Das Abc der Gefühle
Wir fühlen so, wie wir denken. Wenn Ihnen dieser Satz in seiner ganzen Bedeutung klar ist, können Sie das Buch zuklappen oder zum nächsten Kapitel übergehen. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob Sie sich das wirklich leisten können. Bei mir war es jedenfalls ganz anders.
1978 habe ich zum ersten Mal gehört, dass unsere Gefühle von unserem Denken abhängen. Ich fand diese Überlegung einleuchtend und habe danach eine Menge Bücher zu diesem Thema gelesen sowie später eine Ausbildung in Rational-Emotiver und Kognitiver Verhaltenstherapie gemacht, zwei Therapierichtungen, die auf dem schlichten Satz »Wir fühlen und handeln so, wie wir denken« basieren. Und trotzdem bin ich immer noch dabei, die ganze Tragweite dieser Grundaussage zu erkennen – bei mir, bei anderen, in Gesprächen, beim Zeitunglesen, in Filmen, Romanen und Songtexten. Überall tritt der Zusammenhang zwischen dem Denken, Fühlen und Handeln hervor, leider oft so, dass Menschen leiden, aber nicht wissen, warum.
Zu erkennen, dass unsere Gefühle und unser Verhalten auf unserem Denken beruhen, und gemäß dieser Erkenntnis zu leben, ist dasselbe wie gegen den Strom schwimmen; denn überall wird dieser Zusammenhang geleugnet.
Mitte der Fünfzigerjahre des 20. Jahrhunderts hat der amerikanische Psychologe Albert Ellis diese alte Wahrheit neu entdeckt, dass nämlich unsere Gefühle nicht von den Ereignissen abhängen, sondern von unseren Gedanken. Diesen Zusammenhang hat er das Abc der Gefühle genannt. Dabei steht A für »activating event« (Ereignis, das die Gedanken aktiviert, anregt), B für »belief« (Gedanken, Überzeugungen) und C für »consequences« (Reaktionen, Folgen, nämlich Gefühle und Handlungen). Die Ursachenkette läuft also von A nach B zu C. Beliebige Ereignisse regen Gedanken an, und diese Gedanken lösen Gefühle und Verhaltensweisen aus. Im Folgenden nenne ich diese Kette »ABC-Denken«. ABC-Denker sind sich bewusst, dass sie über ihre Gedanken ihre Gefühle und Handlungen steuern können.
Die große Mehrheit der Menschen ist allerdings zu den AC-Denkern zu rechnen. Sie glauben, dass die äußeren Ereignisse ihre Gefühle und auch ihr Verhalten auslösen. Diese Überzeugung bezeichne ich im Folgenden als »AC-Denken«.
Da das AC-Denken in unserer Sprache und Kultur tief verankert ist und praktisch jeder mehr oder weniger so denkt, habe ich zuvor gesagt, den wahren Zusammenhang zu erkennen sei wie gegen den Strom schwimmen. Es besteht immer wieder die Gefahr, in den Sog des Mainstream-Denkens hineingezogen zu werden und sich als Opfer der Umwelt anzusehen.
Die Philosophie des AC-Denkens hat zahlreiche Auswirkungen. Wenn es zutrifft, dass meine Gefühle und Handlungen von den Ereignissen um mich herum abhängen, bin ich den Ereignissen hilflos ausgeliefert. Jedes Geschehen kann mich dann ärgern oder enttäuschen oder ängstigen, aber auch erfreuen oder beruhigen.
Wenn es der Wahrheit entspräche, dass die Außenwelt meine Gefühle und mein Verhalten bestimmt, dann bestünde meine einzige Chance darin, auf die Außenwelt einzuwirken, um meine Gefühle ändern zu können. Erst nachdem mir das gelungen ist, könnte ich mich anders fühlen und anders verhalten.
Das AC-Denken durchzieht unsere Alltagssprache. Ständig sagen, denken oder hören wir Sätze wie: »Dieses Ereignis (Katastrophe, Erdbeben, Terroranschlag) hat die Menschen tief verstört.« »Michael/Julia macht mich krank durch seine/ihre ständigen Vorwürfe.« »Diese Kritik hat mich total verunsichert.« »Das Konzert hat die Leute begeistert.«
Wenn Sie genau aufpassen, werden Sie selbst in diesem Buch einige vom AC-Denken beeinflusste Sätze finden. Zwar formuliere ich inzwischen genauer, aber einige Redewendungen sind einem so vertraut, dass man sie benutzt, ohne ihren verdrehten Sinn sofort zu erkennen.
Das AC-Denken zeigt sich in folgenden Aussagen: Das ärgert mich. Es beängstigt mich. Er hat mich enttäuscht. Das freut mich. Es beruhigt mich. Im korrekten ABC-Stil müsste es heißen: Ich ärgere mich, weil … (ich könnte aber auch gelassen bleiben). Ich ängstige mich, wenn … (ich könnte aber auch ruhig bleiben).
Der Satz »Er hat mich enttäuscht« lässt sich nicht so ohne Weiteres ändern. Wir können nicht einfach sagen: Ich enttäusche/deprimiere mich wegen dieser Sache, sondern wir müssen auf etwas umständlichere Umschreibungen ausweichen: »Ich reagiere mit Enttäuschung/Depression, wenn das und das passiert« (ich könnte aber auch gefasst reagieren).
Freude und Ruhe sind dem ABC-Stil wiederum leichter zugänglich: Ich freue mich (könnte aber auch gleichgültig reagieren). Ich beruhige mich, wenn ich diese Musik höre (könnte mich aber auch darüber ärgern).
