Im Fluss geboren
Werder Bremen wurde im letzten Jahr des 19. Jahrhunderts gegründet. Damals war Deutschland eine Turnnation, stramm, soldatisch, diszipliniert. Der Tritt gegen den Ball galt als undeutsch. Ein Bonmot dieser Zeit lautete: »Mit dem Fuße tritt man den Hund oder den Proletarier.« Sportpädagogen denunzierten den Fußball als »englische Krankheit«, die jedoch hoch ansteckend war. Immer mehr Jugendliche rannten über Kuhweiden und kickten. Aus Vergnügen, aber auch als Revolte gegen die autoritären Eltern.
Das Deutsche Kaiserreich feierte in jenen Jahren am 2. September den Sedantag. Ein nationalistisches und militärisches Prunkfest, das an den Sieg über die französische Armee in der Schlacht von Sedan 1870 erinnerte.
In Bremen, so wird berichtet, traten am Sedantag des Jahres 1898 ein paar Teenager der privaten Realschule von C.W. Debbe zum Tauziehen an. Es war eine Fachoberschule für Kaufmannsberufe, Ausbildungsstätte der besseren Bremer Kreise, die nicht nur Bilanzieren und Kalkulieren, sondern auch den aus Sicht der Lehrer dringend notwendigen Drill lehren sollte. Hieß es doch über den Debbe-Jahrgang, um den es hier geht: »Von Seiten der Lehrerschaft wurde vielfach Disziplinlosigkeit, Alkoholkonsum und das Interesse an Mädchen kritisiert.« Diese Lümmel sollen das Tauziehen der Turnbewegung gewonnen haben, und ihr Preis, so will es die Legende, soll ein Lederball gewesen sein.
Nun war einer der Jungs der Sohn eines Wirts, dessen Kneipe auf der Weserinsel lag, dem Stadtwerder. Hierher fuhren sie am Nachmittag mit der Sielwallfähre und kickten auf den Wiesen der Insel. So war es nur logisch, dass sie fünf Monate später, am 4. Februar 1899, den aus ihrer losen Runde gegründeten Fußballverein »FV Werder« nannten. Es war der zweite seiner Art in Bremen und von Beginn an der Verein der besseren Kreise, der Bürgerkinder. Jahrelang verlangte die Satzung von den Spielern eine höhere Schulbildung. Auf den meisten frühen Fotos tragen die Gründer als Statussymbol ihre Schülermützen. Selbst auf dem Platz balancierten sie ein grünes Käppchen auf dem Haupt. »Kopfspiel wurde anfänglich überhaupt nicht betrieben«, heißt es in den Vereinsnachrichten.
Der Beginn war provisorisch: Das Tor wurde von zwei Stangen markiert, als Latte diente ein Tau, und man fahndete noch nach Spielern, die auch, »wenn es regnet oder friert«, auf den Platz gingen und »nicht lieber zu Hause beim warmen Ofen« blieben. Die Spielkleidung bestand aus einem weißen Hemd, einer gekürzten Stoffhose und ein paar alten Straßenstiefeln, unter die »der Hausschuster kunstvoll Klötze schlagen« musste. Beim ersten Spiel der Mannschaft säumten gerade mal 18 Zuschauer den Wiesenrand. Egal. Der FV Werder gewann gegen den Bremer Sport-Club mit 1:0, und der Weg des Vereins von der Schülermannschaft zu einem der wichtigsten Klubs des Landes begann.
1903 feierte der FV Werder erstmals die Bremer Meisterschaft. Und zwar nicht irgendwie, sondern mit drei Mannschaften in allen drei existierenden Bremer Spielklassen. Ab 1905 kassierte man von den inzwischen Hunderten Zuschauern Eintrittsgelder. 1908 gab es den ersten Polizeieinsatz wegen Fankrawallen. 1909 gastierte mit Hartlepools United die erste Profimannschaft aus England beim FV Werder. Im selben Jahr eröffnete der eintausend Zuschauer fassende Tribünenplatz Peterswerder. 1913 gelang die Qualifikation für die gerade formierte norddeutsche Verbandsliga.
Dann kam der Krieg, und die vom patriotischen Wahnsinn erfassten Bürgerkinder waren sich nicht zu doof, eine Abteilung Handgranatenweitwurf zu gründen. Es sollte nicht der einzige Sündenfall bleiben.
Aber erst einmal blühten Verein und Fußballsport in den Weimarer Jahren. Die vormals überlangen Arbeitstage wurden auf acht Stunden verkürzt. Die Menschen hatten Zeit, und sie sehnten sich nach Vergnügen. In Scharen meldeten sie sich bei den Vereinen an. Hatte der DFB vor dem Krieg noch 190.000 Mitglieder, waren es 1924 fast viermal so viele. Der FV Werder nahm andere Sportarten auf und wandelte sich vom reinen Fußball- zu einem breit aufgestellten Sportverein. 1920 benannte man ihn folgerichtig in »SV Werder Bremen von 1899« um und wagte, vom »Zuge der Zeit« mitgerissen, gar die Eröffnung einer »Damen-Abteilung«.
Berauscht vom Wachstum, planten die Vereine Großstadien, wie man sie fortschrittsbegeistert nannte. In Bremen auf der Pauliner Marsch, dort, wo die Weser ihren berühmten Bogen macht, eröffnete 1926 der Allgemeine Bremer Turn- und Sportverein die ABTS-Kampfbahn, die wenig später, als den Betreibern Geld fehlte, übernommen und in »Weser-Stadion« umbenannt wurde. Es waren Jahre, die den Fußball veränderten. Es spielten nicht nur viel mehr Menschen in den Vereinen, es schauten nicht nur viel mehr zu, es wuchsen nicht nur immer größere Arenen, es begann auch eine Debatte um eine Praxis, die man »finanziell unterlegten Vereinswechsel« nannte. Kurz: Es waren die Anfangszeiten des Transfermarkts.
