Leseprobe Preußen und Märker Märkische Heide, märkischer Sand Sind des Märkers Freude, sind sein Heimatland. Steige hoch, du roter Adler, hoch über Sumpf und Sand, Hoch über dunkle Kiefernwälder, Heil dir mein Brandenburger Land. (Lied vom Roten Adler, 1923, Gustav Büchsenschütz) Machen Sie sich keine Illusionen: Ich bin kein Fan von Brandenburg. - Ich wurde hier geboren. Ich lebe hier. Das ist alles. Von meiner Geburt bis zu meinem sechzehnten Geburtstag hatte ich vom Land Brandenburg noch nicht einmal gehört, obwohl ich in der Automobilwerkerstadt Ludwigsfelde am Rand des Fläming groß wurde. Nach der Wende ging ich weg. Und als ich zurückkehrte, stellte ich fest, dass der Landstrich, in dem ich aufgewachsen war, mittlerweile einen Namen bekommen hatte. Dieses Land, das sich zwischen Elbe und Oder, vom Stechlin bis zur Senftenberger Seenplatte erstreckt, das mehr Sand als Menschen hat und mehr Seen als Städte, in dem man Radio »nur für Erwachsene« hört, Weißwein aus dem Tagebau trinkt, im Scherri badet und saure Gurken aus der Dose isst, das Land, in dem es Pyramiden, verbotene Städte und Atombunker gibt, dieses Land mit den meisten Naturschutzgebieten und den meisten militärischen Altlasten aller deutschen Bundesländer, was manchmal dasselbe ist, hieß jetzt Brandenburg. Ich erinnere mich nicht, wann ich den Namen zum ersten Mal hörte. Vielleicht benutzte der ehemalige Ministerpräsident Manfred Stolpe diese Bezeichnung, als er versuchte, Schwung in die Sache mit den blühenden Landschaften zu bringen. Oder die »Mutter Courage des Ostens«, Regine Hildebrandt, ließ den roten Adler in einer ihrer protestantisch-preußischen Motivationsansprachen aufsteigen. Vielleicht hörte ich den Namen zum ersten Mal in einer Radiosendung des rbb, in der Menschen auf der Straße gefragt wurden, was sie mit dem Land Brandenburg verbinden würden. Die Antworten waren wenig befriedigend. Während die Einheimischen anderer Landstriche bei solchen Fragen fröhlich zu regionalen Glaubensbekenntnissen ansetzen oder ernst die Vorzüge und Nachteile ihrer Heimat abwägen, blieben die Befragten ganz bei sich: »Brannenborch? Na, det iss, wo ich lebe!« Sehen Sie, das meinte ich. Ich bin gebürtige Potsdamerin. Das habe ich meiner Mutter zu verdanken. Sie fand, das Krankenhaus einer Bezirkshauptstadt mache für die Geburt eines Kindes mehr her als ein lumpiges Kreiskrankenhaus, in dem sie mich korrekterweise hätte zur Welt bringen sollen. So lautete jedenfalls in den Siebzigerjahren die Anordnung für Mütter, die im Kreis Zossen ihren Wohnsitz hatten. Aber meine Mutter kommt aus Sachsen. Das erklärt den laschen Umgang mit Behörden. Einer pflichtbewussten Preußin wäre es nie in den Sinn gekommen, das staatlich verordnete Krankenhaus durch ein selbst gewähltes zu ersetzen. Meine Mutter sah in der querulanten Entscheidung für Potsdam ein letztes Glimmen ihrer sächsischen Herkunft. An diesem Glimmen hielt sie fest, nachdem sie mit einem Niederlausitzer eine Mischehe eingegangen war und sich fleißig das Hochdeutsche antrainierte. Das Brandenburgische zu beherrschen, versuchte sie erst gar nicht. Diesen knackigen, bodenständigen Slang, der sachlich trocken hingerotzt wird und dann zerstäubt wie ein Spuckefleck im Sand, der sich durch das Weglassen ganzer Konsonantengruppen am Ende eines Wortes auszeichnet, bevorzugt das »ch« wie in »weeßickni« und »Lass do' ma«, beherrsche nicht einmal ich. Ich habe zwar mit den Kindern waschechter Einheimischer im Sandkasten gespielt. Aber zu Hause wurde aus Rücksicht auf meine Mutter Hochdeutsch gesprochen. Bis zu meinem sechzehnten Geburtstag lebte ich also im Kreis Zossen, Bezirk Potsdam. Vom Land Brandenburg keine Spur. Sie sehen, wie jung das Land ist, in das ich Sie einweihen möchte. Heute erinnert schon nichts mehr daran, dass