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E-Book

Hermann Hesse

Das Leben des Glasperlenspielers

AutorHeimo Schwilk
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783492955881
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Kein deutscher Autor des 20. Jahrhunderts hat mehr Leser ­begeistert als Hermann Hesse. Sein Werk zählt zur Weltliteratur. Der renommierter Journalist Heimo Schwilk legt die große Biografie eines Dichters vor, der ebenso exzessiv und widersprüchlich lebte wie die Helden seiner Romane. Ein Buch über die Abgründe einer ­zerrissenen Persönlichkeit, über Krisen und Triumphe, die Liebe und ihr Scheitern.

Heimo Schwilk, geboren 1952 in Stuttgart, Dr. phil., ist Autor zahlreicher Bücher über Politik und Literatur. Seine großen Biografien über Ernst Jünger und Hermann Hesse wurden im In- und Ausland hoch gelobt. Er war lange Jahre Leitender Redakteur der Welt am Sonntag und lebt in Berlin. 1991 wurde er mit dem Theodor-Wolff-Preis für herausragenden Journalismus ausgezeichnet.

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Leseprobe
Vorwort   Als Hermann Hesse am 9. August?1962 im Alter von 85 Jahren starb, hinterließ er ein Werk von fast 40 Titeln, die inzwischen weltweit in geschätzten 125 Millionen Exemplaren verbreitet sind. Allein in den deutschsprachigen Ländern wurden annähernd 25?Millionen Bücher verkauft. Von rund 35 000?Briefen ist bislang ein Siebtel publiziert worden, Hesses Rezensionen füllen fünf Bände, die Sekundärliteratur zu Leben und Werk ganze Regale. Zahlreiche Materialienbände zu einzelnen Werken sind seit seinem Tod herausgekommen. Trotz dieser breiten Quellenbasis überrascht der Grundtenor der Urteilsbildung, der sich in den letzten Jahrzehnten kaum gewandelt hat. Wer sich mit Hermann Hesse beschäftigt, stößt sehr schnell auf eine Reihe von Allgemeinplätzen, mit denen man den irritierenden, geradezu unheimlichen Erfolg dieses Autors zu erklären versucht. Hesse sei der Dichter der Jugend und des Protests, ein Aufrührer gegen jede Autorität und Befürworter eines maximalen Individualismus. Sein phänomenaler Erfolg in den USA der Vietnamkriegsära habe mit dem zutiefst pazifistischen Charakter seines fernöstlich inspirierten Humanismus zu tun, die massenhafte Verbreitung seiner Bücher in Japan, China und Korea mit der Mittlerfunktion zwischen den Kulturen. Und in Deutschland teilt sich das Bild in den menschenscheuen, schizoiden Outsider (Steppenwolf) auf der einen und den aufgeklärten Kritiker einer »schwarzen Pädagogik« (Unterm Rad) auf der anderen Seite. Aber helfen solche Klischees wirklich, das Phänomen Hesse zu verstehen? Ist sein komplexes, spannungsvolles Werk tatsächlich Ausdruck einer durch und durch anarchischen Natur? Es ist an der Zeit, das eigentlich Faszinierende an Hermann Hesse herauszustellen, das sich am besten in einer Doppel­begrifflichkeit ausdrücken lässt: Dichten und Dienen. Ein Bild, das für Leben und Werk gleichermaßen gilt. Die Helden seiner Erzählungen und Romane sind ja, wie ihr Autor selbst, nicht bindungsscheu, sondern bindungsbedürftig, nicht an Willkür interessiert, sondern an Selbstverwirklichung. Hesse hat ein ganz eigenes, gleichsam aristotelisches Verständnis von Individualität entwickelt. Für ihn ist der Mensch nicht »frei geboren«, sondern auf ein bestimmtes, sein ureigenes Wesen angelegt, dem er in seinem Wirken Gestalt zu verleihen, dem er zu dienen hat. Diese seelische Zielgerichtetheit hat Folgen für das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft: Der Einzelne setzt seinen Eigen-Sinn gegen den Herden-Sinn. Protest und Revolte entspringen bei Hesse nicht einer bestimmten ideologischen Weltsicht, sondern kommen aus dem Misstrauen gegenüber jeder