Wie stark der irrtümliche AC-Zusammenhang verbreitet ist, erkennt man am Ausmaß, in dem Menschen leiden. Menschen ärgern, ängstigen, deprimieren sich mehr als nötig (nebenbei: wie viel ist denn nötig?). Wenn sie sich ihrer Wahlmöglichkeiten bewusst wären, würden sich die meisten wohl für gelassenere Reaktionen entscheiden. Aber sie denken, dass man sich in bestimmten Situationen ärgern, ängstigen und deprimieren muss, und tun es dann auch entsprechend. Sie wissen es einfach nicht besser, wenn es darauf ankommt.
Als Beispiel möchte ich Ihnen eine Situation schildern, die ich in einem Kaufhaus beobachtet habe. Eine Mutter blätterte in der Zeitungsabteilung in einigen Zeitschriften, während ihre kleine Tochter, vielleicht fünf Jahre alt, vor sich hin weinte. Nach einiger Zeit sagte die Mutter deutlich genervt: »Sei nicht so albern. Hör auf.« Es nützte nichts. Kurze Zeit später: »Es ist immer dasselbe mit dir. Du bist undankbar. Du hast ein paar schöne T-Shirts bekommen, und was machst du? Du heulst wegen des Stoffteddys, den du nicht bekommen hast. Du hast genug Spielsachen.« Die Tochter heulte weiter, und die Mutter blätterte weiter in den Zeitschriften. »Jetzt ist es aber genug. Sei nicht albern. Hör auf.« Darauf die Tochter: »Ich kann nicht.« Schließlich zog die Mutter verärgert mit ihrem Kind davon.
Das kleine Mädchen wusste wirklich nicht, wie sie aufhören könnte, dem Teddy nachzuweinen. Sie schien sich zu bemühen, aber dann dachte sie vermutlich wieder an den Teddy und wie schön es wäre, ihn zusammen mit den T-Shirts in einer Tüte zu haben, und dann musste sie wieder weinen. Eine traurige Geschichte. (Merken Sie etwas? Nicht die Geschichte ist traurig, sondern wir empfinden dieselbe Traurigkeit, wenn wir dieselben Gedanken wie das kleine Kind denken.) Die vielleicht 30 Jahre ältere Mutter schien leider ebenfalls nicht zu wissen, wie sie ihre Tochter auf andere Gedanken bringen könnte. Stattdessen dachte sie offenbar ungefähr Folgendes: »Meine Tochter sollte mir dankbar sein, dass ich ihr diese schönen T-Shirts gekauft habe. Aber sie will unbedingt diesen Teddy. Sie sollte dankbar für die Teddys sein, die sie hat. Sie ist ein schlechtes Kind. Vor den vielen Leuten macht sie mir eine Szene. Heute ist wieder so ein Tag, an dem sie mich total nervt.«
Wie mag die Geschichte weitergehen? In 20 Jahren weint die Mutter vielleicht über ihren Teddy (Ehemann), der sie verlassen hat, und ihre dann erwachsene Tochter ärgert sich darüber, dass ihre Mutter nicht darüber hinwegkommt und sich so wenig dankbar für ihr – wie sie findet – gutes Leben zeigt.
Beide scheinen nicht zu wissen, wie sie ihr Denken, Fühlen und Handeln ändern könnten. Die Mutter sagt: »Hör auf zu weinen«, und die Tochter: »Ich kann nicht.« Umgekehrt könnte die Tochter sagen: »Hör auf, dich über mich zu ärgern.« Dann wäre die Mutter dran, »Ich kann nicht« zu antworten.
Wir würden niemals leiden, wenn wir uns des ABC-Zusammenhangs bewusst wären und unsere Gedanken so wählen würden, dass wir nicht leiden, sondern entweder glücklich oder gelassen wären. Dann würde das Mädchen vielleicht wirklich mehr an die Teddys denken, die es schon besitzt, und sich darüber freuen. Und die Mutter würde ihre Tochter nicht für undankbar halten, sich nicht ärgern, sondern ihr über den Verlust des Traumteddys hinweghelfen oder sie einfach in Ruhe lassen.
Es wäre sehr hilfreich, würden wir schon als Kinder das Abc der Gefühle und des Handelns lernen. Leider ist bis heute eher das Gegenteil der Fall: Nur wenige sind sich der Tatsache bewusst, dass sie durch die Wahl ihrer Gedanken ihre Gefühle beeinflussen können.
Der Psychologe Martin Seligman hat ein Präventivprogramm gegen Depressionen entwickelt und erfolgreich getestet (siehe Literaturverzeichnis). Es richtet sich an Eltern und LehrerInnen, die ihren Kindern und SchülerInnen beibringen möchten, ihre Gefühle zu verstehen und zu ändern. Nur so ist das unbewusste Einüben depressiver Gedankenmuster zu verhindern. Aber es wird einige Zeit dauern, bis diese Programme so selbstverständlich unterrichtet werden wie das Einmaleins und das Abc. Ob Eltern, LehrerInnen und Schulverwaltungen aufgeschlossen sind für derartige Programme, das hängt zunächst einmal von den mentalen Gewohnheiten ab, die in der jeweiligen Gruppe vorherrschen. In jedem Milieu gibt es für jede Situation typische Gedanken und damit auch typische Gefühle und Verhaltensweisen. Für Menschen aus einem bestimmten Land und einer bestimmten Schicht kann man daher mit großer Wahrscheinlichkeit voraussagen, wie die Angehörigen dieser Gruppe reagieren werden.
Nehmen wir ein Beispiel: Wenn jemand einem anderen sagt: »Sie sind ein Vollidiot«, so wird allgemein erwartet, dass dieser beleidigt ist und irgendwie zurückschlägt, also den Angreifer...