es erst 1990 auf dem Territorium von drei Bezirken entstand. Potsdam grenzte im Süden an den Bezirk Cottbus und im Osten an Frankfurt/Oder. Cottbus, Frankfurt und Potsdam sind die drei wichtigsten und größten Städte, die das heutige Bundesland vorweisen kann. In meinen jugendlichen Ohren hatten sie den gleichen fahlgrauen, fern-industriellen Klang wie Eisenhüttenstadt, Schwedt, Perleberg oder Guben, weshalb es mich schon damals nicht gewundert hätte, wären sie alle unter einen Hut gesteckt worden. Aber noch zeichnete sich nirgendwo ab, dass der Geburtsort Potsdam mich eines Tages zu einer Brandenburgerin machen würde. Die SED-Führung der DDR ließ nur kurz, zwischen 1946 und 1952, die Bezeichnung Land Brandenburg zu, leistete dadurch aber Pionierarbeit; Brandenburg war vorher schon alles Mögliche gewesen, aber noch nie ein Land. Für die restlichen siebenunddreißig Jahre Sozialismus wurden solche regionalen Bezeichnungen gestrichen, weil in ihnen nach sozialistischem Glauben ein ungewolltes Erbe deutscher Kleinstaaterei zum Ausdruck kam. Die Thüringer oder die Sachsen begegneten dieser ideologischen Engstirnigkeit mit einem gefestigten Regionalstolz. Den Brandenburgern dagegen saß der preußische Untertanengehorsam noch zu tief in den Knochen, um sich gegen die von feudalen Spuren gereinigte Kartografie der neuen Befehlshaber zu wehren. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. hatte seinen Untertanen die Pflicht zum Gehorsam eingebläut. Der Gehorsam hielt mehrere Jahrhunderte lang an. Und die Hymne mit dem roten Adler, dem Wappentier Brandenburgs, blieb den Brandenburgern bis zur Wende im Halse stecken. Nun ist es mit nationalen und selbst mit regionalen Identifikationen immer etwas heikel. Sie verschwimmen, sobald man beginnt, historisch nachzuforschen. Schon die Nachnamen vieler Brandenburger haben flämische, wendische, polnische, russische oder französische Wurzeln. Ihre Vorfahren sind aus vielen Richtungen eingewandert. Zwei große Migrationswellen haben die brandenburgische Gegend geprägt. Zwischen 1000 und 1200, nach der Eroberung des von Slawen besiedelten Landes durch den Askanier Albrecht den Bären, ließen sich Siedler aus den verschiedensten deutschen Gebieten hier nieder. Und nach dem Dreißigjährigen Krieg strömten unzählige Menschen aus der Schweiz, der Pfalz oder Böhmen ins Land, herbeigelockt von einer Politik, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, die stark verwüstete Region neu zu bevölkern. Eine der größten und prägendsten Einwanderergruppen waren die Hugenotten, protestantische Gläubige, die im Frankreich des 17. Jahrhunderts verfolgt wurden. Auch die geografischen und politischen Grenzen Brandenburgs veränderten sich während der Jahrhunderte ständig, abhängig von Kriegen und Eroberungsfeldzügen. So variabel wie die Grenzverläufe, so vage ist auch der Name »Brandenburg«. Noch heute bin ich unsicher hinsichtlich seiner Dimension. Da gibt es die Stadt Brandenburg und das Land Brandenburg. Da Stadt und Land gleich heißen, unterteilen sich die Brandenburger in Städter und Landeskinder, wobei die Stadtbewohner natürlich auch Land-Brandenburger sind, was ihnen immer noch eine zusätzliche Erklärung abverlangt. Die Neubrandenburger wiederum gehören nicht dazu. Sie können sich hierzulande jede Erklärung sparen, müssen aber im Nachbarland Mecklenburg-Vorpommern für die missverständliche Bezeichnung ihres Herkunftsortes einstehen. Dann gibt es die Bezeichnungen »Mark Brandenburg« und »Kurmark«. Beides hat nichts mit Geld zu tun. Geld war in diesem ärmlichen Landstrich ohnehin nie ein Thema, außer wenn man es sich borgen musste wie Friedrich II. einst von einem am österreichischen Hof lebenden Prinzen ( Prinz Eugen ), weil der eigene Vater ihm das Taschengeld strich. Die Mark bedeutet so viel