Weltanschauung, gegenüber allem Normierten, gegenüber jeder für verbindlich erklärten »Wahrheit«, die vom eigenen Weg ablenkt. Der Mensch, lehrt Hesse, müsse sich der einzig wirklich tragfähigen Bindung versichern, die von Ideologen nicht auszubeuten ist: der Treue zu sich selbst. Vermutlich haben die amerikanischen Leser genau diese radikale Subjektivität gespürt, die Hesses Protesten gegen Massenkultur, falsche Autoritäten, gegen Profit und Kriegstreiberei ihre besondere Authentizität verlieh. Die »Interior Journey« der Flower-Power-Generation war ja im Kern nicht nur psychedelischer Drogentrip und sexuelle Befreiung, sondern vor allem auch Meditation, Askese, Gemeinschaftserfahrung. Zu Hermann Hesses Echtheit gehört aber auch - eine Tatsache, die in der Forschung bislang eher verdrängt wurde - der Patriotismus, seine Liebe zu Deutschland und vor allem zur deutschen, idealistisch-romantischen Kultur, die er früh schon als das ihm Eigentüm­liche erkannt hatte und im Sommer 1914 für verteidigungswürdig erklärte. Hesse verstand sich zu keinem Zeitpunkt als Pazifist, er hatte drei Söhne, die ihren Wehrdienst in der Schweiz absolvierten, und hätte es für selbstverständlich gehalten, wenn sie ihre Heimat gegebenenfalls mit der Waffe in der Hand verteidigt hätten. Hermann Hesse war aber ebenso wenig der gärtnernde Idylliker von Montagnola, wie ihn seine Kritiker in den Fünfzigerjahren polemisch beschrieben. Er hatte eine Mission, verstand sich als Sachwalter des europäischen Erbes. Den Geist zu verteidigen gegen die Barbarei ist die Absicht seines Hauptwerks Das Glasperlenspiel, das von Anfang an als Manifest gegen den Nationalsozialismus gedacht war. Den Dienst am Geist leistet Josef Knecht, dessen Lebensgeschichte das Buch im Wesentlichen erzählt. Den Namen seines Protagonisten hat Hesse mit Bedacht gewählt, denn Diener eines ihn selbst transzendierenden Ideals, der Vorstellung von der Einheit hinter den Gegensätzen, die sich am sinnfälligsten in der Musik ausdrückt, will Knecht in allen Phasen seines Lebens sein - bis in den Tod. Dienst und Opfer bestimmen Hermann Hesses späte Schriften, die auch eine behutsame Wiederannäherung an die Werte des eigenen Elternhauses und die Rehabilitierung der väterlichen Welt mit ihrer ethisch-reli­giösen Erfahrung erkennen lassen. Wer den Weg des Eigensinns so konsequent geht wie Hermann Hesse, macht es auch seinen Weggefährten nicht leicht. Der ­dauernde, unabschließbare Prozess der Individuation hatte einen hohen Preis, nicht nur für den Suchenden und Zweifelnden selbst, sondern auch für jene, die ihn begleiteten, für die Eltern und Geschwister, die Freunde - vor allem aber für Hesses Frauen. Welchen Abgründen die »Heiterkeit« des Glasperlenspielers Hermann Hesse abgerungen ist, belegen nicht nur die autobiografischen Schriften, sondern auch die Tagebücher und die Korrespondenzen mit seinen Ehefrauen. Überhaupt die Frauen: Sie sind die wahren Heldinnen seines Lebens, und für den Biografen sind es gerade diese spannungsvollen Beziehungen zu Mia Bernoulli, Ruth Wenger und Ninon Dolbin, die Aufschluss geben über Hesses Versuch, die Freiheit des Schriftstellers mit der Fürsorge für die Familie zu verbinden. Dass er dabei zweimal scheiterte, gehört zur Tragik dieses alles in allem wunderbar gelungenen Lebens. Bei der Arbeit an dieser Biografie, die mich noch einmal in meine eigene Schulzeit als Seminarist in Maulbronn zurückführte, habe ich vielerlei Anregungen empfangen. Ich danke besonders Rüdiger Safranski und Uwe Wolff für die Gespräche über das Wesen des Biografischen, die Wechselbeziehungen zwischen Leben und Werk des schöpferischen Menschen. Mein Dank gilt aber auch den Freunden Ulrich Schacht, Thomas Scheuffelen sowie Angelika und Martin Thoemmes, die mir wichtige Hinweise gaben. Hans-Eberhard Dentler, dem namhaften Cellisten und Kenner des Bachschen ?uvres, verdanke ich den musikphilosophischen Schlüssel zum Verständnis von Hesses zentralem Werk Das Glasperlenspiel. Nicht zuletzt danke ich den Lektorinnen des Piper Verlags Renate Dörner und Kristin Rotter, die das Buchprojekt mit viel Geduld und Sachverstand in all seinen Phasen begleiteten.   