Zwar tönte man in den Werder-Nachrichten, man wolle mit diesen »ekelhaften Begleiterscheinungen der Liga«, die dazu führten, dass »von auswärts kommende Spieler wie Pilze aus der Erde schossen«, nichts zu tun haben. Aber inoffiziell wurde auch bei Werder gezahlt. Man erzählt von Spielprämien, die manchen Akteuren in der Kabine zugeschoben wurden. Zudem bot die dem Verein nahestehende Brinkmann AG Spielern, die über einen Wechsel nachdachten, einen Arbeitsplatz. Das trug sicher dazu bei, dass der Verein in den 1920er-Jahren erste größere Erfolge feierte.
Keinen Monat nach ihrer Machtergreifung übernahmen die Nationalsozialisten auch den Fußball. Am 24. Februar 1933 verboten sie Arbeitervereine und jüdische Klubs. Werder Bremen, als Verein bürgerlicher Söhne geboren, war ihnen unverdächtig und übernahm die Regeln der neuen Mächtigen schnell und ohne Widerstand. Werders erste Mannschaft hob die Hand vor dem Anpfiff zum Hitlergruß, bei Vereinseintritt wurden Ariernachweise verlangt, und den ersten Vorsitzenden nannte man »Vereinsführer«. Die Grün-Weißen färbten sich braun. Im Verein tummelten sich begeisterte NSDAP-Mitglieder und anpassungsfähige Opportunisten, die ein Verbot verhindern wollten und sich deshalb, wie sie formulierten, der »neuzeitlichen Sportpropaganda« unterwarfen. Jüdische Werderaner, wie zum Beispiel Albert Rosenthal, Papierwarenhändler, seit 1904 Vereinsmitglied, wurden verschleppt und ermordet.
Für die Nazis war der Fußball eine erwünschte Unterhaltung der Massen. Er galt als »kriegswichtig«, und so hielten sie den Spielbetrieb bis zuletzt aufrecht. Erst am 18. März 1945 hieß es in der Zeitung: »Fliegeralarme verhindern das letzte in Bremen angesetzte Fußballspiel TuS Walle – Werder am Hohweg.«
Nachdem Deutschland befreit war, wollten die Alliierten nicht nur das Land demokratisieren, sondern auch die Vereine. »Frei von militärischen Bestrebungen und nationalsozialistischen Einflüssen« sollten sie werden. Das Weser-Stadion wurde in »IKE-Stadion« umbenannt, und viele Arbeiter lehnten sich gegen das Weiterbestehen des nazinahen Bürgervereins SV Werder auf. Man nannte sich also um: erst »Sportgemeinschaft Mitte«, dann, extrem umständlich und unbefriedigend, »Sportvereinigung Grün-Weiß von 1899«. Im März 1946 stimmte der Vorstand dafür, »dem Verein seinen alten Namen ›S.V. Werder v. 1899‹ wiederzugeben«.
Werders größter Konkurrent der Nachkriegsjahre war der Bremer SV, ein Verein aus dem Arbeiterviertel Gröpelingen. Es war der Kampf Reich gegen Arm, Bonzenklub gegen Proletenverein, den Werder ab Mitte der 1950er-Jahre gewann. Mit Mitteln, die viele Fans an den heutigen Bonzenklubs kritisieren: Weil Vertragsspieler nicht mehr als ein paar Hunderter im Monat verdienen durften, zahlte Werder Handgelder und lockte, dank seiner zahlreichen Mäzene, auch mit Arbeitsplätzen bei Bremer Unternehmen. »Die Menge will nicht edle Amateurvielfalt sehen, sondern erstklassigen Fußball«, sagte Geschäftsführer Hans Wolff. »Erstklassigen Fußball kann aber nur spielen, wer beruflich unbelastet ist. Wir nehmen unseren Spielern diese Sorge ab und bieten ihnen eine gesicherte Existenz.«
Der Norddeutsche Fußball-Verband fand das wenig löblich und verurteilte Werder in einem Fall. Funktionäre hatten dem Mittelfeldspieler und Außenstürmer Willi Schröder zehntausend Mark aus schwarzen Kassen gezahlt.
Ebendieser Schröder schoss Werder 1961 zum ersten großen Titel. 62 Jahre nachdem die Oberschüler ihren Lederball gewonnen hatten, holte der Verein im Endspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern den DFB-Pokal. »Das Ding wurde nicht mal live im Radio übertragen«, erinnert sich Ehrenpräsident Klaus-Dieter Fischer. »Im Weser-Kurier gab es nur ein kleine Meldung.«
Am 11. Januar 1963 gehörte Werder Bremen zu den neun Mannschaften, die vom DFB als erste in die neu gegründete Bundesliga berufen wurden. Zwar kassierte die Mannschaft im ersten Spiel gleich in der ersten Minute das erste Gegentor in der Historie der Liga (auch ein Rekord), aber das Team hatte mit Willi »Fischken« Multhaup, dem feinen Mann, der stets im Anzug am Spielfeldrand stand, einen Trainer, der es konnte. Multhaup erfand den Libero, er baute ein ausgewogenes Team auf, in dem »Eisenfuß« Horst-Dieter Höttges und Heinz Steinmann hinten dichtmachten, Max Lorenz zauberte, Arnold »Pico« Schütz und Klaus Matischak trafen. Am 8. Mai 1965 verlas Stadionsprecher Richard...