wie Grenzland. Damit ist das an die Stadt Brandenburg grenzende Land gemeint. Als die Stadt 948 gegründet wurde, hieß sie allerdings Brendanburg. Zur Kurmark, auch Churmark, wurde Brandenburg dann ab dem 14. Jahrhundert unter den Hohenzollern. Sie bezeichneten damit das Land, das die brandenburgische Kurfürstenwürde repräsentierte. Und natürlich gab es Preußen. Preußen war ursprünglich ein Herzogtum in der Gegend des späteren Ostpreußen, bis sich der »Schiefe Fritz« 1701 die Krone selbst aufs Haupt drückte und aus seinem Kurfürstentum auf brandenburgischem Boden einen Staat machte. Innerhalb des Königreichs Preußen wurde die Mark zur Provinz. Außerdem gab es die Altmark und die Neumark. Beide gehören heute allerdings nicht mehr zur Mark. Dabei stammten die ersten Märker aus der Altmark, genauer gesagt, aus Havelberg, das neben Brandenburg die erste deutsche Stadt auf märkischem Boden war. Heute liegt Havelberg in Sachsen-Anhalt und muss sich die märkische Vergangenheit irgendwie ins Sachsen-Anhaltinische zurechtbiegen. Die Neumark östlich der Oder, die mittlerweile polnisch ist, hat ein ähnliches Identitätsproblem, und die Niederlausitz kam überhaupt erst so spät zu Brandenburg hinzu - im frühen 19. Jahrhundert -, dass sie ihrem früheren sächsischen Frohsinn noch immer nachtrauert (was man an der Entscheidung meines Vaters für eine Sächsin gut ablesen kann). Das alles zeigt, wie unzuverlässig solche scheinbar klaren Selbstverortungen sind. Folgt man dem im Spreeland ansässigen märkischen Autor Günter de Bruyn, lässt sich die Sache noch weiter verkomplizieren, denn »märkisch sind, wie es im Liede vom roten Adler heißt, die Heide, der Sand und der Sumpf, die westlichen Tore Berlins und Potsdams dagegen heißen Brandenburger und nicht märkische Tore, weil früher durch sie hindurch musste, wer in die Stadt Brandenburg wollte ... « Sie sehen: Es ist nicht so einfach, eine Märkerin zu sein. Und dennoch gibt es bei vielen Brandenburgern heute eine große Lust, sich regional zu verorten. Vor Kurzem hörte ich eine junge Unternehmerin aus Fürstenberg sagen, sie verstehe sich als Urpreußin und wolle in ihrer Familie das preußische Erbe pflegen. Ich sah sofort die Zinnsoldaten vor mir, wie sie in preußischer Truppenstärke in den Glaskästen des Zinnsoldatenmuseums Potsdam-Bornstedt Aufstellung genommen hatten. Aber im post-postmodernen 21. Jahrhundert läuft wohl selbst der Preußenkult subtiler ab: Da wird kein lebensgroßer Pappaufsteller eines Langen Kerls im Flur stehen, und das Abziehbild eines gegrätschten Adlers klebt auch nicht auf dem Zahnputzbecher. Preußen war nicht nur der selbstgerechte, größenwahnsinnige Militärstaat, dem Verhärtung, Gier und blinder Gehorsam seiner Bürger schließlich zum Verhängnis wurden. Preußen war zunächst einer der ersten europäischen Staaten, der eine allgemeine Volksbildung und regelmäßige Arbeitszeiten für Staatsdiener einführte; die Grundlage des modernen Beamten. Fleiß, Zähigkeit und Toleranz gehörten hier zu den Tugenden, und unter Friedrich dem Großen legte die erste Frau, die Ärztin Dorothea Christiana Erxleben, 1754 ihr Doktorexamen ab. In trüben Stunden verbinde ich mit Brandenburg strapazierfähige Blusen, weiße Turnschuhe und Lurex-Tücher, wie ich sie mir als Jugendliche um den Hals schlang. Ich verbinde damit eine Düsternis, wie sie eine Kleinstadt im Novemberwetter hervorruft, aus der ich mich mit achtzehn schleunigst davonmachte. Nichts jedenfalls, was Eleganz, Weltläufigkeit und Esprit versprühen würde. Um den Witz der Brandenburger zu verstehen, muss man beide Beine fest auf der Scholle haben. Es ist ein dem rauen Leben auf kargem Boden abgerungener Humor. Aber hat man das einmal verstanden, leuchtet einem der Impuls eines Gastwirtes in Gransee ein, seine Lokalität »Huckeduster« zu nennen. Und