BEGONNEN AM 21.8.39. GEDANKEN ÜBER DEN WEG DER CHRISTLICHEN KIRCHE
von Martin Niemöller, D.D.1
Vorwort.
Zum Abschluß meiner zweiten theologischen Prüfung im Jahre 1924 fragte mich der Examinator in Dogmatik, der zugleich mein akademischer Lehrer gewesen war: »Was würden Sie als die heute vordringliche Aufgabe der systematischen Theologie bezeichnen?«2 – Ohne mich auch nur einen Augenblick zu besinnen, gab ich zur Antwort: »Daß sie uns sagt, was es um die Kirche ist!« – Als ich wenige Stunden später mit demselben Professor auf dem Heimweg war, fragte er mich plötzlich: »Was haben Sie nur für ein Interesse an der Kirche?«3 – Blick und Stimme verrieten, daß er in höchstem Maße überrascht gewesen war, bei einem angehenden evangelischen Pastor auf die Frage nach der Kirche zu stoßen, und daß er sie selbstverständlich als eine völlig untergeordnete Frage ansah.
Ich brauche nur noch hinzuzufügen, daß dieser evangelische Theologieprofessor weder zur »alten Generation« noch zu den »Liberalen« noch auch zu den die Kirche ablehnenden Vertretern seines Berufs gehörte, und der ganze Jammer der evangelischen Theologie von damals, der Heranbildung des geistlichen Nachwuchses und der Versorgung der Gemeinden wird offenbar: Jeder theologische Lehrer hatte sein mehr oder weniger eigenes »System«, der Student und künftige Pfarrer suchte sich davon aus, was seinem geistigen Niveau und Bedarf entsprach oder ihm aus anderen Gründen behagte, und die Gemeinde mußte sich mit der Kost bescheiden, die ihr in den [Seite 2] nach diesen und anderen Rezepten angefertigten Predigten dargeboten wurde. – Die »Kirche« ist nur etwas Äußerliches, ein Rahmen, der die Gemeinden und Pfarrer in leidlicher Ordnung zusammenfaßt mit der Aufgabe einer möglichst ökonomischen Verwaltung und – nötigenfalls – einer moralischen Überwachung der Pfarrer und Gemeindebeamten: ein Stück weltlicher Obrigkeit im geistlichen Gewande. –
Soweit die akademische »Evangelische Theologie« an den Universitäten und damit die Ausbildung des evangelischen Pfarrernachwuchses und leider auch die geistliche Versorgung der Gemeinden in Frage steht, hat sich an diesem Zustand, wie er vor 15 Jahren war, nichts geändert, jedenfalls nicht zum Besseren.
Die theologische Wissenschaft – krampfhaft bemüht, den Anschluß an die universitas litterarum doch noch festzuhalten und deshalb den Zeitforderungen um jeden Preis nachzukommen – hat inzwischen auch die letzte Verbindung mit dem Leben der christlichen Gemeinde verloren. Die kurze Zeitspanne, da ein neuer Hauch von Geist in ihr wehte, weil ein christlicher Theologe in ihr wieder vom Wort Gottes Zeugnis zu geben wagte und unerbittlich die Frage nach dem wahren Inhalt der kirchlichen Verkündigung stellte, ist verschwunden;4 statt dessen ist eine neue Zeit der kleinen Dinge heraufgezogen, die ihr Kennzeichen darin hat, daß die Lehrer der Kirche – wie zu den Zeiten, als die Weissagung des Jesaja geschrieben wurde (Jesaja 30,20) – in der Verborgenheit stecken und an ihrer Statt Professoren der »Theologie« weiter ihre Systeme anbieten, in denen sie aus Blindheit [Seite 3] oder mit Bedacht allen unangenehmen Begegnungen weit aus dem Wege gehen. Ein schwacher Trost, daß diese Theologen den Titel führen »Doktor der Theologie« und nicht mehr »Doktor der heiligen Schrift«! Tatsächlich müßte es längst »Doktor der Religionskunde« heißen, damit die christliche Gemeinde und ihre angehenden Pfarrer nicht länger in dem Irrtum bestärkt werde, als würde hier noch eine Vorbereitung auf das kirchliche Amt geboten.
