Prolog
Komm, süßer Schmerz
Gib jemandem einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag. Bring einem Menschen das Fischen bei, und du ernährst ihn ein Leben lang. Wenn du aber einem Menschen das Radfahren beibringst, wird er erkennen, wie dumm und langweilig das Fischen ist.
Desmond Tutu, südafrikanischer Geistlicher und Träger des Friedensnobelpreises
Morgens um halb drei vor der Haustür in einer Münchner Vorstadt. Die Nacht hat ihren Namen nicht verdient, zwei, drei Stunden schlafloses Wälzen im Bett, bis der Wecker die Unruhe endlich beendet. Dann ein frühes Frühstück aus Nudeln mit Tomatensoße, die am Vorabend übrig geblieben sind, dazu Kaffee und kribbelnde Nervosität, die sich ebenso als Vorfreude wie als Versagensangst deuten lässt. Draußen vor der Tür wartet der Nachbar, steht über den Lenker seines Rennrads gebeugt und fummelt an seinem GPS-Fahrradcomputer herum. Eine Begrüßung, ein Gähnen, noch ein Abschiedsselfie mit dem Handy, dann los, um die anderen Mitfahrer einzusammeln. Sechs Rennräder rollen schließlich über verwaiste Bundesstraßen in Richtung Süden. Das Hinterrad des Vordermanns dreht sich im Kegel des Lichts, Ketten surren, Fahrtwind rauscht in den Ohren. Die kühle Frische der Sommernacht und die Bewegung vertreiben die Müdigkeit, sechs Radler begeben sich in ihren je eigenen Tunnel. Nächster Halt Gardasee.
Unter ambitionierten Hobbyrennradlern in und um München zählt eine Gewalttour zum Gardasee zu den populären Einträgen im sportlichen Lebenslauf. Morgens los, hoffentlich abends ankommen und dabei spüren, was in den Beinen steckt.
Am Walchensee geht die Sonne auf, Frühstück im Inntal, am Brenner gibt es schlechten Kaffee, kurz nach Brixen platzt das Hinterrad eines Mitfahrers mit lautem Knall, eine ungeduldige Reparatur in der Mittagssonne, und von Bozen bis Rovereto bläst den Unermüdlichen ein elend heißer Wind entgegen. Dann, nach 19 Stunden und 406 Kilometern: Siegerfoto und Siegerbier am Gardasee. Geschafft. Schulterklopfen. Gut gemacht. Und jetzt, was kommt als Nächstes? 500 Kilometer am Stück? Noch mehr?
Wie bescheuert. Gerade durch das Ziel gerollt, die große Tour durchgezogen, und es dauert nicht lange, bis die Frage nach der nächsten Tortur auftaucht. Für Kollegen und Freunde steht sowieso längst fest: Der Typ ist sportsüchtig, ein Junkie in hässlicher Hose mit Gesäßpolster, der sein Dasein im Wesentlichen auf einem Fahrrad fristet. Das muss pathologisch sein! Diese Sicht passt ja auch gut ins Bild der Zeit. Überall wird gerannt, geradelt, geschwitzt. Männer in Funktionswäsche keuchen über Landstraßen, Frauen mit Yogamatten zählen fest zum Stadtbild. Wer etwas auf sich hält, läuft Ultramarathon, weil ein einfacher Marathon Sache der Massen ist.
Im Lichte dieses allgemeinen Fitnesswahns ließe sich die Eskalation des eigenen Treibens leicht als Selbstoptimierungszwang und Suchtverhalten abtun. Aber das ist langweiliger Unsinn. Ausdauersport kann zu einem Lebenselixier werden und eine Tour wie die zum Gardasee ein persönliches Fest sein. Die Steigerung der Dosis ist integraler Bestandteil dieser Schwitzerei, das Höher, Schneller, Weiter gehört automatisch dazu, egal auf welchem Niveau.
Der Einstieg in die Radkarriere hatte mit einer Überdosis begonnen. Die Mountainbiketour führte durch das Karwendelgebirge im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Österreich, mündete in vollkommener Erschöpfung und war aus heutiger Perspektive geradezu lächerlich kurz. Es regnete, es brannte in den Beinen, es ging nichts mehr, gar nichts mehr. Die Verzweiflung war groß, und der im Übrigen grob verkaterte, aber trainiertere Begleiter komplettierte die Demütigung, indem er in den vielen Zwangspausen fröhlich auf den bleichen Fahrradneuling einplapperte, Zigaretten rauchte und dann fragte, ob es denn nun endlich weiterginge. Es ging nicht weiter, die Räder mussten geschoben werden, es wurde ein sehr langsamer Trauermarsch zum Übernachtungsquartier. Am Abend war die Entkräftung zu groß, um essen zu können, und die Erschöpfung zu tief, um in den Schlaf zu finden. Eine vollständige, nicht zu leugnende Niederlage – und der Beginn einer Leidenschaft: Radfahren.
Die bedingungslose Kapitulation im Karwendel und ein folgender Versuch der Wiedergutmachung markierten den Start einer, nun ja, Eskalationsspirale. Die zweite Runde durch die Berge gelang ohne Nahtoderfahrung. Aus kurzen Touren wurden lange; milde, mehrtägige Alpenüberquerungen steigerten sich zu langen, harten Alpenüberquerungen mit zehrenden Passagen, in denen das Fahrrad über Gletscher, über Schrofen hinauf- und auf der anderen Seite des Berges wieder hinabgetragen werden musste. Immer mehr Kilometer, mehr Höhenmeter, auf dem Mountainbike, auf dem Rennrad. Der tägliche Radweg in die Arbeit wuchs in dieser Zeit, von sieben Kilometern einfach, nach einem Umzug in die Vorstadt auf 23 und – wenn etwas mehr Zeit für die schönere Route drin ist – weiter auf 33 Kilometer. Jeden Tag, bei Wind und Wetter, hin und zurück.
