Schottland ist nicht England
Wir Deutsche sagen ja gern »England«, wenn wir eigentlich Großbritannien meinen. Das heißt: Wir beziehen Schottland, Wales und Nordirland stillschweigend in England ein, was übrigens fast alle Völker auf dem europäischen Kontinent tun. Nichts falscher als das.
Auf den Britischen Inseln ist es zwar möglich, einen Engländer als Schotten anzusprechen; man gibt ihm damit, humorvoll oder ganz ernsthaft, zu verstehen, daß man ihn für geizig hält. Umgekehrt sei es jedoch niemandem geraten, einen waschechten Schotten als »Engländer« zu titulieren. Er wäre zutiefst beleidigt – ganz wie ein Badener, der als »Schwabe« angesprochen wird oder umgekehrt – und fühlte sich schwer in seiner nationalen Ehre gekränkt. Denn Schottland bedeutet ihm mehr – oder sagen wir: etwas anderes – als einem Engländer England.
Das hat historische Gründe. Zur Identität Englands gehört das Empire, die halbe Welt, das Commonwealth, was alles, wenn auch kaum noch existent, die Engländer zum weltläufigsten Volk des Erdballs gemacht hat. Englisch spricht man allüberall auf der Welt, mit Maßen sogar in Schottland.
Dem schottischen England merkt man freilich immer noch an, daß es sich nicht um die Originalsprache des Landes handelt. Das war Gälisch – bis die Engländer Mitte des 18. Jahrhunderts seinen Gebrauch verboten. Nie vergessen werde ich den Zugführer, der kurz nach der Grenze bei Berwick die Abteiltür aufriß und uns stolz entgegenschmetterte: This is my country! Dabei sah das Land, das draußen vorüberflog, nicht viel anders aus als dasjenige kurz zuvor. Aber er hielt uns wohl für Engländer und wollte demonstrativ zum Ausdruck bringen, daß ihm alles südlich des Tweed gestohlen bleiben und er sich nur hier und nirgends anders zu Hause fühlen könne.
Jene Weltläufigkeit – heute Singapur und morgen Perranporth –, die den Engländer bei aller speziellen Heimatliebe auszeichnet, fehlt dem Schotten, wie allen Völkern keltischen Ursprungs, ganz und gar. Wenn er den Tweed überschreitet, befindet er sich im Ausland und bekommt Heimweh. Nach London gehen bestenfalls die Intellektuellen, die ja immer anders reagieren als der Durchschnitt.
Das Wort für Land, country, sprach der Zugschaffner übrigens »countrry« aus, denn die Schotten rollen das »r« wie weiland Adele Sandrock. Sie kennen ja auch ein »ch«, etwa in loch (See), das sie guttural aussprechen wie wir. Und damit, wie wir sehen werden, haben sich die Ähnlichkeiten mit der deutschen Sprache noch nicht einmal erschöpft. Immerhin haben sie den Engländern, die so etwas nicht aussprechen können, ein unübersetzbares Schimpfwort zugedacht, das – wahrscheinlich bewußt – mit einem »ch« endet, nämlich sassenach. Damit können allerdings auch die Leute aus den Lowlands gemeint sein, die im Gegensatz zu denen der Highlands traditionell mit England sympathisieren.
Den Zugführer habe ich vor Jahrzehnten erlebt. Aber jedesmal, wenn ich über die schottische Grenze fahre, meine ich, sein This is my country im Ohr zu haben. Doch erst kürzlich habe ich in einem Bus auch das Umgekehrte erlebt, inmitten einer Reisegruppe, lauter Sassenachs, die wieder dem Süden zustrebte. Eine Dame seufzte, als wir, diesmal bei Gretna Green, die so gut wie nicht vorhandene Grenze überquerten, ihrer Nachbarin sichtlich erleichtert zu: We are in England again, dear! Es klang, als sei sie nach zehntägiger Strapaze den Bedrohungen durch die wilden Bergschotten nur um Haaresbreite entronnen.
Ein unheimliches Land, dieses Schottland, vor allem im Norden und, jedenfalls für sensible englische Gemüter, umgekehrt wohl auch. Mögen England und Schottland nebst Wales und Nordirland das United Kingdom of Great Britain, das Vereinigte Königreich Großbritannien, bilden, so sehr vereinigt sind die Länder jedoch nicht, daß man sie, selbst als Kontinentaleuropäer, in einen Topf werfen oder über einen Kamm scheren sollte. Es gibt viele und oft eklatante Unterschiede.
Man verzeihe mir, wenn ich mit denen beginne, die völkerpsychologisch und geopolitisch nicht zu den wichtigsten gezählt werden können, die aber jedem schlichten Reisenden sofort erfreulich auffallen, vor allem wenn er aus England kommt:
1. Es wird in Schottland besser geheizt.
2. Es zieht nicht überall aus sämtlichen Ecken.
3. Das Essen ist definitiv (und, was die englische Küche betrifft: überhaupt) gewürzt.
4. Kaffee und Tee entsprechen den Getränken, die man auf dem Kontinent darunter versteht, besonders ersteres, und:
5. Je nördlicher man kommt, desto billiger wird alles.
Banalitäten? Ich kann mich dabei auf Samuel Johnson berufen, den wohl bedeutendsten englischen Literaten des 18. Jahrhunderts, auch wenn die Aufzählung auf das Schottland seiner Tage noch nicht zutraf. Er bereiste mit seinem jungen Begleiter James Boswell die Highlands im Jahre 1773 in der – wie ich hinzufügen möchte: typisch englischen – Hoffnung, dort oben auf einen noch gründlich barbarischen Volksstamm zu stoßen. Er wurde bitter enttäuscht, denn er stieß statt dessen auf ein Land zwar ohne Straßen, aber mit einer eigenen, beeindruckenden Kultur. Beide, Johnson wie auch Boswell, haben je ein Buch über diese Reise publiziert.
