18661 Zuschauer im ausverkauften Oakwell-Stadion in Barnsley warteten darauf, dass es endlich weiterging. Dass Lars Leese endlich seine Schuhe zubekam.
Zum vierten Mal setzte er draußen auf der Ersatzbank nun schon an, zog die Schnürsenkel fest, machte einen Knoten, wickelte die langen Enden einmal um den ganzen Schuh herum und unter der Sohle hindurch, wie das Fußballprofis schon immer, ohne erkennbaren Grund, machen. Dann noch ein Knoten und die Schleife. Daran scheiterten seine zittrigen Hände schon wieder. »Hey, hey! Nimm dir verdammt noch mal Zeit. Ohne dich werden sie nicht weiterspielen«, rief Danny Wilson, der junge Trainer des FC Barnsley, seinem Ersatztorwart zu. Er wollte beruhigend klingen. Er klang angespannt.
Es passiert ungefähr in einem von tausend Fußballspielen, dass sich der Torwart verletzt und der Ersatzkeeper eingewechselt werden muss. Lars Leese hatte erwartet, das Match am 26. August 1997 in der englischen Premier League zwischen Barnsley und den Bolton Wanderers würde eines der anderen 999 sein. Zwei Stunden vor Spielbeginn hatte er der Großmutter seiner Frau noch erklärt: »Oma, bitte, nerv jetzt nicht, ich weiß, dass ich nicht spielen werde. Ich bin Ersatztorwart. Verstehst du: Er-sa-tz!« Oma Lina war aus Deutschland zu Besuch im backsteinbraunen Einfamilienhaus in der Winter Avenue in Barnsleys Vorort Royston, sie würde zum ersten Mal in ihrem Leben ein Fußballmatch sehen – sie wollte nicht einsehen, dass der Mann ihrer Enkelin dann nicht mitspielte. Vehement drängte sie vor der Abfahrt zum Stadion, ein Foto von Leese machen zu dürfen. »Vor deinem ersten Profispiel«, sagte sie.
»Oma …«
Zwei Fotos später fuhr Leese mit seinem Kollegen und Nachbarn, dem slowenischen Nationalspieler Ales Krizan, die zehn Minuten zum Oakwell hinunter, mit der Absicht, sich einen schönen Abend auf der Ersatzbank zu machen. Sein Trikot mit der Nummer 13 zog er erst gar nicht an. Im Sweatshirt und mit ungeschnürten Schuhen saß er an dem lauen Sommertag am Spielfeldrand, als Boltons Mittelfeldspieler Jamie Pollock mit einem überdrehten Tackling in Barnsleys Torwart David Watson knallte. Für einen Moment war es still. Die Zuschauer warteten, dass Watson wieder aufstand.
Als die vier Sanitäter Watson auf der Trage direkt an der Ersatzbank vorbei in die Stadionkatakomben schleppten, sah Leese nicht hin. Er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Ich habe mir doch selbst gesagt: »Ein ausverkauftes Stadion und du im Tor einer Profielf – von diesem Moment hast du das ganze Leben geträumt, du solltest dich freuen.« Aber natürlich habe ich mich nicht gefreut. Ich hatte Lampenfieber, was heißt Lampenfieber: Ich hatte Schiss. Schon als Watson am Boden lag, war mein erster Gedanke: »Mach keinen Scheiß, bitte steh wieder auf.« Ich habe versucht, mir selbst Befehle zu geben: »Dreh jetzt nicht durch, Lars.« Und im nächsten Augenblick konnte ich schon wieder nur noch denken: »Watson, bitte steh auf.« So jagten meine Gedanken beim Aufwärmen durcheinander. Ich täuschte ein paar Gymnastikübungen vor, tatsächlich konnte ich meine Beinmuskeln gar nicht dehnen. Ich wäre umgefallen, so weich waren meine Knie. Beim Laufen ließ ich die Arme kreisen, irgendwie glaubte ich, so könnte ich den Zuschauern vormachen: »Ich bin heiß« Und dann hab ich noch nicht mal die Schuhe zubekommen. Ich fühlte mich so unheimlich beobachtet. »18000 Zuschauer schauen auf dich«, dachte ich, was natürlich Quatsch war, weil viele Watsons Abtransport beobachteten oder einfach palaverten.
Watsons Niere war eingerissen, das Gehirn erschüttert, würde am nächsten Tag die Diagnose im Barnsley General Hospital lauten. Im Oakwell jedoch kehrte die gute Laune in Minutenschnelle zurück. Das Publikum war fest entschlossen, sich seine Ausgelassenheit durch nichts nehmen zu lassen. Dies war Barnsleys drittes Heimspiel der Saison 97/98, und auch wenn die ersten beiden verloren gegangen waren, herrschte noch immer Feiertagsstimmung im Oakwell. Zum ersten Mal in 110 Jahren spielte der Klub aus der Kleinstadt zwischen Leeds und Sheffield Erste Liga; eine Liga, die neben der spanischen Primera Division und der italienischen Serie A die aufregendste im modernen Fußball ist. »Es ist, als wäre etwas vom Mars auf uns heruntergekommen«, sagte Michael Spinks, der Geschäftsführer des Klubs.
Das Geschrei im Oakwell schwoll an, als Leese im fünften Versuch endlich die Schuhe geschnürt hatte und neben den Linienrichter trat; bereit, ins Spiel zu kommen.
»Lies! Lies! Lies!«, brüllten die Zuschauer.
Nach gut zwei Monaten in Barnsley wusste Leese, was sie meinten; wen sie meinten: Für die Engländer war er Lars Lies.