Die Dosis steigt auch, weil – hier ist eine Drogenanalogie zulässig – der Sportler eine Toleranz entwickelt. Um das von ihm ersehnte Gefühl zu erlangen, muss er sich größeren Herausforderungen stellen. Das sollte nicht als verzweifelte Selbstoptimierung abgetan, sondern gefeiert werden, denn das Hochgefühl ist für Anfänger, Fortgeschrittene und Sportextremisten gleichermaßen erreichbar: Zum ersten Mal 50 Kilometer mit dem Fahrrad zurückzulegen kann das gleiche Hochgefühl erzeugen, wie später zum ersten Mal 100 oder 200 Kilometer zu bewältigen. Mit der Fitness verschiebt sich der Standard, also das, was als normal gilt – für den Beobachter jedoch nicht, für ihn steigt nur das Befremden über das seltsame Tun.
Nun, zwölf Jahre nach der Einstiegsüberdosis, stehen als Höhepunkt 406 Kilometer an einem Tag im Lebenslauf. Sollte das Langstreckengelage als Ausdruck einer Sucht verstanden werden? Die Entzugssymptome bestehen jedenfalls nicht aus körperlichen Schmerzen, kaltem Schweiß, Übelkeit oder Orientierungslosigkeit. Bei Abstinenz meldet sich hingegen ein Sehnen, ein Drängen, der Berg ruft, oder es lockt eben der Asphalt – klinisch-pathologisch lässt sich das nur mit Mühe deuten. Unzufriedenheit trifft es besser, und das ist ein Gemütszustand, keine Krankheit. Es handelt sich um die ungestillte Sehnsucht, wieder das Glück auf dem Fahrrad zu erleben, das sich auf kurzen Fahrten zum See oder sogar zum Supermarkt ebenso einstellt wie bei den langen Versuchen, die eigene Grenze zu finden und zu überschreiten.
Ausdauersport liefert das Gefühl, Kontrolle zu erlangen. Er sortiert den Verhau des Alltags. Joggen oder Radfahren lüften den Kopf aus, es handelt sich um eine Art schweißtreibende Meditation. Mit jedem Schritt und jedem Tritt sortiert sich das Durcheinander im Schädel, das Gedankengestrüpp lichtet sich, und aus dem neuronalen Unterholz tauchen Ideen auf, Probleme lösen sich. Die Monotonie des Ausdauersports düngt den Geist und lässt Ideen erblühen – ein Zustand, nach dem sich Radler oder Läufer sehnen. Der Körper ist erschöpft, der Geist erfrischt. Ein motorisch induzierter Eskapismus, der Ideen gebiert und dabei den Drang nährt, diese Weltenflucht abermals anzutreten.
Der Hobbyradler beeindruckt sich zuallererst selbst, er erfährt unmittelbar am eigenen Körper, zu welchen ungeahnten Taten er imstande ist. Sport liefert Zahlen, die Leistung objektivierbar machen – 100 erradelte Kilometer sind 100 erradelte Kilometer. Das kann Quelle von Stolz sein, der sich von grüblerischen Zweifeln nicht so leicht erschüttern lässt – egal wie viele Sportler es gibt, die über diese Leistung nur milde lächeln, weil sie selbst zu viel größeren Taten imstande sind.
Vollbracht ist vollbracht, doch dann muss es weitergehen. Ein neues Ziel muss her. Länger, weiter, höher, schwerer, schöner als das eben erreichte. Die theoretische Chance des Scheiterns muss gegeben sein, sonst fehlt der Kitzel. Ein Kletterer wiederholt auch nicht immer wieder die eine Route, die er schon so oft durchstiegen hat, bis er seinen Lebensvorrat Magnesiapulver aufgebraucht hat. Stattdessen sucht er die nächste Wand, die ihn aufs Neue vor Schwierigkeiten stellt. Und ein Tennisspieler misst sich lieber mit einem ebenbürtigen Gegner als mit einer Gurke, gegen die er stets locker gewinnt. Das alles erscheint selbstverständlich. Aber ein Ausdauersportler, der einen langen Lauf antritt, für eine besonders lange Fahrt trainiert? Das öffentliche Urteil lautet da rasch: Der Typ muss sportsüchtig sein, denn das kann ja gar keinen Spaß machen oder Erfüllung bieten.
Menschen tun gerne die Dinge, in denen sie gut sind. Ein Musiker macht gerne Musik, ein Maler malt gerne, ein Radler radelt gerne. Es braucht nun wirklich keinen Psychologen, um das zu verstehen. Mit dem Fortschritt wächst das Bedürfnis weiterzumachen. Am Anfang kostet es Überwindung, joggen zu gehen; dann erfordert es Überwindung, nicht joggen zu gehen. Man nennt das Leidenschaft. Wenn der Läufer zwanghaft loshumpelt, obwohl er verletzt ist, ja, dann darf das als Sucht oder wenigstens als Zwang bezeichnet werden. Und wenn der Läufer oder Radler nur loszieht, um Gewicht zu verlieren, dann handelt es sich nicht um einen Sportler, sondern um einen Körperbesorgten, der im Extremfall an einer Essstörung leidet. Der ambitionierte Hobbyausdauersportler radelt oder läuft, weil er gerne radelt oder läuft. Dass er so sein Gewicht hält und nicht so arg aus dem Leim geht, stellt einen positiven Kollateralnutzen dar, aber kein primäres Ziel. Im Übrigen funktionieren zehrende Touren hervorragend...