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Gebrauchsanweisung für Frankfurt am Main

AutorConstanze Kleis
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783492994507
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wie beeindruckt man eine Frankfurterin? Was haben Goethe und der Eiffelturm gemeinsam? Und wie konnte ausgerechnet »Handkäs mit Musik« zum kulinarischen Aushängeschild der internationalen Finanzmetropole werden? Vom Rummelviertel Sachsenhausen über »das lustige Dorf Bernem« bis ins elegante Westend: Constanze Kleis führt durch ihre Wahlheimat. Sie befasst sich mit der Weltkarriere eines Würstchens, Deutschlands einziger Skyline und des Pudels Kern. Sie berichtet, wie sich die Frankfurter an der neuesten Altstadt Deutschlands erfreuen und sich auf die Folgen des Brexit vorbereiten. Von der Frankfurter Schule, der Gentrifizierung und dem friedlichen Zusammenleben von 180 Nationen - ja, sogar in den Schrebergartenvereinen.

Constanze Kleis arbeitet als freie Journalistin in Frankfurt unter anderem für die FAZ und Magazine wie Donna, myself, Für Sie und Elle. Gemeinsam mit Susanne Fröhlich schrieb sie mehrere Bestseller, u.a. »Runzel-Ich« und »Diese schrecklich schönen Jahre«. Bei Piper erschienen von ihr die »Gebrauchsanweisung für Frankfurt am Main«, die »Gebrauchsanweisung für Weihnachten« und »Sonntag!«

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Leseprobe

Der Anfang von allem


Frankfurt ist alt. Das muss man gleich zu Beginn sagen. Es wird leicht vergessen. Keine Stadt wirkt so zukunftsorientiert und gegenwartsfixiert wie die Mainmetropole. Als hätte sie sich vorgenommen, auf ewig Skateboard zu fahren und standhaft den Seniorenteller zu ignorieren, der – gemessen an ihrer Geschichte – eigentlich passender wäre. Natürlich gibt es ausreichend Zeugen der Vergangenheit. Solche, die die Geschichte leidlich unbeschadet überlebten wie die Justinuskirche in Höchst, eine der ältesten Kirchen Deutschlands. Und solche, die die Stadt hat gleich wiederauferstehen lassen aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs wie den Dom oder die Paulskirche.

Aber es ist vor allem die gerade eröffnete neueste Altstadt Deutschlands, mit der Frankfurt zeigt, dass man hier souverän sogar die Vergangenheit noch nachbessert und dem Gesamtbild einer modernen und enorm aufstrebenden Metropole anpassen kann. Es mag an dem kleinen, aber gewichtigen Wörtchen »frei« liegen, das die Stadt wie ein roter Faden durch die Jahrtausende geleitet. Im Gefolge die üblichen Begleiterscheinungen: Eigensinn, Beharrungsvermögen, Widerstandsgeist, Lust am Disput, aber auch ein so tief sitzender Unabhängigkeitsdrang, dass es schon etwas Genetisches sein muss. Wenn es ausgerechnet ein König war, der Frankfurt dies Marschgepäck für alle Zeiten als gutes Omen mit auf den Weg gab, ist das auch typisch für die Stadt. Hier legte man »frei« immer schon radikal so aus, selbst gegen die Obrigkeit keinerlei Vorurteile zu hegen.

Karl der Große, so will es die Legende, soll auf der Flucht vor den Sachsen an den Main gekommen sein. Dichter Nebel lag über dem Fluss. Die Flüchtenden konnten den Übergang nicht erkennen, und Karl flehte zu Gott. Der schickte ihm eine weiße Hirschkuh mit ihrem Kalb, die den Flüchtenden die Furt wies. Karl nannte den Ort daraufhin »Francofurd«.

Das ist die Legende. In Wahrheit ist über eine Schlacht zwischen Franken und Sachsen zu dieser Zeit nichts bekannt. Verbrieft ist allerdings durch die erste städtische Urkunde, datiert vom 22. Februar 794, wie Frankfurt von Anfang an Widerspruchsgeist in die DNA geschrieben wurde. Aus Trotz, weil man ihn nicht eingeladen hatte, hielt Karl der Große in Frankfurt eine Gegenveranstaltung zum Zweiten Konzil von Nicäa ab. Man befasste sich mit dem Bilderstreit und mit Ordnungsfragen von internationaler Bedeutung. Damit hatte Frankfurt nicht nur seinen ersten Beitrag zur internationalen Kulturpolitik geleistet, sondern war auch als Meet-and-Greet- und als Business-Stadt entdeckt worden.

