Die Stadt, sie schwingt
Ich kannte London noch nicht und liebte es schon.
Ein Freund, dem ich bedingungslos vertraute, erzählte mir, dass in London die Geheimagenten durch Rosen an ihrem Revers heimlich miteinander reden konnten; den Briten war es gelungen, Blumen mit Mikrophonen in den Stängeln zu züchten. Meine Eltern ließen mich mittwochs bis nach zehn aufbleiben, und in der Europapokal-Zusammenfassung des deutschen Fernsehens sah ich die furiosen Tacklings der englischen Fußballer, ich spürte einen nie gekannten, aber auf merkwürdige Weise angenehmen Schauder, als die tiefen Gesänge der englischen Fans hinter dem Tor von Bayern Münchens Keeper Walter Junghans erklangen.
In der Schule lernten wir aus Büchern, in denen fabelhafte Sätze standen wie »Waiter, my toast is black!«, die wir uns den ganzen Nachmittag an den Kopf warfen, und irgendwann bekamen wir Besuch von einer Schulklasse aus England, voller Mädchen, die zwar weder von Rosen mit Mikrophon gehört hatten, noch etwas mit unseren Beifall heischend hingeworfenen Sätzen »Waiter, my toast is black!« anfangen konnten, aber unglaublich schöne Blümchenkleider trugen.
Ich war 13, und ich wusste: Dort würde ich leben.
Um ehrlich zu sein, ich war mir damals auch sicher, einmal in Budapest, Palermo und Reykjavik zu leben.
Später fuhr ich tatsächlich überall dorthin. Ich verbrachte in Budapest einen Abend mit einem Russen, der nur Russisch sowie einen Satz Englisch sprach, den er mir dafür umso öfter entgegenschleuderte: »I am a fuckin’ desperado, you understand, a fuckin’ desperado.« Ich verschickte aus Palermo mit meinem Freund Günther goldverzierte, professionell gemachte Karten, die von unserer Doppelhochzeit mit zwei fiktiven Sizilianerinnen kündeten. Ich sah in Reykjavik zum ersten Mal im Leben ein Mädchen, das auf die Straße pinkelte. Ich war glücklich und dachte, in London würde es genauso sein. Ich hatte ja keine Ahnung.
Es war Januar 1997, ich hatte das Studium in München beendet, einen Rucksack und eine Sporttasche dabei und einen Bekannten in Islington, bei dem ich auf dem Boden schlafen durfte. Jeden Morgen studierte ich die Mietangebote in dem Anzeigenblatt Loot, sprach auf ungezählte Anrufbeantworter von Vermietern, von denen ich, während ich redete, schon wusste, dass sie nie zurückrufen würden, und erreichte eine Prostituierte, deren Offerten versehentlich in die Mietangebote gerutscht war. Am vierten Tag fand ich ein Zimmer in Marylebone. Dusche und Toilette waren auf dem Gang, aus der Matratze sprangen losgelöste Metallfedern wie Stachel hervor. Ich bekam Atemnot, weil es in dem Zimmer nicht viel gab, aber reichlich von etwas, wogegen ich allergisch bin: Hausstaub. Die Miete betrug 400 Pfund im Monat, der Strom floss, wenn ich ein Fünfzig-Pence-Stück in den Zähler neben meinem Bett warf. Ich beschloss, aus London nie mehr fortzugehen.
Ich schrieb für deutsche Zeitungen über englischen Fußball und viele Briefe nach Hause, und wurde zunehmend verzweifelter, weil ich fühlte, meine Worte reichten nicht aus, um all die Wunder, die ganze Schönheit Londons zu beschreiben. Ich dachte, Dichter müsste man sein. Und eines Herbsttages in London hatte ich die Halluzination, ich wäre es.
Es war der Moment, als das Tageslicht schon verschwunden, die Dunkelheit aber erst im Kommen war,
als
sich das Zwischenlicht über die Stadt legte und alles in seinen besänftigenden milchigen Dunst einhüllte, die geraden Reihen der immer gleichen Backsteinhäuser mit den bunten Türen, die Fußball spielenden Kinder im Bishop’s Park mit den aus den Hosen hängenden, am Morgen noch weißen, nun lehmverschmierten Schulhemden, genauso wie die im ewigen Stau auf der Putney Bridge stehenden Autos mit den zitternden Auspuffen,
als
in Victoria die Leute zu Tausenden hinunter auf die Bahnsteige strömten und in der Menschenmasse niemand dem anderen in den Weg kam, nicht einmal einer den anderen berührte, die vielen jungen Männer mit den immer noch nadelgestreiften Anzügen nicht die schon etwas älteren Frauen mit den trotzdem noch hohen Absätzen, die unvorhergesehen in diese Karawane der Berufspendler geratenen Nachmittagseinkäufer mit ihren extragroßen Plastiktüten nicht die alte Frau mit ihren vorsichtigen, langsamen Schritten und dem Evening Standard fest in der rechten Hand, den sie gleich, in der U-Bahn, auf den wenigen Zentimetern Platz, die ihr vor ihrem Gesicht blieben, lesen würde, aus einem Augenwinkel immer darauf achtend, dass sie niemanden anstieße,
als
im Dove an der Hammersmith Bridge der Kinokartenabreißer aus dem nahen Riverside Cinema mit der bleichen Haut zwei italienischen Touristen zwei große Biere kaufte, auch, weil er einige wenige nette Worte mit ihnen gewechselt hatte, aber vor allem weil er Dienstschluss hatte,
als
ich, der gerade die U-Bahn in Victoria genommen hatte und später auf dem Fußweg nach Hause einer Gruppe fröhlich schwatzender Jungen mit lehmverschmierten Hemden begegnen würde, ins Dove eintrat, den Kinokartenabreißer das Bier für die Italiener ordern sah
und
spürte, was die Leute meinen, wenn sie sagen, London, es schwingt.
