Nicht wiederzuerkennen: Der rasante Wandel einer Stadt
Das waren noch Zeiten. Nachdem ich China 1986 zum ersten Mal besucht hatte, notierte ich staunend: »1949 lebten 1,6 Millionen Menschen in Peking, derzeit sind es 9,5 Millionen.« Während ich dieses Buch schreibe, hat Peking bereits 17,4 Millionen Einwohner, mehr als doppelt so viele wie New York. Und wahrscheinlich kann kein deutscher Verlag so schnell Bücher produzieren, als dass die Zahl nicht bis zum Druck überholt wäre.
Einmal fragte ich eine Pekinger Freundin, die Paris, London und Berlin besucht hat, wo es ihr am besten gefalle? Sie sagte, wenn es ums Wohnen ginge, würde sie am liebsten nach Berlin ziehen. Warum das? »Ich habe mein ganzes Leben in der Großstadt verbracht. Da würde ich gern zur Abwechslung einen kleineren Ort kennenlernen.«
Trotz der Ein-Kind-Politik wächst Chinas Bevölkerungszahl weiter. Viele der jetzigen Eltern wurden noch in Zeiten geboren, als Mao glaubte: Je mehr Untertanen er beherrscht, desto mehr Macht erlangt er. Er selbst formulierte dies allerdings zynischer, so etwa bei einem Besuch in Moskau 1957: »Wir sind bereit, 300 Millionen Chinesen für den Sieg der Weltrevolution zu opfern.« Das war damals etwa die Hälfte der chinesischen Bevölkerung. Pekings Einwohnerzahl explodiert auch deshalb, weil Chinesen aus allen Provinzen gern in die Hauptstadt übersiedeln – obwohl sie dafür mehr Hürden überspringen müssen als bei einem olympischen Hindernislauf, wie ich noch erzählen werde.
Ich habe immer wieder in Peking gewohnt, habe es verlassen und bin wieder zurückgekehrt. Auf den ersten Blick fällt es natürlich nicht auf, dass wieder so viele Bürger hinzugekommen sind wie in Hamburg oder München dauernd leben. Was jedoch ins Auge sticht: Die Metropole wird jedes Mal eine andere.
Über meinen ersten Landeanflug vor gerade einmal 23 Jahren schrieb ich: »Unter uns mischt sich das Feuerrot der Palastdächer mit dem Grau von Betonhochhäusern. Das Alte und das Neue sind willkürlich ineinandergeschachtelt, die prunkvollen Stätten der Privilegierten von einst und die zweckmäßigen, aber nicht gerade schönen Bauten für die arbeitenden Menschen heute.« Mittlerweile experimentieren Architekten aus aller Welt in Peking mit eleganten und futuristischen Bauten, die wie Ufos, Wasserwürfel oder Eier aussehen. Der Flughafen selbst ist inzwischen von Villenvierteln umgeben.
Wie ein Bericht von einem anderen Planeten erscheint im Vergleich zu heute auch, was mir damals bei der Fahrt vom Flughafen ins Zentrum auffiel: »Auf der Straße vom Flughafen in die Stadt begegnen wir vor allem Lastwagen und Personenwagen japanischer Herkunft: ›Alles Dienstwagen‹, erklärt man mir. Privatautos sind in China zwar nicht mehr verboten, aber praktisch unbezahlbar – es gibt einige wenige Ausnahmefälle neureicher Bauern und Privathändler, die jeweils so sensationell erschienen, dass die chinesische Presse darüber berichtete.« Wäre das heute noch so, hätten die Reporter viel zu tun – pro Tag werden in Peking 1000 neue Autos zugelassen, natürlich fast alles Privatwagen. Auf sechsspurigen Straßen stauen sie sich manchmal noch um Mitternacht. Bei meinem ersten Besuch sah das noch deutlich anders aus. Selbst auf den großen Prachtstraßen im Zentrum drängten sich die Verkehrsmittel, die man in China erwartete: Fahrräder, Fahrräder und noch mehr Fahrräder. Soweit es spezielle Spuren nur für Autos gab, waren sie schmaler als die parallel verlaufenden Radwege. Wer hingegen heute nach vollen Radwegen sucht, dem empfehle ich eine Reise nach Münster in Westfalen.
1986 aß ich im Restaurant in einem Raum, meine Dolmetscherin musste in einem anderen essen. Zu enger Kontakt sollte verhindert werden. Als ich elf Jahre später in Peking Chinesisch studierte, verursachte es keine Komplikationen mehr, wenn Einheimische und Ausländer gemeinsam ausgingen. Viele Jugendliche in Peking suchten nun den Kontakt zu Europäern und Amerikanern, um ihr Englisch aufzufrischen. Gute Sprachkenntnisse versprachen eine bessere Zukunft, etwa ein Studium im Ausland oder eine Stelle in einem der Joint Ventures von internationalen Unternehmen gemeinsam mit chinesischen Partnern, die inzwischen auch in der Hauptstadt gegründet worden waren.
Um Englisch zu üben, trafen sich Studenten und Berufsanfänger zu Hunderten in sogenannten ??? yingyujiao, English corners. Wenn sich westlich aussehende Menschen daruntermischten, scharten sich alle um sie, selbst wenn sie, wie ich, Englisch mit badischem Akzent sprachen. Ich suchte dort nach Austausch, um mein Chinesisch zu praktizieren. Doch die »englische Ecke«, die ich entdeckt hatte, lag weit von meiner Hochschule entfernt. Dann hörte ich, es gebe auch einen solchen Treff in der nahe gelegenen ???? remin daxue, wörtlich »Volkshochschule«, die kein Weiterbildungsverein ist, sondern eine der Pekinger Universitäten. Am Eingangstor fragte ich zwei hübsche Studentinnen nach dem Weg. Sie erklärten mir, die English Corner habe gerade Ferien. So entschieden wir uns, unsere eigene Sprachaustausch-Bewegung zu gründen, und ich lud die beiden ins Restaurant ein. Eine von ihnen heiratete ich anderthalb Jahre später.