Fortan kam es immer wieder zu hochkarätigen Versammlungen der deutschen Könige. Die gekrönten Häupter fühlten sich offenbar so wohl in Frankfurt, dass sie bald einen hochoffiziellen Grund für ihren Besuch fanden: Frankfurt wurde Krönungsstadt. Bestätigt wurde das durch die berühmte Goldene Bulle, herausgegeben im Jahr 1356, mit der Kaiser Karl IV. Frankfurts Recht, Wahlstadt des Reiches zu sein, festlegte. Das wichtigste Verfassungsdokument des Heiligen Römischen Reiches behielt bis 1806 zu Zeiten Napoleons Gültigkeit.

Einem anderen als dem Kaiser brauchte Frankfurt als »selbstständige Reichsstadt« fortan nicht zu dienen. Es hatte ja längst anderes zu tun. Dank der günstigen geografischen Lage in der Mitte von allem blühte der Handel. Zumal seit 1222 eine Brücke »hibbdebach« und »dribbdebach«, Nord und Süd, verband. Übrigens war das nicht bloß eine geografische, sondern auch eine mentale Beziehungsanbahnung. Sachsenhausen, das »Drüben«, war seit jeher bevorzugte Wohnstatt der kleinen Leute, der ziemlich ruppigen, aber urgemütlichen Verwandtschaft. »Hüben« dagegen stand für Weltläufigkeit, Glanz, Metropolengewimmel und ja – auch für Dickduher, also Angeber.

Brückenschlagen wurde so etwas wie die Hauptbeschäftigung der Stadt. Viele Fremde kamen nach Frankfurt, Händler, Kaufleute, die Messe wurde gegründet. Da gab es einiges zu verbinden: fremde Kulturen und Lokalpatriotismus, Geist und Geld, Mundart und Fremdsprachen, Bürgerstolz und Volksnähe.

Frankfurt bekam sein Lehrbuch dafür einmal wieder direkt von oben. 1240 sicherte Kaiser Friedrich II. der Stadt zu, jeden Besucher der Frankfurter Messe unter seinen Schutz zu stellen. 1330 bewilligte Ludwig der Bayer, der 1314 in Frankfurt gewählt worden war, der Stadt das Recht, jährlich eine zweite Messe abzuhalten. Und 1337 versprach er für sich und seine Nachkommen, keiner Stadt eine Messe zu genehmigen, die Frankfurt als Konkurrenz schaden könnte.

Mit den Messebesuchern zogen die Determinanten von Kultur ein: Vernunft und Toleranz, gebaut auf das solide Fundament von Pragmatismus und Gemeinsinn. Dass dabei das Geld eine tragende Rolle spielte – 1585 legte die Burs, ein Zusammenschluss von Kaufleuten zur einheitlichen Notierung der einzelnen Münzsorten, quasi den Grundstein für die Frankfurter Börse –, veranlasste Martin Luther zu der hämischen Bemerkung, Frankfurt sei bloß ein »Silber- und Goldloch«.

Noch so ein Missverständnis. Natürlich regierte Geld schon damals die Welt. Eine Tatsache, der man sich im realitätstüchtigen Frankfurt gern stellte. Mit dem Wissen, dass der schnöde Mammon der Humus ist, der Unabhängigkeit, Stärke und auch Kultur zum Blühen bringt. Es war Mayer Amschel Rothschild, sechs Jahre vor Goethe in der Frankfurter Judengasse geboren, der das erste deutsche Bankenimperium Fuggerʼschen Ausmaßes ins Leben rief. Seine fünf Söhne, »die fünf Frankfurter« genannt, kontrollierten mit ihren Banken in den wichtigsten europäischen Geldzentren praktisch die gesamten Geldgeschäfte Europas, einschließlich derer des Papstes. »Wenn mei Bube net wolle, gib’s kein Krieg«, soll die alte Frau Gudula »Gutele« Rothschild gesagt haben. Von 1771 bis 1792 hatte sie 20 Kinder geboren, von denen jeweils fünf Töchter und fünf Söhne das Erwachsenenalter erreichten. Obwohl 1796 den Juden erlaubt wurde, das Getto in der heutigen Altstadt zu verlassen, blieb die Familie im Geburtshaus des Patriarchen, einem mehrstöckigen schmalen Gebäude, wo auch das Kontor untergebracht war, in dem die Söhne schon ab ihrem 13. Lebensjahr mitarbeiteten.

