Salve!
Es war 1970, das Jahr, in dem der Rüsselsheimer Automobilhersteller Opel für sein neues, familientaugliches Mittelklassemodell den beinahe magischen Namen Ascona wählte, diese Suggestion einer kontrollierten Exotik, als ich mit meinen Eltern den ersten Urlaub meines noch jungen Lebens im Tessin verbrachte.
Ich war viel zu klein, um im Lago Maggiore schwimmen zu dürfen, also thronte ich im unmittelbar an den See stoßenden Garten unseres Ferienhäuschens in San Nazzaro in einem aufblasbaren Planschbecken und freute mich, beschattet von einer Tessinerpalme, die trotz ihres Namens aus dem fernen China stammt, über ein Blöckli Glacé aus der Migros, hergestellt aus feinstem Schweizer Rahm. Oder über eine orange-weiße Rakete, ein Wassereis mit Schokoladenüberzug an der Spitze, das im Jahr zuvor anlässlich der ersten Mondlandung auf den Markt gekommen war und für dreißig Rappen im nahe gelegenen Kiosk verkauft wurde.
Der unbezahlbare Blick, den ich hätte genießen können, wäre ich nicht mit dem Schleckeis und meiner Spritzpistole beschäftigt gewesen, ist bis heute derselbe: Am gegenüberliegenden Ufer erspäht man linker Hand Ronco sopra Ascona, das malerisch auf einer Felsterrasse über dem See liegt, und die vorgelagerten Brissago-Inseln, auf denen einst der deutsche Kaufhauskönig Max Emden proklamierte, auch Leben sei eine Kunst, und sich eines lustbetonten Daseins in Gesellschaft junger Damen erfreute. Rechts daneben das »Weltdorf« Ascona, zur Wirtschaftswunderzeit das bevorzugte Domizil einer von den Einheimischen kritisch beäugten, millionenschweren transalpinen Schickeria aus Filmstars und Unternehmern, die dort eine einzigartige Kombination aus italienischer dolce vita und helvetischer Zuverlässigkeit sowie nicht zuletzt beträchtliche Steuervorteile genossen. Darüber erhebt sich der Monte Verità, trotz seines Namens ein mickriger Hügel, auf dem nach der Wende zum 20. Jahrhundert vegetarische Sexualasketen, nackte Sonnenanbeter, okkultistische Scharlatane und Edelanarchisten mit alternativen Lebensentwürfen experimentierten. Lässt man den Blick weiter schweifen, sieht man das grüne Maggiadelta und an seinem Ostrand Locarno, dessen Filmfestival zwar nur das drittälteste, dafür aber das charmanteste der Welt ist.
Mein Interesse an bewegten Bildern beschränkte sich damals freilich auf Kindersendungen wie »De Tag isch vergange«. Dass ich lebensreformerisch im »Luftkleid« planschte, war mir nicht bewusst. Und für das mediterrane Ambiente, das mich umgab, hatte ich wenig Sinn. Wahrscheinlich besitze ich gar keine wirklichen Erinnerungen an diese ersten Ferien meines Lebens, sondern habe nur die längst rotstichigen Aufnahmen vor Augen, die meine Mutter vor einem halben Jahrhundert mit Fotoecken auf die durch Spinnenpapier getrennten Kartonseiten eines Albums klebte. Und die Erzählungen meines Vaters im Ohr, den zwei Jahrzehnte vor mir gleichfalls die allererste Urlaubsreise ins Tessin geführt hatte. Als Teenager hatte er in den 1950er-Jahren mit einer kirchlichen Jugendgruppe in Caslano gezeltet und war der Schönheit der Gegend und – in aller Unschuld, wie er nachdrücklich betont – der Pfarrerstocher im Nachbarzelt verfallen. Seitdem war er immer wieder über den Gotthardpass in die klimatisch begünstigte Sonnenstube der Schweiz kutschiert, erst allein, dann gemeinsam mit meiner Mutter und bald auch mit mir. Solange es meinen Eltern gesundheitlich möglich war, gehörte es zu ihrer Jahresroutine, jeweils im Frühjahr und im Herbst ein, zwei Wochen im Locarnese zu wandern.
Kein Wunder, dass das Tessin auch für mich ein Sehnsuchtsort wurde, den ich, mal abgesehen von einigen Pubertätsjahren, in denen mir das vermeintliche Rentnerparadies »uncool« schien, regelmäßig aufgesucht habe und heute öfter denn je genieße. Zumal man dank des 2016 eröffneten Gotthard-Basistunnels mit dem Zug von meiner Heimatstadt Basel kaum mehr als drei Stunden benötigt, um sich wintermüde an blühenden Kamelien, Magnolien und Azaleen zu erfreuen, während einen zu Hause ein Wollschal wärmen muss.
