TEIL I
Das Gespür für Wasser
Wasserscheu
Wer von der Faszination des Wassers erzählt, kommt leicht ins Schwärmen. Beim Blick auf einen stillen See, beim Betrachten eines Flusses, der Wirbel und Quirle, die sich über seine Oberfläche breiten, beim Hinausschauen auf das Meer und den steten, erinnernden Gang der Wellen ist es nicht einfach, einen trockenen Ton zu wahren. Jeder Wassertext neigt zur Hommage, zur Liebeserklärung an das flüssige Element.
Doch die Liebe zum Wasser sollte nicht blind machen. Ein reines Loblied, eine Wasserhymne wäre nur die halbe Wahrheit. Denn zur Schönheit des Wassers gehört seine Gefährlichkeit, und zur Faszination des Wassers gehört die Angst vor der Tiefe, der Kälte, dem Tod. Das Wasser ist immer beides: Geborgenheit und Bedrohung, das Tragende und das Bodenlose, das Heimische und Unheimliche. Die Ambivalenz ist sein Wesen. Wasser ist immer anders, zu jeder Stunde an jedem Tag. »Man steigt nie zweimal in denselben Fluss«, dieser Satz von Heraklit darf in keinem Wassertext fehlen, nicht nur weil, wie er sagt, »alles fließt«, sondern weil das Sich-Spüren im Wasser ein Ich-Gefühl inmitten größter Ungewissheit ist. Für die alten Griechen war der Meeresgott Proteus zugleich der Gott der Verwandlung, ein Meister der Metamorphosen. Und das Wasser ist sein Element, das Element des Lebens, aber auch des Todes.
Die Scheu vor dem Wasser ist also keine Phobie oder Schwäche. Sie ist eine uralte, eine heilige Scheu im Wissen um die Macht des Wassers. Wer davor keine Angst und Ehrfurcht empfindet, hat das Element nicht verstanden. Doch das tut seiner Faszination keinen Abbruch. Manchmal glaube ich, dass ich mich vom Wasser nur deshalb nicht losreißen kann, weil bei aller Vertrautheit und Verbundenheit mit dem Element die Angst nie ganz verschwindet.
Ich schwimme seit meinem fünften Lebensjahr, seit fünfundvierzig Jahren, fast täglich – mit einer längeren Unterbrechung, als ich nach einer ambitionierten Phase des Vereins- und Leistungsschwimmens wieder lernen musste, nicht um Bestzeiten, sondern um des Wassers willen zu schwimmen. Eine gewisse Scheu ist geblieben, ein Gefühl der Unsicherheit im Moment des Wechsels von einem Element ins andere. Vielleicht schwimme ich deshalb beinahe jeden Tag, um diese Scheu nicht zu groß werden zu lassen. Denn gegen die Angst vor dem Wasser hilft am ehesten die Gewohnheit, das fraglose Immer-wieder, die Routine der Abläufe und Wege, die keine Lücke lässt für den Zweifel, fürs Zögern. Umzukehren ist keine Option, kein Gedanke. Es gibt kein Zurück.
Auch in dieser Hinsicht hat das Wasser zwei Gesichter: eines der Vertrautheit und ein anderes der Fremdheit. Manchmal liegt der See, in den ich während der wärmeren Jahreszeiten jeden Tag steige, unverwandt da. So als würden wir uns nicht kennen. So als wäre ich nie da gewesen. Doch ich gebe diesem Fremdeln nicht nach, sondern stelle mein Fahrrad genau da ab, wo ich es immer abstelle, ziehe mich genau so um, wie ich mich immer umziehe, und gehe wie in meinen eigenen Fußspuren das Ufer hinunter ins Wasser. Nicht einmal dann, wenn es sich um meine Hüften wellt und aufschwappt, halte ich inne und reiße die Arme hoch. Ich gehe weiter, tiefer hinein in den See und schwimme. Wie jeden Tag, wie immer. Wiederholung schafft Sicherheit, auch wenn diese Sicherheit eine vermeintliche, vielleicht sogar trügerische ist, denn das Wasser ist immer anders, und nur weil es mir gestern gut war, heißt das nicht, dass es auch heute so sein wird. Wir steigen nie zweimal in denselben Fluss. Aber wir kehren immer zum Wasser zurück.
Überwindung
Der Trick des Gewohnheitsschwimmers besteht darin, den Moment der Überwindung zu ignorieren und so zu tun, als gäbe es ihn gar nicht. Doch es gibt ihn. Seine Realität ist nicht zu leugnen, und die Frage ist nur, wie man damit umgeht. Selbstverständlich kennt auch der passionierteste Schwimmer die Annehmlichkeiten und Beharrungskräfte des An-Land-Seins, der großen irdischen Komfortzone, wo es warm ist, gemütlich und sicher. Er kennt den inneren Schweinehund, den es zu überwinden gilt, den Ruck, den man sich geben muss, die Schwierigkeiten, sich aufzuraffen, die beim Schwimmen größer sind als bei vielen anderen Aktivitäten. Denn man hat es nicht nur mit den üblichen Trägheitswiderständen zu tun. Wer ins Wasser geht, muss einen nicht zu unterschätzenden Übergang bewältigen, eine Transformation vom Festen ins Flüssige, vom Verlässlichen ins Unwägbare, von einer Existenzform in die andere.
Motivationshilfen sind dabei gefragt, vor allem wenn das Wetter nicht gerade zu Schwimmausflügen einlädt. Eines der wirksamsten Überwindungsmantras an den nicht so sonnigen Tagen ist für mich der Satz: »Nachher fühlt man sich immer besser.« Und das Beste an diesem Satz ist, er stimmt. So widrig die Umstände auch sein mögen und so gut die Gründe, an Land und trocken zu bleiben, wann immer ich mich überwinde und zum Schwimmen durchringe: Nachher fühle ich mich besser (oft sogar umso besser, je hartnäckiger ich mich vorher gesträubt habe).
