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E-Book

Gebrauchsanweisung für Tibet

AutorUli Franz
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783492971997
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Kennen Sie Tenzin Gyatso? Nein? Er ist der XIV. Dalai Lama, der prominenteste Tibeter und ebenso ein Mythos wie seine Heimat, von der man sagt, sie sei dem Staub der Erde entrückt und dem Himmel nahe. So wie der Buddhismus viel mehr verkörpert als nur eine Religion, so dient Tibet, das »Land des Schneelöwen«, traditionell als Zufluchtsort für Reisende aus dem Westen. Zwischen der unnachgiebigen Großmacht China im Norden und dem kleinen Königreich Nepal im Süden liegt auf rund 4000 Metern, wo die höchste Zugstrecke der Welt verläuft und die Luft spürbar dünn wird, dieses Land der Ebenen bis zum Horizont und ewig weißer Himalajagipfel, versteckter Mönchsklöster und erhabener Kultur - mit Yakfleisch und fettigem Buttertee nicht unbedingt Ziel für Feinschmecker, aber für Naturfreunde, Bergsteiger und spirituelle Sinnsucher von überallher.

Uli Franz, geboren 1949, lebt als Schriftsteller in München und auf der kroatischen Insel Bra?. Das Dach der Welt betrat er erstmals vor über einem Jahrzehnt von Nepal, aber auch von China aus, wo er in Peking drei Jahre als Korrespondent und Lektor tätig war. Zuletzt erschienen der historische Roman 'Im Schatten des Himmels' und der Bildband 'Chinas Heilige Berge'.

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Leseprobe

Der Erde entrückt, den Tränen nahe

Zwischen zwei Welten liegt Tibet. Zwischen dem kleinen Nepal im Süden, wo die Bougainvillea violett blüht und tibetische Lamas täglich ihre Andacht zelebrieren. Zwischen ihrem Exil und dem gigantischen China im Norden, wo die Menschenfülle lärmend wächst und die Modernität aus allen Fenstern schaut, liegt Tibet. Eingezwängt zu sagen wäre falsch, denn Tibet ist ein unendlich weiter Raum, das Dach dieser beiden Welten.

Nepal ist in vielem sanfter noch als Indien. Kathmandu, die Stadt, die im Mief der Zweitakter erstickt, hat trotz allem – trotz Müll, Fäkaliendünsten und Essensgerüchen – etwas Heimeliges. Auch die schmutzstarrenden Straßenkids und die heiligen Kühe, die es sich auf dem warmen Asphalt bequem gemacht haben, wirken gemütlich. Die sanften Menschen an den Südhängen des Himalaja unterscheiden sich erheblich von dem Menschenschlag jenseits der Berge. Die Nepali haben viel weichere Gesichter als die Tibeter, und sie sind zierlicher gebaut. Zwischen ihnen und ihren Nachbarn gibt es keine überbordende Freundschaft. Wer in Kathmandu landet, bringt noch die Romantisierung Tibets mit und findet sie bestätigt, wenn er die Mantra-Gesänge der Lamas hört und die gläubigen Tibeter mit ihren Gebetsmühlen sieht. Immerhin leben 50 000 Tibeter in Kathmandu, dem südlichen Tor zu Tibet.

Noch bevor Tibet im Westen mit Namen bekannt war, kursierten Gerüchte über sagenhafte Riesenameisen und furchterregende Wesen im Himalaja. Diese mythischen Geschichten verdankte das Altertum dem griechischen Geschichtsschreiber Herodot und Claudius Ptolemäus, dem alexandrinischen Astronomen und Mathematiker. In der Neuzeit wird Tibet kaum weniger romantisiert, denn das Schneeland ist – mit oder ohne Yeti – von einem Mythos umwoben. Im hohen Tibet gibt es noch einen Horizont, eine Orientierungslinie, die dem Menschen des 21. Jahrhunderts verlorenzugehen droht. Auch die chinesische Besetzung hat die Welt nicht ernüchtert, sondern den Tibet-Mythos weiter geschürt; Tibet ist heute nicht nur ein geheimnisvolles, sondern auch ein geschundenes Land. Die Tibetverklärung fand im Jahr 1933 neue Nahrung, als James Hilton in seinem Buch Lost Horizon Tibet einen sagenhaften Namen gab: Shangri-La. Der Brite schwärmte in einem fort, weil er von jenem Land tausendmal gehört, es aber nie gesehen hatte. Wie ist nun Tibet?