In Frankfurt wurden Vermögen zwar angehäuft, aber kein Protz, kein Pomp damit betrieben. Im Gegenteil. Legendär die kaufmännische Nüchternheit und die Bescheidenheit der Bürger, die bisweilen hart an der Grenze zum Geiz entlangschrammte. Außer, es gab wirklich gute Gründe, etwas auszugeben. Zu diesen zählten stets Kunst, Kultur, Wissenschaft, Bildung und Soziales. Allein die Familie Rothschild begründete annähernd 30 Stiftungen für karitative, kulturelle und wissenschaftliche Zwecke. So die Rothschildʼsche Bibliothek, deren Bestände heute in der Stadt- und Universitätsbibliothek aufgegangen sind, oder das Carolinum, nach wie vor Ausbildungsstätte für Zahnmedizin in der Frankfurter Universitätsklinik.

Aber auch viele andere, vor allem auch jüdische Mitbürger, verfuhren nach der Devise von Vergil: »Sofern du die anderen an Ehre und Reichtum übertriffst, musst du danach streben, sie auch an Großzügigkeit zu übertreffen.« Sigmund Geisenheimer, Prokurist im Hause Mayer Amschel Rothschild, gründete 1804 das Philanthropin, eine jüdische Realschule. Juden waren es auch, die die Universität ins Leben riefen, und viele Krankenhäuser gäbe es nicht ohne jüdische Wohltäter. Hermann Weil, ein Getreidegroßhändler, stiftete 1923 das Institut für Sozialforschung, aus dem später die »Frankfurter Schule« hervorging, und Georg Speyer das Chemotherapeutische Forschungsinstitut, das von dem Nobelpreisträger Paul Ehrlich geleitet wurde.

Die Nazis schalteten das Stiftungswesen mit der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) und dem WHW (Winterhilfswerk) bis auf wenige Ausnahmen gleich und plünderten die jüdischen Stiftungen. Es brauchte lange Jahre des Wiederaufbaus, um an diese Tradition des Mäzenatentums anzuknüpfen.

Heute ist Frankfurt wieder deutsche »Stiftungshauptstadt«. Über 500 Stiftungen – das sind 76 Stiftungen pro 100 000 Einwohner – mit einem Gesamtvermögen von rund sechs Milliarden Euro sind in Frankfurt am Main aktiv, und fast alle sind sie gemeinnützig. Etwa 40 Prozent widmen sich der Wissenschaft und Forschung, 14 Prozent der Bildung und Erziehung, 30 Prozent sozialen Zwecken und 16 Prozent den Bereichen Kulturförderung, Natur- und Umweltschutz.

Frankfurt wäre nicht, was es ist, ohne die Initiative von Einzelnen. Während man heute »unternehmerische Verantwortung« zunehmend für eine seltene Geisteskrankheit hält, empfand man es in der Bürgerstadt als Verpflichtung, nebenbei nicht nur die eigenen, sondern die Verhältnisse anderer zu verbessern. Die Geschichte der Stadt liest sich deshalb auch wie ein Who’s who der Weltverbesserer, die man nicht mit Revoluzzern verwechseln darf. Barrikadensturm, der Bürger als Brandstifter – für diese Art des politischen Extremsports war das Klima der Stadt viel zu gemäßigt. In Frankfurt wollte man stets den Hütten Frieden bringen, ohne dafür gleich ganze Paläste anzünden zu müssen. Zumal die Erneuerer oft selbst ganz komfortabel wohnten. Heinrich Hoffmann etwa. Der gebürtige Frankfurter – den die Stadt zu seinem 200. Geburtstag 2009 mit vielen Veranstaltungen würdigte – war nicht nur »Struwwelpeter«-Erfinder, sondern auch praktischer Arzt, Nervenarzt, Gedichteschreiber, Humorist, Satiriker und Liberaler. 1848 saß er als einer der zwölf Frankfurter Vertreter im sogenannten »Vorparlament«. Berühmt wurde er vor allem durch sein Eintreten für eine humane Psychiatrie. Trotz vieler Widerstände realisierte er sein Ideal einer modellhaften psychiatrischen Klinik. Auf seine Initiative hin entstand auf dem »Affenstein«, wie die Frankfurter das Gelände...

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