Bevor der 1,97 Meter große Ersatztorwart in der 29. Spielminute beim Stand von 1:1 auf den Rasen sprintete, hielt Trainer Wilson ihn noch kurz am Arm fest und gab ihm eine Anweisung.
»Genieß es«, sagte Wilson.
Leese war sich nicht so sicher, ob ihm das gelingen würde.
Ich wollte wie ein Tiger sein. Toni Schumacher, der Held meiner Jugend, hat das mal gesagt: »Der Torwart ist das Raubtier, das sich auf den Ball wie auf seine Beute stürzt.« Aber ich tigerte da herum – und es passierte nichts. Es kam kein Ball auf mein Tor. Für einen Torwart ist das brutal, du kannst ja nicht aktiv werden. Du kannst nur warten. Die Gedanken quälen dich. »Lass den ersten Ball einen guten sein«, habe ich gebetet. »Wenn ich erst einmal den ersten Ball halte, wird alles gut.« Und der verfluchte Ball kam nicht. Du entwirfst Horrorszenarien: Der erste Ball ein Rückpass zu dir, du trittst in den Boden, schießt den Ball zum Gegner und der ins Tor. So was denkst du. Es mögen fünf Minuten gewesen sein, aber mir kam es wie eine Dreiviertelstunde vor, bis der erste Ball kam. Ich bin wie wahnsinnig aus meinem Tor gerannt, raus aus dem Strafraum, raus auf den linken Flügel, von mir aus gesehen. Es war ein langer Pass in den freien Raum. Ich machte die Grätsche, rutschte über den Rasen – und war zwei, drei Meter vor dem gegnerischen Stürmer da. Mit voller Wucht habe ich den Ball unter das Dach der Haupttribüne gedroschen. Danach schien etwas über mir zusammenzubrechen – wie eine Brandung rollte das Klatschen und Brüllen der Zuschauer heran.
Er hört das Klatschen und Brüllen wieder. Im Wohnzimmer in Hürth, nahe Köln. Vier Jahre später.
Lars Leese sitzt auf der blauen Couch, vor sich ein Glas Wasser und vor seinen Augen jenen Abend im Oakwell. Seine Pupillen scheinen zu glühen, so sehr bewegt ihn die Erinnerung an das Spiel gegen Bolton. Nun kann er es genießen.
»Es ist ja alles schon so weit weg«, sagt er und lauscht den Worten nach. Sie klingen falsch, weil eben, als er von seinem Debüt im Profifußball erzählte, alles noch so nah war. Und doch ist die Zeit in Barnsley auf andere Weise tatsächlich schon wieder so fern. Er ist 32, ein gutes Alter für einen Torwart, doch morgens geht er nun im Rheinland »Bleistifte verticken«, wie er mit fröhlicher Selbstironie seinen Job als Vertreter für Büromaterial beschreibt. Er ist wieder da, wo er herkam: Lars Leese, ein junger, freundlicher Kaufmann aus Köln. Sein Ausflug in die Welt des Profifußballs dauerte nur drei Jahre – aber es wird immer eine einmalige Karriere bleiben. Denn Lars Leese machte wahr, wovon wir alle heimlich träumen.
Wir, die mit 43 zum Kicken im Park das Trikot mit der Nummer 18 und dem Namen Klinsmann auf dem Rücken überstreifen und am Abend vorher extra zwei Bier weniger trinken. Wir, die mit 32 samstags im Supermarkt beim Bezahlen die Kassiererin anlächeln, aber in Gedanken dabei sind, Andi Möller mit einer sauberen Grätsche vom Ball zu trennen. Wir, die mit 25 auf einem Aschenplatz in der Kreisliga B spielen und träumen, irgendwann gehe Franz Beckenbauer in der Nähe das Benzin aus, er komme zum Sportplatz und entdecke uns für Bayern München.
Lars Leese lebte unseren Traum.
Mit 22 spielte er für die Sportfreunde Neitersen in der Kreisliga Westerwald. Mit 28 sicherte er mit seinen Paraden Barnsleys 1:0-Sieg über den sechsmaligen Europacupsieger FC Liverpool vor 41000 Zuschauern an der berühmten Anfield Road. Aus einem Freizeitfußballer war ein Profi in der legendären Premier League geworden; auf einmal stand er in einer Reihe mit den großen deutschen Torhütern Bert Trautmann und Eike Immel, den Einzigen, die vor ihm in England spielten. So einen Aufstieg hat es noch nie gegeben und wird es vermutlich auch nicht mehr geben, jetzt, wo die großen Klubs ihre Späher bis nach Brasilien zu Jugendmeisterschaften schicken, um ja kein 15-jähriges Talent zu übersehen. In dieser Zeit stieg einer, der mit 26 noch bei Raab-Karcher als Einkäufer für Computerware arbeitete und samstags als Fan beim 1. FC Köln zuschaute, aus der Masse der Zuschauer direkt hinunter auf den Rasen.
»Das ist nicht wahr«, war mein erster Gedanke, als ich Leese im August 1997 in Barnsley für ein Zeitungsinterview traf und seine Geschichte zum ersten Mal hörte. Mein zweiter war: »Die Geschichte kenne ich doch.« Genauso unerwartet, auf ähnlich unglaubliche Weise wie Leese war ich selber tausendmal Profi geworden – in meinen Tagträumen, wenn ich im Klinsmann-Trikot in den Park ging oder an der Supermarktkasse Andi Möller umgrätschte. Die Wahrheit ist: Natürlich wäre den meisten von uns nie so eine Karriere gelungen, selbst wenn Franz Beckenbauer in der Nähe unseres Sportplatzes das Benzin ausgegangen wäre. Natürlich hat Leese mehr Talent als wir alle zusammen; er spielte in der Jugendelf des 1....