Heimo Schwilk Berlin, im Januar 2012     ERSTES KAPITEL Die Flucht: Von Maulbronn über Sternenfels nach Kürnbach. Der Club der toten Dichter. »Die Odyssee ist kein Kochbuch.« Die Nacht im Strohhaufen. Der verborgene Gott. Licht auf der Dornenkrone. Mit dem Landjäger zurück ins Kloster. »Kennst Du das Land, wo keine Blumen blühen.« Karzerstrafe. »Bitte liebt mich noch wie vorher.« Morddrohung. Hermann muss das Seminar verlassen. Absturz in den Wahnsinn? Zum Teufelsaustreiber nach Bad Boll   Nichts wird so sein wie vorher. Das Herz rast, heiße Wellen treiben ihn voran. Der junge Mann spürt, dass diese Entscheidung sein Leben verändern wird. Eben ist er durch die Mauerpforte an der Nordwestecke des Klosters geschlüpft, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Hinter den in blau-weißem Dunst schwimmenden Hügeln am Horizont ruft keine Glocke zum Aufstehen, zur Lektion, zum Mittagstisch. Auf dem Höhenweg über dem Kloster schwenkt er seine grüne Mütze, um sich einer Gruppe von Mitschülern bemerkbar zu machen, die am Brunnen vor dem Seminargebäude zur Mittagspause zusammensteht. Einer ruft etwas, winkt, aber sein Ruf verhallt zwischen den Mauern von Jagdschloss und Abtshaus. Niemand würde ihm folgen, das weiß er. Keiner hat wie er den Mut, frech die Seminarordnung zu durchbrechen, den Schritt ins Freie zu wagen. Man lästert gegen die Repetenten, reimt Spottverse, aber wenn einer der Lehrer das Zimmer betritt, verstummen die meisten, machen ihren Bückling und erweisen sich als dankbar-gefällige Stipendiaten. Hermann Hesse aus dem Pietistenstädtchen Calw ist anders. Einen der Lehrer liebt er, die anderen sind ihm gleichgültig, nur einer ist ihm verhasst. Das Maulbronner Klosterseminar er- scheint ihm als ein durchaus angenehmer Ort, keine »Knabenpresse«, in die ehrgeizige Eltern ihre Söhne zwingen, um sich Ausbildungskosten zu sparen - oder weil sie auf eine glanzvolle Karriere ihres Sprösslings hoffen. »Alles zusammen bildet ein festes, schönes Band zwischen Allen und nirgends findet man einen Zwang«, hat er noch vor drei Wochen, am 14.?Februar 1892, an seine Mutter geschrieben. Der Fünfzehnjährige ist nicht nur hier, weil der Besuch der württembergischen Eliteschule Familientradition ist. Sein Großvater, ein Onkel und sein Bruder Karl haben das evangelische Seminar höchst erfolgreich absolviert, und auch er selbst hat das berühmt-berüchtigte »Landexamen«, die Eingangsprüfung für die Klosterschulen Maulbronn, Blaubeuren, Schöntal und Urach, ohne Mühe bestanden. Doch nicht die Aussicht auf eine Pfarrstelle hat ihn beflügelt, sich in einer Göppinger Lateinschule auf das Landexamen vorbereiten zu lassen. Er wusste von Anfang an, wie hart die Paukerei für diese Prüfung sein würde, denn von mehreren Hundert hochbegabten Bewerbern werden nur fünfundvierzig ins Seminar aufgenommen. Hermann hat ganz andere Pläne, die er keineswegs verschweigt, die aber von seinen Eltern als Grille eines Pubertierenden aufgefasst werden: Hermann Hesse will Dichter werden - oder gar nichts. Diesen Traum glaubt er gerade hier in Maulbronn, wo auch sein Vorbild Hölderlin zur Schule ging, verwirklichen zu können. Als Hermann den Tiefen See oberhalb des Klosters erreicht, kommt ihm das Gedicht in den Sinn, das er gestern noch seinen Stubenkameraden vorgetragen hat und das ihm als »ossianische Schwärmerei« eines Lebensmüden ausgelegt worden ist:   Ich steh allein auf dem Berge, Allein mit all meinem Weh, Und schaue hinab in die Weiten, Hinein in den ruhigen See. Der See ist so blau wie der Himmel Da wird mir so eigen zumut, Als sollt' ich hinein in die Fluten, Als wäre dann alles gut.   