Tibet ist schweigsam, ohne Menschengeschrei, ohne Geplapper, ohne den Lärm der Städte. Wenn es in Lhasa laut zugeht, dann ist es der Lärm der Chinesen. Tibets Kälte ist eine klare Kälte, eine der Höhe und des Schnees. Tibets Wärme ist eine innere Wärme, die der körperlich Strapazierte als ein tiefes seelisches Glücksgefühl empfindet. Tibet scheint nackt, eine Welt ohne Wiesen, ohne Bäume zu sein. Aber tatsächlich trägt Tibet ein Schmuckkleid aus Stein einer ewigen Zeit.

Wer Tibet bereist hat, der definiert sich neu, der rückt sein Denken und Fühlen neu zurecht. So kann er nach seiner Rückkehr den Bauch besser vom Kopf trennen, das heißt, er kann beide zu einer neuen Einheit fügen. Ein Tibetreisender fühlt sich wie ein Astronaut, der sich anschickt, einen unwirtlichen Planeten zu betreten. Der Blick aus dem Bullauge eines Jets hoch über den Wüsten Pakistans erinnert an das Durchqueren der tibetischen Weiten. Im Flug zerteilt der Jet das Himmelsblau und läßt Wolkenflöckchen unter sich. Im Flug ist die Erdkrümmung deutlich wahrzunehmen. Wer das weite tibetische Hochland durchquert, dem scheint es, als durchpflüge er Himmelsblau und dahinziehende Wolken. Und nach stundenlanger Fahrt über Schotterpisten erliegt der Reisende der Illusion, am Ende des leeren, weiten Raumes gar die Erdkrümmung zu erblicken. Die Kargheit sorgt dafür, daß sich Wahrnehmung und Imagination vermischen. Das Durchqueren dieser Naturkulisse prägt nachhaltiger als jede menschliche Begegnung.

Tibet ist kein fashionables Reiseland. Dorthin zieht es einen, wenn man reif dafür ist. Dann aber gerät die Reise zur Prüfung. Nach jeder großen Reise sieht man die Welt mit anderen Augen, nach einer Tibetreise sieht man sie radikaler. Tibet wird schwerlich Zustände erleben, wie Heinrich Heine sie einst in Italien beklagte: Man könne »sich keinen italienischen Zitronenbaum mehr denken ohne eine Engländerin, die daran riecht«.

An einem wird auch in Zukunft nicht zu rütteln sein: Tibet wird zum Fiasko für jeden, der sich nicht körperlich und mental genügend vorbereitet. Die Höhe, die Einöde, der Wind, der Staub, die nächtliche Kälte und die Hitze des Tages nagen an der Gesundheit und erfordern beachtliche geistige Stabilität. Eingespannt in den Berufsalltag, sind wir verführt, uns auf die gut ausgerüstete Reiseapotheke zu verlassen. Schulmedizinisches wie Aspirin, Paracetamol, Imodium und Breitband-Antibiotika fehlen genausowenig wie Diamox, ein populäres Medikament gegen Höhenkrankheit. Tabletten, vor allem starke Tabletten wie Diamox, blockieren die Kommunikation, die Begegnung zwischen Natur und Mensch. Wer auf über 5000 Meter Höhe dauernd Tabletten einwirft, der spürt seinen Atem, Herzschlag und Puls nicht mehr unverfälscht. Er vernebelt sich die Sinne und handelt wie ein Verletzter, der eine eiternde Wunde mit einem Heftpflaster versiegelt. Ja, er putscht sich auf und riskiert nach dem Sieg über die »Höhe« eine viel tiefere Erschöpfung als ohne Chemie.

Im schlimmsten Fall kann es zu Durchfall, Erbrechen, Schlaflosigkeit, Frieren und Sodbrennen kommen. Wer all dies für Übertreibung hält, der möge sich in großer Höhe nur mal einen Tag lang mit zwei, drei Müsliriegeln verpflegen. Schon bei einem so harmlosen Nahrungsexperiment wie diesem stellt sich sehr leicht eine Magenübersäuerung ein. Eine Reiseapotheke ist allemal vonnöten, doch dem sportlich Trainierten reicht auch Alternatives wie Spirulina, Tigerbalsam, Baldrian und Aktivkohle.

