar so etwas wie Stadtränder. Hier stehen plötzlich Kleingartensiedlungen und große Einkaufszentren mit Parkplätzen, sodass man meinen könnte, die Stadt schon verlassen zu haben, bis dann plötzlich der nächste Bezirk folgt.

Die einzelnen Bezirke teilen sich noch in kleine Unterbezirke auf, die irgendwann im Rahmen von Reformen zusammengeschlossen wurden und so klingende Namen wie »Französisch Buchholz« oder »Pichelsberg« tragen. Die Bewohner dieser Bezirke legen größten Wert auf diese Bezeichnungen, so wird kein Rudower freiwillig zugeben, dass er eigentlich im Bezirk Neukölln wohnt. Den aktuellen Rekord hält dabei der Bezirk Treptow-Köpenick, der fünfundzwanzig offiziell ausgewiesene Unterbezirke führt. Und diese zerfallen schließlich in kleine Viertel, die sich meist um einen zentralen Platz oder die wichtigste Straße herum gruppieren.

»Kiez!«, werden Sie jetzt vielleicht ausrufen. »Diese Viertel heißen in Berlin doch Kiez!« Ja, früher konnte man ohne schlechtes Gewissen »Kiez« zu jenen Wohnvierteln sagen. Aber mittlerweile ist dieser Begriff so von Immobilienmaklern, Politikern und anderen Sprachzerstörern vereinnahmt worden, dass man als Berliner schon keine Lust mehr hat, den Begriff überhaupt noch zu benutzen. Was früher einfach nur »mein Viertel« hieß, ist heute auf Dutzenden Wahlplakaten, Werbesendungen und Bürgeransprachen verkommen. Wer »Kiez« sagt, meint heute häufig: »Hallo, wir kommen zwar mit einem schicken Auto und fahren damit nachher wieder zu unseren Villen nach Schmargendorf oder doch gleich nach Westdeutschland nach Hause, aber jetzt machen wir mal einen auf Volksnähe, um euch primitiven Eingeborenen irgendwelche Glasperlen zu verkaufen. Kiezkultur, Kiezbüro, Kiezberatung. Kiez! Kiez! Kiez!«

Schade um den »Kiez«, war eigentlich mal ein schöner Begriff.

Natürlich müssen alle Berliner zähneknirschend zugeben, dass die größten Sehenswürdigkeiten der Stadt und die meisten Touristen in dem Bezirk sind, der heute Mitte heißt und der das gesamte Gebiet der alten Doppelstadt Berlin-Cölln und noch etwas mehr umschließt (seit der letzten Bezirksreform sogar den alten Wedding). In Mitte führt »Unter den Linden« auf das Brandenburger Tor zu, hier stehen Fernsehturm, Bode-, Pergamon- und Altes Museum, zwei Opern, Deutsches Theater und Berliner Ensemble. Dennoch wird der Steglitzer trotzig ausrufen: »Aber bei uns ist es auch schön!«

Die Stadt Berlin ist mithin ein Mikromodell des Föderalismus; wer wissen will, wie das geht, dass Türken, Westafrikaner, Ostasiaten und sogar West- und Ostdeutsche gemeinsam auf einem Gebiet leben, der sollte diese Stadt studieren. Wer sich ihr nähern will, tut das am besten, indem er von außen nach innen vorgeht, vom Stadtrand zur Mitte.

Berlin ist umgeben von einer homogenen Zone von Reihenhaussiedlungen, dem sogenannten Speckgürtel, der auf brandenburgischem Hoheitsgebiet steht. In den Reihenhäusern wohnen Berliner, die der Strahlkraft der Wüstenrot-Sonne gefolgt sind. Sie arbeiten in der...

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