Hermann schüttelt den Kopf, die Kerle wissen eben nicht, dass der Dichter seine Gedichte nicht wörtlich verstanden wissen möchte, nicht als Aufschrei oder Bekenntnis, sondern dass er einen menschlichen Seelenton treffen will, dessen Schmerzlichkeit im Versmaß zur Ruhe kommt. Hermann lässt das in der Mittagssonne silbern aufblinkende Wasser hinter sich zurück und wandert hinauf zur Hügelkette im Norden Maulbronns, die vom Scheuelberg beherrscht wird. Dort ist er öfter schon mit Freunden gewesen, an milden Herbsttagen, um den freien Blick über den Kraichgau zu genießen, die Weinberge und bewaldeten Kämme von Stromberg und Heuchelberg, wo das Königreich Württemberg und das Herzogtum Baden zusammenstoßen. Dort oben lasen sie, heimliche Mitglieder im Club der toten Dichter, die himmelstürmenden Oden Klopstocks und Hölderlins, deklamierten Schiller, Shakespeare und Goethe mit verteilten Rollen. Hesse trumpfte auf mit eigenen Versen, die, an Heines zärtlichem Spott geschult, ihre Wirkung nicht verfehlten. Er fühlt sich in dem kleinen Kreis der Literaturbegeisterten als der eigentlich Berufene, er allein strebt wie hundert Jahre vor ihm Hölderlin »nach Klopstockgröße« und dem »sonnenbenachbarten Flug der Großen«.    Bereits in Calw und Göppingen hatten die Deutschlehrer einräumen müssen, dass sie an die Aufsätze dieses so anschaulich formulierenden Schülers selbst nicht heranreichen konnten, dass der immer ein wenig aufsässige Hermann Hesse etwas Genialisches hatte. Auch als Seminarist setzt er diese Tradition des besten Aufsatzschreibers fort, und beim Landexamen hatte er die Kühnheit, seine Arbeit in Hexametern abzufassen. Dass ihm dies von seinen Maulbronner Kameraden nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Neid, bisweilen sogar Häme und Spott einträgt, ist nur natürlich. Im Streit braust Hermann oft auf, ist jähzornig bis zur körperlichen Aggression, um von einem Moment zum anderen einzulenken oder einfach wortlos wegzugehen. Dann ist sein Blick voller Verachtung, die jedoch plötzlich wieder in Selbstmitleid umschlagen kann. Der Dichterhochmut ist gepaart mit Verletzlichkeit und tiefer, leicht ins Depressive kippender Unsicherheit. Auch jetzt führt er ein Bändchen Schiller mit sich, dazu ein französisches Übungsbuch, da um 14 Uhr eigentlich die ungeliebte Sprachstunde beginnen soll, die er nun versäumen wird. In der Eile hat er ein einziges Brötchen in die dünne Leinenjacke ge- steckt, aber als er bei strahlendem Sonnenschein über den Klosterberg und das freie Feld des Salzackers den Köbler erreicht, verspürt er keinen Hunger, dafür ist sein Gaumen wie ausgedörrt; jetzt vermisst er den Schoppen Bier, den die Seminaristen drei Mal die Woche trinken dürfen. Beim Eintritt in den Buchenwald erfasst ihn ein kalter Schauer, er bedauert, ohne Mantel und Handschuhe losgezogen zu sein. Die Schuhe sind längst durchnässt, die Hände klamm. In Wildschweinkuhlen leuchten vereiste Schneereste, herabgestürzte Äste und von Blitzeinschlägen ausgeglühte Baumruinen verstellen ihm den Weg. Da fällt ihm ein, dass er diese winterlich-düstere Szenerie ja längst vorweggenommen hat in einem Gedicht, das ihm jetzt zu beweisen scheint, wie sehr es seine Berufung ist, Dichter zu sein und damit über die Gabe zu verfügen, der harten Realität auf den Flügeln der Poesie zu entkommen:   Ich bin in den Wald gegangen Und habe lange geweint, das Herz voll Weh und Verlangen, Und einsam und ohne Freund.   