Auf der Höhe muß das Herz so pumpen, daß es durchaus schmerzen kann. Offenbart der Schmerz nun schon den Höhenrausch? Schwer zu sagen! Beim Höhenrausch ist es wie beim Rausch auf niedriger Meereshöhe – der eine verträgt mehr als der andere. Genaugenommen ist ein Höhenrausch ziemlich vertrackt, denn ab 2800 Höhenmeter kann es auch den Trainierten treffen. Junge Gipfelstürmer sind sogar anfälliger als alte Hasen, weil sie ihr Ziel ungestümer angehen. Gegen den Höhenkoller gibt es weder Prophylaxe noch vorbeugende Untersuchungen, weil er gar keine richtige Krankheit ist. Zum Glück wissen wir heute, was in der Höhe im Körper passiert, und sind nicht mehr so ahnungslos wie Johannes Grueber, der Linzer Jesuit, der im Jahre 1660 Tibet durchquerte und die Höhenkrankheit noch auf die »kräftigen Ausdünstungen mancher Kräuter« zurückführte, die in der dünnen Luft lebensgefährlich seien.

In großer Höhe reagiert der menschliche Körper wie ein Ottomotor, der den falschen Sprit erhält. Seine Leistung fällt ab, er gerät ins Stottern und geht beim Gasgeben und zu langer Fahrt kaputt. Der »falsche Sprit« entspricht einem zu geringen Luftdruck. Beträgt auf Meereshöhe der Luftdruck 1013 Millibar (mbar), so bewegt er sich auf der Höhe von Lhasa, in 3658 Meter, um die 660 Millibar und erreicht in Westtibet – rund 5000 Meter – nur noch knapp die Hälfte, nämlich 553 Millibar. Die Formel, die es sich zu merken gilt, lautet: Mit ansteigender Höhe sinkt der Luftdruck. Da sich aber der Luftcocktail nicht ändert, stets sind es 21 Prozent Sauerstoff, erhalten unsere verwöhnten Lungen in der Höhe weniger Sauerstoff. Prompt kommt es in der Brust zu Sensationen, weil der Sauerstoffteil- oder Sauerstoffpartialdruck in der Atemluft abnimmt. Der Flachländer muß mehr und schneller schnaufen. Diese Quälerei nennt der Mediziner Adaption. Viel Luftholen erhöht bekanntlich den Puls. Der Körper gerät unter Streß, er muß mehr rote Blutkörperchen bilden. Die Veränderung im Blutbild kostet wiederum Energie und macht durstig. Deshalb der dringende Rat: Trinken, trinken Sie, bis die Flüssigkeit Ihnen zu den Ohren rauskommt. Die Trinkkur ist besser als jedes Schmerzmittel, denn sie tilgt nicht nur den Kopfschmerz, sondern verdünnt auch das eingedickte Blut.

Mediziner unterscheiden zwischen der akuten Höhenkrankheit, die ab 2800 Höhenmetern Kopfschmerz, Übelkeit, Schlaf- und Appetitlosigkeit hervorruft, und der schweren Höhenkrankheit, die sich über 5000 Meter mit Erbrechen, Schwindel, Atemnot und Sehstörungen ankündigt. Ihr wahres Gesicht offenbaren beide erst nach einem halben Tag. Wer sich bei der Landung in Lhasa noch pudelwohl fühlt, der sollte wissen, des Pudels Kern zeigt sich erst nachts, wenn der Körper zur Ruhe kommen will. Auf Lhasas Höhe und höher sind vor allem die ersten Nächte schlimm, das Herz rast, die Atmung wird panikartig flach wie unter Wasser. Die Schleimhäute sind geschwollen, die Nase ist verstopft. Die Haut fühlt sich hitzig an, alle Organe arbeiten auf Hochtouren, als hätte man drei Kannen Kaffee injiziert bekommen. Auch der Geist ist überaus gequält. Jeder lebt in seiner Brust und fühlt in sich hinein, ob sein Herz schon flimmert. Die Angst wird verstärkt, da man vom Tibetplateau nicht so einfach »absteigen« kann. Der Rat angelsächsischer Bergsteiger go high, sleep down klingt hier wie Hohn. Tagelange Fahrten sind notwendig, und der Flug nach Kathmandu oder Chengdu geht erst wieder in ein paar Tagen.

Doch keine Panik! Die besten Hotels in Lhasa verfügen über ausleihbare Nuckelkissen mit Sauerstoff und versierte Ärzte. Im Volkskrankenhaus haben sie sogar einen Kompressionssack, in dem mit einer Handpumpe von außen der...

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