Was wird darüber aber aus unserem evangelischen Pfarrernachwuchs? – Es war schon vor 20 Jahren so, daß wir auf der Universität sehr nachhaltig lernten, war wir nicht predigen sollten; und daß war immerhin auch ein Dienst. Das Übrige, was wir hörten, war gewiß nicht uninteressant. Ich werde z.B. nie vergessen, daß ich unter dem Vorlesungstitel »Alttestamentliche Theologie« eine ganz geistreiche Kulturgeschichte des israelitischen Volkes zu hören bekam; und ich zweifle nicht daran, daß die gleiche Vorlesung heute noch reizvoller geworden ist.5 Aber mir hat kein Universitätstheologe je beigebracht, was das Alte Testament heute für die christliche Kirche und die Predigt in ihren Gemeinden bedeutet, obgleich doch schon in den biblischen Büchern selbst einiges darüber zu lesen steht! – Oder ich denke an die neutestamentliche Wissenschaft und ihren Lehrbetrieb: da gab es eine Fülle von Problemen und Erkenntnissen zu verarbeiten über die Entstehung der einzelnen Schriften und die Tatsachenbedeutung ihres Inhalts, über die Verfasser und ihre Abhängigkeiten voneinander; es fiel auch einmal ein Wort darüber, wie wohl hier oder da in den Tagen [Seite 4] der Apostel das Evangelium verstanden worden sei. Ich bin überzeugt, daß auch dieses Teilgebiet durch neue Fragen wie z.B. die nach der Rassezugehörigkeit Jesu von Nazareth noch angereichert worden ist.6 Aber auf die Frage »Was soll ich predigen?« wird es dabei heute so wenig eine Antwort geben wie damals, weil der Brunnen der evangelischen Theologie zu jener Art gehört, von denen der Prophet warnend sagt, daß sie »löchrig sind und kein Wasser geben« (Jeremia 2,13). – Und in den Fächern der Dogmengeschichte und der Symbolik war es die gleiche Not: wir bekamen ein Bild von dem, was je und dann in der Kirche gelehrt worden war –, nicht aber davon, was heute in der Kirche rechtens gelehrt werden sollte. Wir wurden unterrichtet, in welchen Lehren sich die einzelnen Konfessionen unterschieden haben oder auch noch unterscheiden; aber da im Dunkel blieb, welches die wahre Lehre und Verkündigung sei, so wurde auch nicht deutlich, ob denn die konfessionellen Scheidungen zu Recht bestehen, zumal ja innerhalb einzelner »Kirchen« noch wieder Lehrunterschiede anzutreffen sind, die zwar zu keiner Spaltung führen, die aber allem Anschein nach viel weiter und tiefer gehen als die Unterschiede zwischen den Konfessionen. – Ich fragte einmal im Jahre 1936 einen lutherischen Kirchenführer vor seiner versammelten Pfarrerschaft, weshalb wir mit den Reformierten nicht in einer Kirche sein könnten, obwohl wir doch heute innerhalb der lutherischen Theologie Lehrunterschiede duldeten, die z.B. in der Abendmahlsfrage viel weiter griffen als etwa der Unterschied zwischen Luther und Calvin?! Als Antwort erfolgte eine gute, wissen[Seite 5]schaftliche Vorlesung über die Unterscheidungslehren zwischen dem lutherischen und reformierten Bekenntnis des 16. und 17. Jahrhunderts; aber es fiel auch nicht ein Wort darüber, weshalb diese Differenzen uns nötigen, sie bei den Reformierten als für die Kirche untragbar zu erklären und mit der Verweigerung der kirchlichen Gemeinschaft zu beantworten, während wir bei den Dogmatikern unter den »lutherischen« Professoren wesentlich stärkere Abweichungen von der bekenntnismäßigen Kirchenlehre unbeanstandet durchlassen und sie so wenig zur Gründung einer gesonderten eigenen Konfession auffordern, daß wir ihnen vielmehr die Ausbildung der Künftigen evangelischen, – nein, »lutherischen« (!) Pfarrer überlassen!
Was kann angesichts solcher Zustände von der praktischen geistlichen Versorgung der Gemeinden erwartet werden? – Man verweise nicht auf die Predigerseminare, durch die ja immerhin ein Teil der werdenden Pfarrer noch nach ihrem Universitätsstudium hindurchgingen! Sie lernten dort gewiß einiges darüber, wie man predigen und unterrichten soll; allein über das was konnte auch hier jeder seine eigene oder auch keine Meinung haben; denn auch hier herrschte der gleiche Theologiebetrieb wie in den Fakultäten der Hochschulen, und von den Leitern dieser Seminare pflegte der verstorbene Generalsuperintendent Zoellner bissig – aber mit guten Gründen – zu sagen, über ihrer Arbeit stünde der Wahlspruch »Lasset uns Lizentiaten machen, ein Bild, das uns gleich sei!«7 – Nein, es ist durchaus nicht verwunderlich, daß selbst die kirchlichen Kreise in unseren evang[Seite 6]gelischen Gemeinden geistlich verarmt und unterernährt sind, daß sie das Brot des Lebens von wertlosen Ersatz nur selten zu unterscheiden vermögen, und daß sie deshalb kritiklos annehmen, was ihnen mit etwas Geist und einiger Wärme dargeboten wird. – Man mache den Versuch: Auch der kirchentreue Protestant weiß leicht zu sagen, was er nicht glaubt. Er glaubt nicht an den Papst und die Heiligen und nicht an das Fegefeuer; er glaubt nicht, daß man Gottes Wohlgefallen mit frommen oder auch mit guten Werken gewinnen könne; er glaubt nicht, daß beim Abendmahl Brot und Wein in Fleisch und Blut verwandelt werden; er glaubt nicht an die Jungfrauengeburt und nicht an die Inspiration der heiligen Schrift; meist glaubt er auch weder an eine leibliche Auferstehung Jesu Christi noch an seine wirkliche Wiederkunft. Kurzum: die »Ergebnisse« der theologischen Wissenschaft sind in weitestem Maße zum volkstümlichen Allgemeingut der evangelischen Kirchenglieder geworden. – Das gilt aber nicht nur nach dieser negativen Seite. Man mache auch den weiteren Versuch und frage kirchentreue Protestanten nach dem, was sie denn glauben?! Die Antwort wird – genau wie bei den »Theologen« – oft ganz ausbleiben oder...