Die Blätter haben gewimmert, Der Sturmwind hat laut getost, Ein einsamer Stern hat geschimmert - Und das war mein ganzer Trost.   Über die Straße nach Freudenstein gelangt Hesse wieder aufs freie Feld, an eine ausgedehnte, sanft ansteigende Lichtung, die auf den quer gelagerten Schulberg zuführt. Im Südwesten wird sie vom Höhenzug des Köbler zum Kloster hin abgeschlossen. Nun atmet er freiere Luft und marschiert wieder auf offenem Feld und in der hellen Sonne hoch zum Kamm des Scheuelbergs, rasch an einem einsamen Gehöft vorbei, um an der froschgrünen Mütze nicht als entlaufener Seminarist erkannt zu werden. Dann senkt sich der Waldweg wieder hinab ins Tal, Diefenbach lässt er rechts liegen und stolpert in der Dämmerung durch eine feuchte Tannenschonung, aus der gespenstisch das hohle Klopfen eines Spechts ertönt. Aus einem nahen Gehöft dringt bedrohliches Hundegebell - nur weiter, weiter. Natürlich weiß er, dass diese Flucht irgendwann enden, dass auch ein Taugenichts irgendwo ankommen muss, wenn sein romantischer Ausbruch einen höheren Sinn haben soll. Doch der Sinn steckt nicht im Ziel, sondern im Aufbruch, nicht im Durchbrechen der Ordnung, sondern im Erzwingen des Eigenen. Das Eigene liegt für Hermann Hesse begraben unter all dem Wissen, das er im Seminar anhäufen muss, auch wenn er anfänglich von der Ernsthaftigkeit der Lehrenden begeistert war, die den Klosterzöglingen 41 Wochenstunden Unterricht auferlegen. Zusätzlich zu den schulischen Übungen in Metrik und Versgeschichte hat Hermann sich selbst ein Extrapensum auferlegt und das Handbuch der deutschen Prosa studiert, um sein Stilgefühl zu entwickeln. Doch Freunden gegenüber klagt er, im Griechischunterricht lese man Homer, als sei die Odyssee ein Kochbuch: »Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort wie­dergekäut, ekelhaft!« Wenn einer griechisch zu leben, wie die Griechen zu dichten versuche, werde er rausgeschmissen. Einen Aufsatz erhielt er zurück mit der kritischen Bemerkung: »Sie besitzen Phantasie!!«4 Das kannte Hermann ja schon aus Calw: Die Dichter werden von den Philistern hoch verehrt, ihre Werke gelesen und in den Bibliotheken aufgestellt, aber die eigenen Söhne dürfen auf gar keinen Fall den künstlerischen Weg einschlagen, sie sollen glaubensstarke Pfarrer, erfolgreiche Geschäftsleute oder tüchtige Beamte werden. Dichter, so die bürgerliche Vorstellung, kann man nicht werden, Dichter i s t man. Eine Ausbildung zum Dichter gibt es nicht, leider, das weiß er jetzt, auch nicht in einer so den Musen geweihten Bildungsanstalt wie dem Maulbronner Seminar, wo man sich unablässig mit Cicero, Homer, Livius, Ovid und Xenophon beschäftigt. Hermann kennt die Folgen solch einer Künstler-Anmaßung aus der eigenen Familie, denn sein Bruder Theodor wollte Opernsänger werden und brach da- für seine Apothekerlehre ab - am Ende kehrte er als gescheiterter Künstler reumütig zur Pharmazie zurück.  Er, Hermann Hesse, wird nirgendwohin reumütig zurückkehren! Seine Freiheitsliebe ist nicht nur durch die Lektüre von Schillers Dramen befeuert, die er geradezu schwärmerisch verehrt und deshalb immer wieder liest, sondern sie steckt tief in ihm, sie ist der innerste Kern seines Wesens. Die Rücksichtslosigkeit und Sturheit, mit der er seinen Eigen-Sinn durchsetzt, ist für alle, die mit ihm zu tun haben, eine ständige Herausforderung. Hermann weiß das, spürt aber, dass er gar nicht anders kann, auch wenn er, besonders gegenüber seinen Eltern, ein schlechtes Gewissen dabei empfindet und es immer auch den anderen recht machen will. Liebe und Freundschaft sind die einzigen Gefühle, die seinen unbändigen Durchsetzungswillen beschränken.
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