Schnell erwachsen werden
1998
Ich beuge mich über die Tastatur, presse mir ein Taschentuch unter die Nase und tippe mit einer Hand eine Strafanzeige in den Computer. Mir gegenüber sitzt mein Kollege, mit dem ich heute meinen letzten Praktikumsdienst in Aachen absolviert habe. Ab morgen werde ich wieder im Ausbildungsinstitut in Linnich Gesetze pauken, den Umgang mit der Waffe verfeinern, abends kleine Partys auf den Stuben feiern, an der Ruhr entlangjoggen und eine Menge Spaß haben.
Doch jetzt habe ich dafür keinen Gedanken übrig. Meine Nase fühlt sich an, als wäre sie groß wie eine Aubergine, und pocht schrecklich. Sobald ich das Taschentuch wegnehme, tropft Blut auf die Tischplatte, und im Spiegel habe ich gesehen, dass ich bereits jetzt unter beiden Augen zwei herrliche Veilchen habe.
Die Leichtigkeit und Unbedarftheit, mit denen ich bisher an unsere Einsätze herangegangen war, sind verflogen. Klar war mir eingetrichtert worden, vorsichtig zu sein, die Eigensicherung stand über allem. Aber irgendwie war bisher immer noch alles gut gegangen. In den Trainings in Linnich hatte man halt das vorher vereinbarte Zauberwort gebrüllt, wenn man die Situation nicht mehr unter Kontrolle hatte, und sofort ließ der Schauspieler, der den wütenden Aggressor mimte, von einem ab.
Heute Nacht war das nicht so. Mit mehreren Streifenwagen waren wir zu einer Schlägerei gefahren. Es ist Karneval, und während meine Freunde selbst feiern sind, bin ich im Nachtdienst und versuche mit meinen Kollegen, wenigstens ein wenig Ordnung im karnevalistischen Chaos zu wahren.
Noch bevor wir aus den Autos ausstiegen, zogen wir die Handschuhe an und funkten nach Verstärkung, denn die ungefähr vierzig Typen, die sich hier prügelten, waren ganz eindeutig zu viel für uns. Trotzdem hieß es handeln. Schließlich kann man als Polizist nicht im Auto sitzen bleiben und die Knöpfe runterdrücken, während man abwartet, bis die Herrschaften mit ihrer Keilerei fertig sind.
Also hatten wir, zu sechst ganz klar in der Unterzahl, uns ins Getümmel gestürzt. Hatten Kontrahenten getrennt, Streithähne voneinander weggerissen, selbst Schläge ausgeteilt, waren peinlich darauf bedacht gewesen, dass im Gewühl niemand nach unseren Waffen greifen konnte, und hatten Menschen gefesselt.
Als es schien, dass wir die Situation in den Griff bekämen – ich hing gerade am Arm eines der Türsteher der Party und versuchte mit meinem Kollegen, den Kerl zu Boden zu drücken –, zerrte jemand von hinten an meiner Schulter. Ich wurde herumgerissen und hatte das Gefühl, gegen eine Betonwand zu knallen.
Ich versuchte verzweifelt, nicht vor Schmerz ohnmächtig zu werden und zu Boden zu gehen, als ich sah, wie die Faust, die mich gerade mitten ins Gesicht getroffen hatte, erneut ausholte. Einer meiner Kollegen konnte den Schlag gerade noch mit einem gezielten Haken von mir ablenken. Ich schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können, fing einen besorgten Blick meines Partners auf, nickte ihm unter Schmerzen zu, und im nächsten Moment lag der Schläger unter uns am Boden und trug meine silbern glänzenden Handfesseln. Mein Blut tropfte auf seinen Rücken, während er brüllte: »Du dumme Fotze, mach die Dinger los, dann besorg ich’s dir direkt noch mal!«
Mit unseren Einsatzübungen hatte das hier wenig zu tun, doch am Ende hatten wir gewonnen: Zwanzig Männer saßen gefesselt an einem Zaun aufgereiht und warteten auf den Gefangenentransporter. Die andere Hälfte der Herren hatte sich klammheimlich vom Acker gemacht. Zwei Kollegen hatten Kratzer und Schrammen im Gesicht, einer hatte sich das Handgelenk gebrochen, und ich ahnte bereits, dass mit meiner Nase irgendwas nicht in Ordnung war. Trotzdem halfen wir Lädierten den Kollegen, die Gefesselten zu verladen, und begaben uns auf die Wache.
Da sitze ich nun, tippe die Anzeige und versuche nicht daran zu denken, wie sehr mir das Gesicht schmerzt. Einer der Kollegen klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter: »Ordentlich zugelangt, Binderchen, das traut man dir ja gar nicht zu!«
Ich grinse gequält, was ziemlich grotesk aussehen muss, und konzentriere mich wieder auf meinen Bericht.
In diesem Praktikum habe ich meine ersten Toten gesehen, hatte meinen ersten Kontakt mit dem Rotlichtmilieu, wurde mit der Hilflosigkeit und der Überarbeitung konfrontiert, die man bei manchen Einsätzen einfach verspürt, und habe nun zum ersten Mal auch ordentlich was auf die Fresse bekommen. Hatte ich bisher im geschützten Raum in Linnich mit Rollenspielern meine Einsätze geübt, so war jetzt alles echt.