Schon ziemlich zu Anfang seiner Darstellung über Reisen nach den westlichen Inseln von Schottland, in Banff, entschuldigt sich Johnson, bis heute einer der besten Stilisten englischer Sprache, dafür, daß er anscheinend nur über Lappalien berichtet; in diesem Fall die schottischen Schiebefenster, die, wie er beklagt, keine weights and pullies, Gegengewichte und Schiebevorrichtungen, besaßen. Er moniert zugleich, daß die Schotten selten oder nie ihre Fenster aufmachen, vermißt also die aus dem guten, alten England gewohnte Zugluft.
Dann schreibt er zu seiner Rechtfertigung: »Man sollte nie vergessen, daß das Leben nicht aus einer Folge glorreicher Ereignisse oder kultivierter Vergnügungen besteht; der größte Teil unserer Zeit vergeht vielmehr mit dem Befolgen reiner Notwendigkeiten, der Ausübung täglicher Pflichten, mit der Beseitigung kleiner Unbequemlichkeiten, auf der Suche nach belangloser Unterhaltung; und wir sind entweder gut oder schlecht zuwege, je nachdem der Strom des Lebens sanft an uns vorüberstreicht oder er durch kleine Hindernisse und ständige Unterbrechungen Steine in den Weg gelegt bekommt.«
Das gilt noch heute, und es gilt auch heute noch auf Reisen. Schottland ist ein wunderbares, fast ideales Reiseland, denn es bietet zweierlei: größtmöglichen Komfort nach englischem Vorbild, auch kleinstmöglichen, je nach Geldbeutel; sowie ein Erlebnis, das zumindest europäische Länder nur noch selten bieten können: Einsamkeit. »Es war eine der schönsten Reisen in meinem Leben, jedenfalls die poetischste«, verriet Theodor Fontane in seinem Vortrag Das schottische Hochland und seine Bewohner. »Ich habe nie Einsameres durchschritten.« Noch heute kann man in den nördlichen Highlands tagelang wandern, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen.
Der Generation unserer Urgroßväter galt Schottland als bevorzugtes Reiseziel. Das hing mit den romantisierenden Historienwälzer Sir Walter Scotts zusammen. Obwohl der Autor am Ende seines Lebens bankrott machte, waren seine Bücher weltweite Bestseller, die auch in Deutschland begeistert verschlungen wurden. Fontane zum Beispiel wurde durch Ivanhoe und Kenilworth in den hohen Norden getrieben. Am Loch Leven in den Lowlands um Edinburgh beschloß er, seine heimische Mark Brandenburg so zu bereisen, wie es Brandenburger damals mit Schottland machten. Der Loch Leven erinnerte ihn merkwürdigerweise an den Rheinsberger See. Theodor Fontane besaß ein entflammbares Herz, aber auch einen unbestechlich nüchternen Blick, der dem Samuel Johnsons in nichts nachstand. So hat er, ebenfalls am Loch Leven, schon im frühesten Tourismuszeitalter vor den Gefahren steriler »Von-Höhepunkt-zu-Höhepunkt-Reisen« gewarnt.
»Es ist eine Unsitte«, lesen wir, »die, wie überall, so auch in Schottland herrscht, dem Reisenden gleichsam eine bestimmte Reiseroute, eine bestimmte Reihenfolge von Sehenswürdigkeiten aufzudrängen. Irgendeine Eisenbahn- oder Dampfschiffahrt-Kompagnie findet es für gut, diesen See, diesen Berg, diese Insel als das Schönste und Sehenswerteste festzusetzen; regelmäßige Fahrten werden eingerichtet, bequeme Hotels wachsen wie Pilze aus der Erde, Stellwagen und Postillione, Bootsführer und Dudelsackpfeifer, alles tritt in den Dienst der Gesellschaft, und der Reisende, der ein Mensch ist und in möglichst kurzer Zeit mit möglichst wenig Geld das Möglichste sehen möchte, überläßt sich wie ein Gepäckstück diesen Entrepreneurs (Veranstaltern) und bringt sich dadurch um den vielleicht höchsten Reiz des Reisens, um den Reiz, das Besondere, das Verborgene, das Unalltägliche gesehen zu haben. Eine kleine Schönheit, die wir für uns selber haben, ist uns lieber wie die große und allgemeine.«
Man kann diese Aussage mit Ausnahme der Stellwagen und Postillione, für die man Luxusbusse und Reiseführer einsetzen könnte –, ohne weiteres auf die Gegenwart beziehen, auch wenn sie vor allem für die noch heute zivilisierteren Lowlands im Süden galt. Aber die Verführung durch das eigene Auto oder den Mietwagen läßt auch in den Highlands so manchen die Route nach den Sternchen des Baedecker abrasen. In Schottland, Fontane hat...