Solche Gegensätze findet man wie nirgendwo sonst in der Schweiz auch innerhalb des Kantons selbst, der seine einzigartige Anziehungskraft aus diesen Spannungen schöpft: Palmen, Agaven, Olivenhaine und das ewige Eis der Gletscher. Beschauliche Uferpromenaden, die zum Flanieren einladen, und schroffe Gebirge, durchfurcht von steilen Tälern. Designer-Outlets und Bauernmärkte. Häuser in Terrakotta, Rostrot und Rosé, Safran- und Vanillegelb, bei deren Anblick man sich in Italien wähnt, und pittoreske Bruchstein-Rustici mit Dächern aus Gneis. Im Kontrast zur Einsamkeit entvölkerter Alpentäler mit Dörfern, die wie aus der Zeit gefallen wirken, stehen der raumplanerische Sündenfall der Magadinoebene mit ihrem Siedlungsbrei aus gesichtslosen Wohn- und klotzigen Infrastrukturbauten, die weder Hochglanzbilder noch Historie zu liefern haben, die desaströs verbaute Finanzmetropole Lugano, mit rund 65000 Einwohnern die neuntgrößte Stadt der Schweiz, und die täglichen Staus auf den Zufahrtsstraßen. Kaum ein Kanton verzeichnet pro Einwohner mehr Autos, und nirgends wird mehr Benzin verbraucht, dazu kommen täglich rund 65000 frontalieri, Grenzgänger aus Italien, die über ein Viertel aller Erwerbstätigen im Tessin ausmachen. Hochkarätige Festivals und Events erfreuen Cineasten, Jazzfans und Klassikfreunde. Kirchen, Museen und Galerien ergötzen Kunstinteressierte. Konsumtempel ködern Kaufwütige, doch ein paar Kilometer entfernt präsentiert sich die Welt so rau und menschenleer, wie es sich die eingefleischtesten Naturfreaks erträumen.
Die Nähe zum Land, wo im dunklen Laub die Goldorangen glühn, ist nicht nur eine geografische. Fast fühlt man sich in Bella Italia, aber eben nur fast, die Italianità ist gezähmt. »Plötzliches Italien«, notierte Franz Kafka in sein Reisetagebuch, als er 1911 per Bahn den Gotthard durchquert hatte und das Tessin erreichte. »Später verschwindet das Italienische, oder der Schweizer Kern tritt vor.« Tatsächlich gehen im südlichsten Teil Helvetiens italienische Lebensfreude und alemannische Perfektion eine einzigartige Symbiose ein, das süße Leben ist geregelt, alles verlässlich. Züge kommen auf die Minute pünktlich, Automobilisten fahren durch die Stadt, ohne zu hupen, und lassen an Zebrastreifen Fußgängern tatsächlich den Vortritt. Und viele Hundehalter benutzen auch ohne gesetzliche Hundekotaufnahmepflicht die tütenspendenden grünen »Robidogs«, um die Hinterlassenschaft ihres treusten Kameraden zu entsorgen. Zudem darf man sich im Tessin sicher fühlen. Vergisst man seine Tasche im geparkten Auto, findet man sie in der Regel auch am nächsten Morgen noch vor, und man kann gefahrlos mitten in der Nacht durch die finstersten Gegenden spazieren; Kriminalität ist kein ernsthaftes Problem. Das Tessin ist ein Paradies, das funktioniert. Schweiz halt, aber mit italienischem Flair. Und überdies sonnig, aber nicht drückend.
Für mich heißt Tessin:
Im Frühling unter den knorrigen Platanen der Piazza Giuseppe Motta, der Asconeser Uferpromenade, den Straßenmusikern lauschen. Mit einem Schiff der Navigazione Lago Maggiore auf die Isola di San Pancrazio übersetzen und 1700 Pflanzenarten aus aller Welt bestaunen, die dort dank des milden, insubrischen Klimas mit verschwenderischer Blütenpracht gedeihen – dem mit einer Jahresmitteltemperatur von 14 Grad Celsius wärmsten der gesamten Schweiz. Sie dürfen sich aber nicht nur über 2300 Sonnenstunden jährlich freuen, während sich die Pflanzen in Basel oder Berlin mit zwei Dritteln davon begnügen müssen, sondern auch über doppelt so viel Regen, der besonders reichlich im Mai, Oktober und November fällt.
Im Sommer ein pedalò, ein Tretboot, mieten, hinaus auf den See fahren und im perfekt temperierten Wasser schwimmen. Oder durchs Verzascatal wandern, bei Lavertezzo in den eiskalten, smaragdgrünen Fluss springen und auf den glatt polierten Felsen in der Sonne brutzeln. Und dann durstig den Bügelverschluss eines Fläschchens Gazosa öffnen, der kohlensäurehaltigen Zitronenlimonade, die zumindest an heißen Tagen wie selbst gemacht schmeckt und früher champagne dei poveri genannt wurde, Champagner der Armen. Abends in einem Grotto einen Merlot aus dem boccalino trinken, jenem kleinen, bauchigen Tonkrug mit Henkel, der auch als kitschiges Tessinsymbol dient, oder aus einer einfachen Tasse ohne Henkel, dem tazzin. Oder stattdessen, falls es gerade die Zeit des »Locarno Festival« ist, unterm Sternenhimmel gemeinsam mit 8000 anderen Filmfans eine Vorführung auf der Piazza Grande erleben, dem schönsten Freiluftkino der Welt, dessen Leinwand mit 26 mal 14 Metern Europas größte ist (und seit 2017 die Rückseite der roten Zwanzig-Franken-Note ziert). Und während in Cannes oder Venedig die Stars hinter Absperrungen im Blitzlichtgewitter posieren, kann es einem in der entspannten Atmosphäre Locarnos widerfahren, dass man Juliette Binoche oder Daniel Craig in einer Bar begegnet.
Im Herbst beim Spaziergang durch goldgelb leuchtende Wälder die Kastanien fallen hören und eine castagnata besuchen, ein Kastanienfest, wie es im Oktober fast überall gefeiert wird. Am liebsten ist mir die Festa delle Castagne in Ascona, bei der, begleitet von Volksmusik, über 2000 Kilogramm der Nussfrucht, die über Jahrhunderte als das »Brot der Armen« im Tessin galt, auf offenen Feuern geröstet, aber auch andere Köstlichkeiten von der Kastanienmarmelade bis zum Kastanieneis angeboten werden. Dann, marronigesättigt, im Museo Comunale d’Arte Moderna – zum wievielten Male? – die...