Der Vollhorst
Ich soll der Prototyp eines Vollhorstes sein? Meine Frau hält mich für einen Vollhorst? Jahrelang habe ich gerätselt, was sie wohl bewogen hat, mir das Jawort zu geben. Jetzt weiß ich es. Na ja, sie hat da ein wenig überreagiert. Das war zu spontan, ein bisschen nachdenken würde ihr auch mal guttun, ich glaube nicht, dass ich mir jetzt deshalb wirklich Sorgen machen muss. Nein, das war unüberlegt. Ich werde sie bei der nächsten Gelegenheit höflich auffordern, diese Äußerung zurückzunehmen. Ich und ein Vollhorst! Sie müsste mich eigentlich besser kennen.
Ihre Definition war eindeutig ungenau, und der naheliegende Vollhorst Seehofer alleine, das war mir schnell klar, wird keine 200 Seiten füllen, mit dem bin ich spätestens nach 20 Seiten fertig. Selbst wenn er einen sehr vielschichtigen Charakter hätte, was wir zu seinen Gunsten ja mal annehmen können, dann wäre nach 30 Seiten, höchstens nach 33 Seiten mit Grußwort, mit Pro- und Epilog, Danksagung und Würdigung in einem 20 Verserl umfassenden Hymnus alles über ihn zu Papier gebracht. Freilich wäre es möglich, den Seehofer zu einem 500 Seiten Heldenepos aufzublasen, zu einer Horstysee, in der sein gesamtes Wirken in Bayern, Deutschland, Europa und der Welt besungen wird. Ich vermute, dass an diesem epochalen Meisterwerk eh schon einer dransitzt, damit für alle Zeiten festgehalten ist, was für ein großartiger Mensch, Politiker und Horst er war.
Nein, mein Ansatz musste ein anderer sein. Ich wollte dem Horst auf keinen Fall gerecht werden. Das kann sowieso niemand. Ich wollte ihn ernst nehmen. Das schon. Aber nicht nur. Wer sich dem Horst nur mit Ernst nähert, wird ihm sicher nicht gerecht. Einem Horst sollte man immer auch mit einer gewissen Portion Humor entgegentreten. Andernfalls ist er schwer auszuhalten. Ich wollte auch die Chance nutzen, ihn in die Pfanne zu hauen.
Ich hatte nicht die Absicht, eine staubtrockene Abhandlung zu schreiben. Die Gefahr ist bei mir ohnehin gering, weil ich polemische Gedankengänge immer einer sauberen Logik vorziehe. Dieses »Gescheit-Daherreden« löst bei mir immer Unbehagen aus, weil man nichts dagegen sagen kann. Das schlüssige Aneinanderreihen von Argumenten erstickt jede Debatte im Keim. Außer, man ist in der Lage, den Argumenten nicht zu folgen. Das verlangt höchste Konzentration. Und wer will sich das heutzutage noch antun? Dagegen bietet das »Dumm-Daherreden« immer die Möglichkeit für ein weiterführendes Gespräch. Mir war eigentlich von Anfang an klar, dass wir mit Horst Seehofer einen Idealtypus des modernen Politikers vor uns haben, der in dieser Reinheit in freier Wildbahn selten anzutreffen ist, aber sich gerade deshalb hervorragend eignet, um politisches Handeln in der Postdemokratie zu beschreiben. Dabei geht es mir nicht um eine objektive Beschreibung des Vollhorsts in Kultur, Politik und Gesellschaft. Es gibt ja nichts Langweiligeres als Objektivität. Darum werde ich in verzerrender Überzeichnung jeden Anschein von Objektivität nach Möglichkeit vermeiden. Ich habe den festen Vorsatz, höchst subjektiv vorzugehen. Falls der Leser an Objektivität interessiert sein sollte, so wird er bei mir nicht fündig werden. Er kann sich diese, wenn er sie unbedingt braucht, gern bei anderen Autoren besorgen, beziehungsweise versuchen, aus meinen Übertreibungen eine Wahrheit herauszufiltern. Um es kurz zu machen. Wahrheit gibt es bei mir nicht. Manchmal biete ich eine an, aber das ist dann auch nur eine von vielen. Wahrheit kann nur vom richtigen Standpunkt aus erkannt werden, welches aber der richtige ist, erkennt nur der, der die Wahrheit hat. Ich habe sie nicht.
Im Gegensatz zum Vollhorst, der immer den richtigen Standpunkt einnimmt und deshalb glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein. Da er in der Lage ist, den Standpunkt zu wechseln, wie es ihm in den Kram passt, ändert sich damit auch immer die Wahrheit. Dafür ist der Vollhorst bekannt, und dafür wird er geliebt. Der Wahrheitsendverbraucher wird von ihm ständig mit neuen Wahrheitsangeboten versorgt. (Konzertsaal in München? Ja. Versprochen! Dazu stehe ich! Und einen Tag später: Konzertsaal? Nein. Hab ich auch immer gesagt.) Ein Forscher, der es mit einem solch wendigen Untersuchungsgegenstand zu tun hat, muss flexibel und anpassungsfreudig reagieren können. Das ist für mich kein Problem. Auch ich bin in der Lage, meine Meinung von einer Minute auf die andere komplett zu ändern.
Ich bin ein überzeugter Vertreter der kritischen Theorie. Ich komme gern vom Allgemeinen zum Besonderen und schließe von der Conclusio auf die Prämissen. Wundern Sie sich jetzt bitte nicht! Mir ist auch nicht ganz klar, was damit gemeint ist. Ich weiß nur, das Besondere im Allgemeinen aufzuspüren und umgekehrt, das Allgemeine im Besonderen festzumachen, dafür bietet der Vollhorst alle Möglichkeiten. Sie merken schon, ich bin gerade dabei, vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Allerdings sollte man nie vom Tausendsten aus Rückschlüsse auf das Hundertste ziehen. Ich allerdings mache das schon, um zu überprüfen, ob ich wirklich falsch liege. Ich strebe nach Gewissheit. Denn auch das Falsche ist wahr. Diese Wahrheit gilt nicht nur in Bayern.
Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich zu einer induktiven Vorgehensweise, das heißt, ich wollte von typischen Einzelfällen zu einer übergreifenden Definition des Vollhorsts gelangen, die ich immer in enger Abgleichung mit dem politischen Ideal-Horst halten wollte. Freilich würde ich auch Abweichungen von dieser Methode akzeptieren, um die Forschungsperspektive nicht zu verengen und um nicht der Gefahr zu erliegen, wichtige Aspekte am Wegesrand liegen zu lassen.
Ich begab mich daher im Internet zunächst auf die Suche nach Herkunft und Bedeutung des Namens Horst. Über Google stieß ich auf Wikipedia, und dort teilte man mir mit, dass Horst hergeleitet wird von Hengst oder Gestrüpp. Gut, der Zusammenhang erschloss sich mir nicht auf Anhieb, aber okay. Ich nahm den Hinweis zur Kenntnis. Der Horst ist also ein Hengst. Aha. Doch nicht jeder Hengst ist ein Horst. Die Frage, ob Seehofer ein Hengst ist, verbietet sich. Beim Hengst denken wir vielleicht an Pegasus und Fury, oder auch nicht, vielleicht denken wir an Winnetous Iltschi, auf dem der edle Wilde mit seinem Blutsbruder in den Weiten der Prärie für Frieden und Gerechtigkeit kämpft. Mitunter denken wir auch an Rennpferde von edlem Geblüt oder an Springer, die vor keinem Oxer scheuen. Und wir denken an stolze reinrassige Pferde, die Rittern, Königen und Kaisern dienten: an Ben Hur und seine stolzen Hengste Altair, Antares, Rigel und Aldebaran, die im Circus Maximus in Jerusalem den Tribun Messala – auch ein Vollhorst, wie er im Buche steht – das Fürchten lehrten. Welche Verbindung der Hengst mit dem Gestrüpp eingeht, weiß ich nicht, aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass ein Hengst/Horst auch mal im Gestrüpp/Wald steht und nicht weiterweiß.
Es gibt berühmte Horste, die mit Fug und Recht von sich behaupten, ein echter Horst zu sein: Horst Schimanski, Horst Heldt, Horst Lichter, Horst Köhler, da ist erst mal nichts dran auszusetzen, die heißen einfach so. Jetzt könnte einer fragen: Horst! Wie kommst du denn zu diesem Namen? Was haben sich deine Eltern dabei gedacht? Mit dem gleichen Recht könnte ich allerdings fragen, wer gibt seinem Kind den Vornamen Bruno? Bären heißen Bruno. Und die leben gefährlich. Vor allem wenn es sich um »gemeine Schadbären« handelt, die sich aus Italien kommend im bayerischen Voralpenland herumtreiben, und nachdem sie unschädlich gemacht wurden, ausgestopft im bayerischen Naturkundemuseum landen. Aber niemand tauft sein Kind Bruno, um an den Schadbären Bruno zu erinnern. Obwohl man auch das nicht ausschließen kann. Und der Horst treibt sich auch in Bayern herum und richtet mitunter auch Schaden an, und trotzdem kommt niemand auf die Idee, ihn abzuknallen und ausstopfen zu lassen.
Der Horst ist auch kein Gestrüpp. Wer würde seinen Sohn »Gestrüpp« nennen oder »undurchdringliches Gebüsch«? Unsinn! Der Horst ist ein Hengst. Er steht für Zeugungskraft, für Potenz, für Wildheit, ein Horst lässt sich nur widerwillig Zügel anlegen. Er ist immer schwer zu zähmen, und ganz zahm wird er nie sein können, der Horst. So dachte man in alten Zeiten vom Horst.
Dieser kraftstrotzenden Natur, die man ursprünglich mit dem Horst verband, steht heute im alltäglichen Sprachgebrauch eine beinah entgegengesetzte Bedeutung gegenüber. Der »semantische Hof«, der sich auftut, wenn wir es mit einem Horst zu tun bekommen, wurde um einige Bedeutungskomponenten erweitert. Mit einem Horst verbinden wir heute selten nur unbezähmbare Wildheit und kämpferische Kraft, sondern immer öfter unbeschränkte Einfalt und Dummheit. Wir nennen heute einen Horst, wenn wir ihn nicht gleich Vollpfosten nennen wollen, vor allem, wenn er sich aufführt wie einer.
Aber nicht jeder Horst nutzt alle seine Möglichkeiten. Wann also wird aus einem stinknormalen Horst ein Horst? Seehofer zum Beispiel hat den Horst von seinen Eltern verpasst bekommen, das können wir ihm schwer vorwerfen, da war er machtlos, aber dass er sich schon des Öfteren zum Horst gemacht hat, darauf kann nur er allein stolz sein.
Oder, anderes Beispiel, Horst Schröder, der lange den Tarnnamen Gerhard trug, er hat sich nach seiner Zeit als Bundeskanzler als Horst geoutet.
Vielleicht erinnert sich auch noch jemand an die große Führungspersönlichkeit Georg Schmid, der als Schüttelschorsch in die Annalen der bayerischen Geschichte eingegangen ist. Er ist so was von eingegangen, wie sonst nur wollene Pullover, die den 90-Grad-Waschgang durchlaufen haben. Man hat ihn auf ein Format reduziert, das für CSU-Größen gar nicht...