Es ist vermutlich nicht das Geschickteste, ein Buch mit einer Bankrotterklärung zu beginnen, doch die Wahrheit ist: Ich fürchte, viel besser als der junge Möchtegern-Dichter damals kann ich auch heute nicht in Worte fassen, wie wunderschön London ist. Ich will es trotzdem zumindest versuchen. Vielleicht sollte ich es so einfach wie möglich ausdrücken:
Es gibt keine bessere Stadt.
Budapest, Palermo, Reykjavik haben ihren Reiz. London aber hat alles, und von allem im Überfluss: Einwohner, die die Höflichkeit zum höchsten Gut erhoben haben. Parks, die größer als deutsche Kleinstädte und schöner als Hugh Grant sind. Hugh Grant. So viel Energie. So wenig Regen (weniger als Köln zum Beispiel). Den Premierminister Tony Blair, der in seiner Freizeit das Hemd aus der Hose und die Hose ohne Gürtel trägt, weil Engländer das so machen. Das Zafferano’s, ein besseres italienisches Restaurant als halb Italien hat. Die Tate Modern. Bars, in denen die Leute dreizehn Biere trinken und sagen: »Ich esse heute ja auch nichts!« Die weiten Abschläge von Arsenal-Torwart Jens Lehmann. Die anmutigste Schauspielerin der Welt (Wer? Weiterlesen!). Den Common Sense, den das Langenscheidt-Wörterbuch mit »gesunder Menschenverstand« übersetzt, auch wenn das diese bewundernswerte, unübersetzbare englische Geisteshaltung höchstens halb erklärt. Hunderennbahnen. The last night of the Proms. Kate Winslet (aha!). Ein Bruttosozialprodukt, größer als das von Schweden oder Irland. Einwohner, die sich selbst am allerwenigsten ernst nehmen.
Natürlich hat London auch: Einwohner, die hinter ihrer Höflichkeit verstecken, was sie wirklich denken. Hugh Grant. Eine U-Bahn, in der im Sommer nie weniger als 40 Grad herrschen – und das in einem Land, in dem Tiertransporte bei über 35 Grad verboten sind. Preise, die einen fassungslos machen (2,90 Pfund das Bier, 8 Pfund das Kino). Einwohner, die einem nach dem dreizehnten Bier vor die Haustüre pinkeln.
Aber das verdrängt man, das ignoriert man ganz bald. Weil man ja einer dieser Einwohner werden will, die sich selbst am allerwenigsten ernst nehmen.
All das hält London in Bewegung, und kein Verb beschreibt für mich Londons Bewegungen besser, selbst wenn die Swinging Sixties längst nur noch verklärte Erinnerungen sind: Die Stadt, sie schwingt.
Sie hört nie auf. Sie hat noch nicht einmal einen Horizont. Nach zwei, drei Jahren in der Stadt glaubte ich, ich würde mich auskennen, und dann traf ich jemanden, der sagte, er wohne in Upney, und ich fragte mich: »Wo zur Hölle ...?« 972 Quadratkilometer groß sei London, steht in der Statistik der Stadt, vielleicht sagt das irgendjemanden etwas, mir fehlt dazu die Vorstellungskraft. Ich spürte die ganze Größe Londons, als ich einmal mit einem Freund von seiner Wohnung in Southgate, im Norden der Stadt, zu mir nach Fulham, in den Südwesten, fuhr. Wir schauten auf den Tacho: 41 Kilometer. Und ich hatte gedacht, ich würde im Zentrum wohnen!
Der Architekt Richard Rogers, der in Chelsea wohnt und unter anderem das gelobte Lloyd’s Haus in der City entworfen hat, verkündet zwar schon seit Jahren, die Londoner würden bald das ganze Land zubetoniert haben, wenn sie nicht endlich anfingen, in die Höhe statt in die Breite zu bauen. Doch noch stoßen solche Appelle auf wenig Gehör. Wer auf dem Primose Hill steht, dem schönen Hügel am Nordende des Regent’s Park, blickt auf eine wenig beeindruckende Skyline. Saint Paul’s Cathedrale ist natürlich zu sehen und einige neuere höhere Gebäude wie der Gherkin, das von Rogers’ großem lokalen Rivalen Norman Foster errichtete, einem erigierten Riesenpenis nicht unähnliche Hochhaus einer Schweizer Rückversicherung. Aber sonst ist London flach, eine Kilometer breite Flunder. Die Idee, dass jede Familie ihr eigenes Haus haben muss, ist tief verankert im Londoner Denken, und so breiten sich in alle Himmelsrichtungen, kreuz und quer Reihenhäuser aus. Gerade in den Außenbezirken zeigt sich, wie geflickschustert und zusammengewürfelt London ist. Hier noch ein Anbau, dort noch ein Schornstein. In dieser Stadt darf jeder seinen Individualismus ausleben, auch wenn es sehr oft einfach nur Planlosigkeit ist. Selbst die Statue am Piccadilly Circus, im Herzen der Stadt, ist eine grandiose Fehlkonstruktion: Sie zeigt den Engel der christlichen Barmherzigkeit, mit einem Bogen in der einen Hand – aber...