Im Grunde spannt sich zwischen diesen zwei Momenten der gesamte Bogen eines Schwimmerschicksals, zwischen dem Stoßseufzer beim Hineingehen »Warum tu ich mir das an?« und dem Glücksgefühl danach, wenn man wieder am Ufer steht und sich wundert: »Warum machen das eigentlich nicht alle jeden Tag?« Zumindest wurde ich vom Wasser jedes Mal für die Überwindung zum Schwimmen belohnt. Manchmal habe ich danach sehr gefroren, manchmal war ich danach sehr erschöpft. Aber ich habe mich immer zutiefst besser gefühlt.
Die Kälte
Warum kostet es eigentlich so viel Überwindung, ins Wasser zu gehen? Die fühlbarste und empfindlichste Hemmschwelle beim Schwimmen ist der Temperaturunterschied zwischen Luft und Wasser, auf gut Deutsch: die Kälte. Zumindest in unseren Breiten ist das Wasser in der Regel kälter als die Luft und alles andere als badewannenwarm (mit Ausnahme von ein, zwei Wochen im Jahr). An heißen Hochsommertagen wirkt genau das erfrischend, an allen anderen Tagen nicht.
Das heißt: Wer schwimmt, der friert – hierzulande, hierzuwasser, früher oder später, sofern er draußen schwimmt. Wehmütig mag man an die Zeit im Herbst denken, in der die Nächte schon empfindlich kühl sind, die Wassertemperaturen aber noch sommerlich warm, sodass frühmorgens der See dampft und Wärmenebel sich über der Wasseroberfläche kräuseln wie Rauch. Man mag davon träumen, in dieses Dampfbad zu steigen, Nebelbänke zu durchschwimmen und von der Mitte des Sees aus die verhangene Uferlandschaft zu betrachten. Und bei all dem ist das Wasser so warm. Die klamme, kühle Feuchtigkeit, die einen beim Umkleiden angefasst hat, ist schnell abgestreift. Man beeilt sich, ein- und unterzutauchen, wirft sich in seine Züge und hüllt sich in den See wie in einen Mantel, während man eine verwandelte Welt durchschwimmt, in der sogar das vertraute Ufer geheimnisvoll wirkt, Bäume und Büsche sich zu Phantasiegebilden formen, bis sie allmählich ihre gewohnte Gestalt wieder annehmen. Und immer noch mag man das Wasser kaum verlassen, weil es die wärmste Stelle in dieser Herbstlandschaft ist.
Doch das sind Schwimmerlebnisse mit Seltenheitswert. Denn die Tage werden kürzer. Schon sind die Sonnenstände zu niedrig, die Sonnenstunden zu wenige, um diese verkehrte Wärmewelt aufrechtzuerhalten. Unaufhaltsam verströmt das Wasser den Sommer, den es gespeichert hat. Immer größere Kältepfützen breiten sich über die Oberfläche, und aus der Tiefe drängt kühles, lichtloses Wasser herauf. Die ersten Frostnächte ziehen die Restwärme aus dem See, und bald liegt er still und ohne Nebelfahnen da, kaltes, dunkelklares Winterwasser.
Es bleibt dabei: Wer das Schwimmen in offenen Gewässern liebt, der muss lernen, die Kälte zu lieben. Es reicht nicht, sich mit ihr auszukennen und zu wissen, an welchem Punkt im Prozess des Auskühlens und Herunterbrennens im Wasser man ist. Man muss die Kälte lieben lernen, ihre Klarheit, ihre Schärfe, ihre Unerbittlichkeit.
Darin besteht die zweite, die fortgeschrittene Methode: die Kälte dadurch zu überwinden, dass man sie umarmt. Regelmäßigkeit und Routine helfen auch hierbei, aber ihr Zweck ist nicht, den Moment der Überwindung auszublenden (das ist bei Temperaturen unter fünfzehn Grad auch gar nicht möglich). Das Umkleideritual dient zur Beruhigung vor dem Moment der ersten Kälteberührung, des Kälteschocks. Denn sosehr man auch versucht, darauf gefasst zu sein, die Begegnung mit der Kälte bleibt unberechenbar. Es ist unmöglich, sie vorher zu ermessen. Man weiß nur, dass es kalt wird, aber nie genau, wie kalt. Auch die Celsius-Skala mit ihrer für Schwimmer viel zu groben Einteilung ist kaum mehr als ein Anhaltspunkt. Grad ist nicht gleich Grad. Schon ein Eichstrich weniger auf der Quecksilbersäule kann eine andere Welt bedeuten, wenn man ins Wasser geht.
Und dann ist sie wirklich da, die Kälte, packt zu, dringt ein, nagt, beißt, sticht, schneidet. Sämtliche Alarmglocken schrillen. Jetzt kommt es darauf an, den nächsten Schritt zu tun, dem Reflex des Zurückzuckens nicht nachzugeben, in der Kälte nicht zu verkrampfen, sondern ruhig zu atmen und die Angst und den Aufruhr des Körpers zu zähmen, so als ließe sich die Kälte selbst zähmen und gnädig stimmen, so als wäre dies nur eine stürmische, etwas zu heftig geratene Begrüßung unter Freunden.
Die Kunst ist, die Kälte anzunehmen wie eine Herausforderung und sich von dem ersten Alarm nicht irre machen zu lassen. Es gilt, die Ruhe zu bewahren und immer weiter auf den Moment zuzugehen, zuzuschwimmen, in dem sich die...