der zündende Gedanke der Imbissbudenbesitzerin in Teschendorf, ihre Bude »Karins Kanonenfutter« zu taufen, springt vielleicht ebenfalls über. Beim Biss in die Currywurst fragt man sich nur besser nicht, ob damit das in die Pelle gestopfte Fleisch gemeint ist oder die Kundschaft ... Die Stadt, aus der ich floh, war eine sozialistische Autowerkerstadt, in der achtzig Prozent der Einwohner im IFA- Automobilwerk arbeiteten und LKWs herstellten, die in sozialistische Bruderländer auf der ganzen Welt verschifft wurden. Ich floh aus einer Stadt, in der es für achtundzwanzigtausend Einwohner einen Schuhladen, einen Bäcker und ein Kaufhaus gab. (Für die Nachtbar im Klubhaus war ich noch zu jung. Und die Bücher aus der Bibliothek über dem Kino hatte ich schon alle gelesen.) Ich floh, weil Ludwigsfelde zwar auf märkischem Sand stand, nahe eines Pechpfuhl genannten Hochmoors, das seinen Namen einer Pechhütte aus dem 17. Jahrhundert verdankt und Lebensraum seltener Pflanzen und Vögel war, man von diesem Hochmoor aber nicht mehr viel sah. Jeder Anflug von natürlicher oder kultureller Schönheit wurde den Erfordernissen der werktätigen Produktion oder militärischen Zwecken untergeordnet. Das Wollgras war eingegangen. In den Erlenbruchwald hatte man Plattenbauten für Streitkräfte der Nationalen Volksarmee (NVA ) gesetzt. Kettenfahrzeuge hatten quadratische Abdrücke in die Sandwege gestanzt, und der Zaunkönig war längst auf und davon. Im Herbst stieg der Geruch von Rieselfeldern am Stadtrand auf. Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, dass Ludwigsfelde einmal typisch brandenburgisch sein würde. Ich ahnte nicht, dass die Stadt alles enthalten würde, was das heutige Brandenburg auszeichnet: Zentrum und Plattenbausiedlung sind durch Progamme der Städtebauförderung aufgehübscht worden. Es gibt Landschaftsschutzgebiete, die einst militärische Sperrgebiete waren. Es gibt sanierte und verschlankte Industrieanlagen und Industrieruinen, die zu Filmkulissen werden. Es gibt Seen, Kiesgruben und Sanddünen. Es gibt Felder mit Kartoffeln, Getreide und Mais. Es gibt Kuhställe, Kirchen und Kneipen. Und es gibt Landadel. Der Ludwigsfelder Landadel residierte einst in Schloss Genshagen. Das ist, wie viele Schlösser in Brandenburg heute, eine Tagungsstätte. So gesehen hätte ich gar nicht brandenburgischer aufwachsen können. Um wirklich jeden Zweifel an meiner Identität auszuräumen, erbringt Ludwigsfelde auch den letzten Beweis: vor einigen Jahren eröffnete die Kristalltherme, ein Thermalbad mit ausgedehnter Saunalandschaft. Saunen, Schwimmen und gesundes Baden gehören in Brandenburg zu den beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Mithilfe großzügig gefüllter Nachwende-Fördertöpfe wurden unzählige Wellness-, Spaß- oder Thermalbäder auf den Acker gesetzt. Man sollte jetzt nicht der irrigen Vorstellung erliegen, der märkische Sand sitze besonders hartnäckig hinter den Ohren. Auch die Vorstellung, die ehemaligen Mitarbeiter der Staatssicherheit oder überzeugte SED-Genossen im Land hätten eine Möglichkeit gesucht, sich reinzuwaschen, ist falsch. Wahr ist, dass die Landeshauptstadt Potsdam neben der Hochschule für Staatssicherheit eine juristische Fakultät besaß, in der ausschließlich Marxismus-Leninismus unterrichtet wurde, und dass sich in Strausberg noch immer alte Herren aus Stasi-Seilschaften zum Kaffeekränzchen treffen. Wahr ist auch Wandlitz. Das heute beliebte Ausflugsziel beherbergte einst die Wohnsiedlung der SED-Führung. Aber dass man sich ausgerechnet von Bädern nach der Wende Arbeitsplätze versprach, deutet auf etwas anderes hin: Erstens musste man sich nach der industriellen Bankrotterklärung schnell etwas einfallen lassen. Zweitens sind die Brandenburger beim Baden besonders bei sich. Baden berauscht. Und der Rausch