Trotzdem bin ich zufrieden: Ich habe mich bewiesen. Ich bin nicht weggelaufen, ich habe zugepackt und trotz blutender Nase weitergearbeitet, bis unsere Aufgabe erledigt war. Logisch war ich nicht so stark wie die männlichen Kollegen, aber eine Kindheit mit zwei älteren Brüdern und einer jüngeren Schwester, die einen um eine Haupteslänge überragt, lehrt einen ein paar fiese Tricks. Natürlich musste ich meine Grenzen kennen und beachten, aber ich hatte es irgendwie hinbekommen, hatte nach meinen Möglichkeiten mitgekämpft und war trotz meiner nicht zu übersehenden Blessur siegreich gewesen.
Durch das Praktikum habe ich eine Ahnung bekommen, was mich als Polizistin erwarten wird. Mir ist klar geworden, dass es bei diesem Job keineswegs nur darum geht, einem Einstellungsberater zu beweisen, dass ich den Test bestehen und die Ausbildung schaffen würde, sondern dass ich mich auch im Beruf später in Situationen wiederfinden würde, die meine Möglichkeiten eigentlich übersteigen und die ich trotzdem irgendwie lösen muss. Wer mich in Zukunft rufen würde, der erwartete von mir Hilfe.
War ich anfangs recht naiv an diesen Job herangegangen, so begann mir mit der Heilung meiner gebrochenen Nase langsam zu dämmern, worauf ich mich da eingelassen hatte. Während meine Schulkameradinnen und -kameraden die erste große Liebe kennenlernten, sich im Unterricht der Oberstufe Briefchen schrieben und ihre Sexualität ausprobierten, wurde ich im Dienst zu Vergewaltigungsopfern gerufen, musste Kinderpornos sicherstellen, handfeste familiäre Streitigkeiten schlichten, verwahrloste Kinder aus Familien holen, schwere Unfälle aufnehmen und (eigentlich ist das für den normalen Streifenbeamten nicht vorgesehen, aber manchmal passiert es doch) Todesnachrichten an Angehörige überbringen. Ich lernte, dass ich mir meine Einsätze nicht aussuchen konnte, dass ich tun musste, was erforderlich war, auch wenn ich mich manches Mal gerne neben das heulende Opfer gesetzt und ebenfalls geweint hätte.
Ich stellte fest, wie ich mich von meinen früheren Freunden immer mehr entfernte. Ich fühlte mich überlegen, erwachsener, weiser und übersah dabei vollkommen, wie gut es diese Gymnasiasten hatten, die drei Jahre länger zur Schule gingen, ein wenig kindlich sein durften und nicht groß und stark wirken und Ansprechpartner oder Problemlöser für jedermann sein mussten.
Innerhalb kürzester Zeit wuchs ich an meinen Aufgaben und wurde älter und nachdenklicher, als ich es aufgrund meines Alters eigentlich sein sollte. Die Ausbildung war sicherlich eine schöne Zeit, wir haben viel gefeiert, viel gelacht, viel geliebt und gehasst, viel miteinander durchlebt, aber diese Zeit hat mir auch einen Teil meiner Kindheit, meiner Naivität und vor allem viel von meinem Glauben an das Gute im Menschen genommen.
Im Jahr 2001, mit knapp neunzehn Jahren, hatte ich es nach zweieinhalb Ausbildungsjahren geschafft. Ich hatte alle Klausuren und sportlichen Leistungsprüfungen bestanden, die mündliche Prüfung nicht glänzend, aber aufgrund meiner immer noch grandiosen Lernfaulheit zumindest ohne großen Aufwand hinter mich gebracht, und stand nun zusammen mit meinen Kollegen im Flur unseres Wohnheims bereit, um von unserem Jahrgangsleiter zu erfahren, wo wir demnächst eingesetzt werden würden.
»Janine Binder, Polizeimeisterin, ab 1. April 2001 Autobahnpolizei Köln!« Emotionslos las der Jahrgangsleiter weiter die Namen und Dienststellen vor, während ich spürte, dass ich kalkweiß wurde. Es war ein Schock, wie ein Schlag in die Magengrube.
»Autobahnpolizei? Scheiße!«
Autobahnpolizei – das war die Höchststrafe. Nur geradeaus fahren, Unfälle aufnehmen, Lkw kontrollieren. Nix Kriminalität oder gar Nervenkitzel. Kurz – es war die ödeste Tätigkeit, die ich mir vorstellen konnte, und dann auch noch ich, die ich die Straßenverkehrsordnung bisher nur in Ansätzen verstanden hatte und schon beim Anblick der Zulassungsordnung Schweißausbrüche bekam. Ich hatte wirklich mit allem gerechnet, nur nicht damit. Aber es war nichts zu machen, die Entscheidung stand fest, es half kein Tauschen, kein Bitten und Betteln, ich würde auf den Autobahnen von Köln für Ordnung sorgen oder nirgendwo.
»Man wächst mit seinen Aufgaben!«, kam es aus der Reihe hinter mir, und jemand tätschelte mir die Schulter. »Sind ja nur vier Jahre, dann kannst du dich versetzen lassen, und du sparst dir die Zeit in der Hundertschaft. Ist doch super!«
Das war natürlich richtig: Wer auf einer der Landbehörden oder bei der Autobahnpolizei landete, würde von den langweiligen und meist äußerst anstrengenden Demonstrations- und Fußballeinsätzen der Bereitschaftspolizei zunächst verschont bleiben, da nur die großen Behörden ihre Neulinge nach einem Jahr im Streifendienst zur weiteren Ausbildung in die Hundertschaften schicken.
Trotzdem hatte jeder Mitleid mit mir und versuchte, mich aufzumuntern. Außer mir hatten noch ein paar weitere das gleiche Los gezogen, und man witzelte, dass es demnächst auf Kölns Autobahnen vielleicht Vorfälle wie bei »Cobra 11« geben würde.
Ich rang...