Anders als in Russland (in den Neunzigerjahren) oder auf den Philippinen sind Westeuropäer in China nicht per se begehrte Ehepartner. Noch mehr als heute glaubten viele Chinesen damals, ihre Kultur unterscheide sich so stark von allen ausländischen Kulturen, dass solche Beziehungen nicht funktionieren könnten. Pekinger Taxifahrer warfen mir in jener Zeit vor, ich würde ihnen die Frauen »wegnehmen«. Wie könnte ich! Zwar mangelt es in China zunehmend an Frauen, aber nicht weil einige von ihnen Ausländer heiraten, sondern weil Eltern in ländlichen Gebieten männliche Nachkommen bevorzugen und deshalb weibliche Föten abtreiben.
Die Restaurants, die wir besuchten, waren einfach: Kahle Holz- oder Plastiktische, leere weiße oder graue Wände; die Gäste warfen Knochen, Gräten und Fleischreste einfach auf den Tisch oder spuckten sie auf den Boden. Etwas eleganteres Ambiente zeichnete die ersten Restaurants mit europäischen Speisen aus, die damals eröffnet wurden. Dort schmeckte aber das Essen weniger gut. So war ich sehr stolz, als ich meiner heutigen Ehefrau kurz nach unserem ersten Treffen erzählen konnte: »Ich habe ein chinesisches Restaurant entdeckt, das sehr geschmackvoll eingerichtet ist. Alles tipptopp sauber, und man kann sogar mit Kreditkarte bezahlen. Lass uns mal zusammen hingehen.«
Auch sie fand das eine gute Idee. Junge Chinesen wussten damals sehr genau, dass sich ihre Gaststätten nicht auf Weltniveau befanden. Der Gedanke, etwas Neues, Schickes kennenzulernen, gefiel ihr gut, zumal trotzdem die von Chinesen bevorzugte eigene Küche angekündigt war. Leider hatte ich mein Chinesisch-Studium gerade erst begonnen, so hatte ich die Zeichen am Eingang noch nicht lesen können. Sie erstarrte, als wir vor dem Restaurant angelangt waren, schwieg eine Minute lang, während die Wut in ihrem Gesicht immer unverkennbarer wurde. Schließlich sagte sie: »Das ist ein japanisches Restaurant.«
Sie ärgerte sich, gestand sie mir später, nicht so sehr deshalb, weil sie die Japaner wegen ihrer Kriegsverbrechen an den Chinesen hasste. Vielmehr schämte sie sich, weil ich ihr – wenn auch ohne Absicht – vorgeführt hatte: In den chinesischen Lokalen fehlte es an Ästhetik, Romantik und Hygiene. Aus heutiger Sicht ist der Vorfall lustig: Denn jetzt, gut zehn Jahre später, stülpen Kellner in vielen Pekinger Restaurants Schutzbezüge auf Jacken, die über dem Stuhl hängen, und manchmal sogar auf Handys. Vor und nach dem Essen reichen sie warme Waschlappen. Der Gast sitzt an Designertischen in gediegenem Braun oder knalligem Rot. An der Wand hängen moderne Gemälde, im Speisesaal sprudeln Springbrunnen.
Manchmal ändert Peking sein Gesicht innerhalb weniger Wochen. So geschah es im Frühjahr 2003, als sich die Lungenkrankheit SARS ausbreitete. Fast alle Hauptstadtbewohner verließen das Haus nur noch mit weißer Schutzmaske. Die sonst so quirligen Restaurants und Bars blieben leer. Die Kaufhäuser wirkten wie Geisterhäuser, maskierte Verkäuferinnen bewachten Kleider und Spielsachen, Kunden kamen keine. Die Metropole stand still. Selbst in der Fußgängerzone Wangfujing ging kaum noch jemand, dort drängen sich sonst die Menschen. SARS verschwand so plötzlich, wie es gekommen war.
Ebenso radikal verwandelten die Olympischen Spiele Peking. Kurz davor reiste ich für zwei Wochen nach Deutschland. Als ich zurückkam, erkannte ich die Stadt kaum wieder: Die Zahl der Autos war halbiert, weil Tag für Tag abwechselnd nur Wagen mit gerader beziehungsweise ungerader letzter Ziffer auf dem Kraftfahrzeugkennzeichen fahren durften. Auch zu Fuß bewegten sich deutlich weniger Menschen als sonst. Auf den Baustellen, wo sonst 24 Stunden am Tag gehämmert, gebohrt und geschweißt wird, war Ruhe eingekehrt. Die Wanderarbeiter, die dort schuften, waren nach Hause gefahren. Aufs Land geflohen waren auch die Intellektuellen, die sich weder für Sport noch fürs Vaterland begeistern. Die Polizei hatte »aus Gründen der nationalen Sicherheit« die Tibeter vertrieben, die sonst in ihren Trachten auf der Straße hocken und Ohrschmuck, Halsketten und Fingerringe verkaufen. Weggesperrt waren die Bettler, die in Peking manchmal sehr aufdringlich sein können, ein »Nein« nicht für ein Nein nehmen und sich an einem festklammern. Um Diebstahl und Proteste zu verhindern, patrouillierten alle 100 Meter Rentner mit roten Armbinden, Freiwillige aus den Nachbarschaftskomitees, die es in Peking vorher auch gab, die aber gewöhnlich nicht...