ist in diesen Breitengraden, kommt er nicht vom Alkohol, ein seltener Zustand. Wie Sie bereits bemerkt haben, ist Brandenburg also ein sehr junges und gleichzeitig ein sehr altes Land. Außerdem ist es ein Land mit einem starken Nord-Süd-Unterschied. Seine Bewohner des Nordens, die Prignitzer oder die Uckermärker, erkennt man an ihrer norddeutschen Zurückhaltung und einer zarten Herbheit. Die Niederlausitzer und die Fläminger aus dem Süden, die dem Preußischen weniger lange ausgesetzt waren, legen die sanfte Gangart von Mittelgebirgsmenschen an den Tag. Ein Riss geht auch beim Wetter durchs Land. Der Nordwesten steht unter dem milden Einfluss des atlantischmaritimen Klimas, der Südosten befindet sich in der rauen Kontinentalklimazone. So gesehen kann man in Brandenburg von Sibirien nach Italien reisen. König Wilhelm IV., der einzige Romantiker auf dem preußischen Thron, der dummerweise auf der sibirischen Seite stand, glaubte, die Wetterverhältnisse ändern zu können. Gotteshäuser im italienischen Stil wie die Friedenskirche im Potsdamer Park Sanssouci sollten den Himmel gnädig stimmen. Auch das Brandenburger Tourismusmarketing hat sich des magischen Denkens bedient. Auf den rot-blauen Schildern, die an der Autobahn die Landesgrenze zu Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern markieren, steht: »Brandenburg. Neue Perspektiven entdecken«. Diese Formulierung, die es nicht bis zu einem vollständigen Satz, aber in einen hoffnungsfrohen Imperativ schafft, in dem das preußische Echo nur leise nachhallt, passt zu den spargelstangendünnen Kiefern, die rechts und links der Fahrbahn stramm in den Himmel schießen: Man ist auf dem Weg nach oben. Nur die landesunkundige Autofahrerin mag nun unsicher nach den Perspektiven Ausschau halten, wobei ihr ein Reh auf offenem Feld, ein im Licht gleißender Birkenstamm oder ein trunken stiller See ins Blickfeld gerät. Die Landesbewohner wissen, dass es sich hier um eine Beschwörungsformel handelt: Man entwickelt sich noch. Die Gegenwart ist vielleicht noch etwas trübe, aber anders betrachtet lässt sich darin schon die Zukunft erblicken. Nun ist von den Bewohnern an den äußeren Grenzen des Landes rein gar nichts zu sehen. Weshalb die kluge Unkundige sich wieder auf die Landschaft konzentriert, auf die Weite des Horizonts, die sanften Wellen der Wiesen, das Gestolper der feldsteinübersäten Äcker, bis sie schließlich immer weiter in die Endlosigkeit vom Wind bewegter Getreideähren hineingezogen wird. Sie fährt durch Lindenalleen und Straßendörfer, über Katzenkopfpflaster, durch Blumenfelder zum Selbstschneiden mit Gladiolen, Rosen und Sonnenblumen, sie fährt an verfallenen Scheunen und an aufgemotzten Garagen vorbei, und ein Storch hebt ab. Am Straßenrand hockt ein Junge mit Zigarette, zwischen den Beinen kein Bier, sondern eine große Flasche Coca-Cola, die im Nachbardorf abgefüllt wurde, im Gewerbegebiet mit Containerbauten und Tankstellen und Billigmärkten, und da tritt sie etwas kräftiger aufs Gas, bis sie zu Sonnenuntergang Pferde in den Schilfgürteln von Flüsschen stehen sieht und Äpfel am Baum, einen Buchenwald, eine lichtdurchströmte Klosterruine, vor der ein Holzfeuer brennt, und wenig später einen Stier, der eine ganze Wiese allein begrast; ein weißer Koloss vor goldenem Mais. Und in der Ferne scheint ein Herrenhaus so barock wie die Sonne im Rückspiegel auf, während im Kulturradio Ian Shaw »Last Night, When We Were Young« zu hören ist, bis sie glauben wird, den Blues habe man in Brandenburg erfunden ... Wege und Wasser Im Westen schwimmt ein falber Strich,/Der Abendstern entzündet sich,/Schwer haucht der Dunst vom nahen Moore;/ Schlaftrunkne Schwäne streifen sacht/An Wasserbinsen und am Rohre. (Annette von Droste-Hülshoff ) Die Reise Wer das erste Mal nach Brandenburg kommt, hat entweder berufliche Gründe, fährt gern Fahrrad oder ist auf der Fahrt an die Ostsee aus Versehen falsch abgebogen. Vor der Wende soll es Menschen gegeben haben, die in Ermangelung eines Zeltplatzes an der Ostsee kurzerhand das von Kiefern umstandene Ufer eines brandenburgischen Sees zum begehrten Meeresstrand erklärten. Heute reist selten jemand an, um in der Prignitz, der Schorfheide, der Zauche, im Havelland, im Barnim oder dem Hohen Fläming Strandurlaub zu machen. Es gibt Wochenendausflügler, die sich den Spreewald begucken oder den Stechlin, den berühmtesten See der Mark. Es gibt Kulturinteressierte, die sich für ein, zwei Tage in einer der drei Preußenstädte Potsdam, Rheinsberg oder Neuruppin aufhalten, es gibt Jachtbesitzer, die von der Spree in die Havel und weiter in die Elbe fahren, es gibt Paddler auf den Fließen des Spreewalds, Radler in der Uckermark und Wanderer im Schlaubetal, aber sie alle sind unterwegs irgendwohin. Auf die eine oder andere Weise fährt man als Urlauber meistens durch Brandenburg durch. (Die einzigen Strandurlauber Brandenburgs, die ich kenne, sind Verwandte aus Cottbus, die einen Dauerzeltplatz in Großkoschen gemietet haben, aber Großkoschen liegt schon so gut wie in Sachsen). Als Kurt Tucholsky auf dem Weg von Berlin nach Schweden durch Brandenburg fuhr, beschrieb er dieses Vergnügen in seinem Roman Schloss Gripsholm so: »Es war ein heller, windiger Junitag - recht frisch, und diese Landschaft sah gut aufgeräumt und gereinigt aus - sie wartete auf den Sommer und sagte: Ich bin karg.« »Well in order«, sagte eine englische Freundin zu mir, als wir durch die Buchenallee spazierten, die im Park Sanssouci von der Orangerie zum Belvedere auf dem Klausberg führt. Auch sie war von Oxford nach Berlin auf der Durchreise und fand die Natur »gut in Schuss, aufgereiht und ordentlich«. » Ödes Grün «, nannte Theodor Fontane das Linumer Bruch, durch das er ebenfalls nur durchfuhr. Der berühmteste Chronist Brandenburgs war mit Kahn und Kutsche unterwegs auf seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg. »Nichts Lebendes wird hörbar als die Pelotons der von rechts und links her ins Wasser springenden Frösche«. Die Allee Das wichtigste Markenzeichen für Brandenburgs Natur eignet sich auch am besten zum Durchfahren: die Allee. Die Alleen sind neben den Neonazis und Schloss Sanssouci oft das Einzige, wovon Uneingeweihte gehört haben, bevor sie zum ersten Mal nach Brandenburg kommen, und zwar auf eine Weise, die gewöhnlich im Märchen Verwendung findet. Das Märchen über Brandenburg geht so: Um das Schloss-ohne-Sorgen, das güldene Lustschlösschen auf dem Weinberg, zu erreichen, das tief im Inneren des Landes verborgen liegt, muss man erst ein paar Gefahren bestehen. Im Labyrinth der Kiefernwälder treiben haarlose Männer mit straff geschnürten Stiefeln und Fliegerjacken ihr Unwesen. Wenn man unbeschadet zuerst ihnen und dann dem Labyrinth entkommt, gelangt man auf Straßen, auf denen dauernd Leute gegen Bäume fahren: die Allee. Nur die Mutigen, Tapferen und Schönen erreichen schließlich Schloss-ohne-Sorgen. Die brandenburgische Polizei griff die Grusel-Freude der Menschen dankbar auf. Da auf den zehntausend Kilometern Allee tatsächlich gelegentlich Kollisionen stattfinden, was bei den Ordnungshütern Überstunden und Stress verursacht, half das Verkehrsministerium sich und seinen Beamten aus. Man schaltete hammerharte pädagogische Werbespots im Kino. In einem dieser Spots fährt eine junge Frau mit dem Rad eine luftig durchsponnene, sommerlich stille Allee entlang. Sie radelt so dahin, das Lüftchen lüpft ihr Kleidchen, die Hollerbüsche wiegen sich, die Schmetterlinge schaukeln, aber als sie absteigt, klonkt ihre Beinprothese auf den Asphalt. Nur mit Mühe legt sie eine Blume vor das weiße Kreuz am Straßenrand.