Die Stimme des Wandels
Er war ein Sohn ungebildeter Eltern, in einem abgelegenen tibetischen Dorf geboren. Er musste aus seiner Heimat fliehen und ist seit über einem halben Jahrhundert ein Mensch ohne Land. Er hat nie ein Haus oder einen Wagen besessen, er hat kein Einkommen und folglich auch keine Rücklagen irgendwelcher Art. Er hat auch nie selbst eine Familie gehabt.
Er hat keine normale Schule besucht. Seine Erziehung bestand in einem vor sechshundert Jahren entwickelten Curriculum der Einführung in Philosophie und Ritual. Heute trifft er sich regelmäßig zu tiefschürfenden Diskussionen mit namhaften Wissenschaftlern.
Er spricht mit hochrangigen Entscheidungsträgern ebenso wie mit Schulkindern oder normalen Bürgern, auch mit den Bewohnern von Slums überall auf der Welt. Er reist sehr viel und ist von unstillbarer Wissbegier.
Die Rede ist natürlich vom Dalai Lama, einem Menschen, wie es nicht viele in dieser Welt gibt, frei von vielen Belangen, die bei uns Übrigen einen Großteil der Aufmerksamkeit und Tatkraft binden – zum Beispiel an Familie und Freundeskreis und unser gesamtes näheres und weiteres Lebensumfeld.
Er ist kein ausgewiesener Spezialist auf irgendeinem Fachgebiet, seine besondere Kompetenz liegt in anderen Bereichen des Lebens, wo es nicht auf erworbene Kenntnisse, sondern auf Weisheit ankommt.
So ist er ein Experte der ganz besonderen Art, nämlich auf dem Gebiet der tiefen Betrachtung und der Stille, der Selbstlosigkeit und des Mitgefühls. Kaum einer von uns käme wohl dauerhaft auf die Idee, wie er fünf Stunden am Tag zu meditieren. Aber was er auf diesem Weg an Einsicht und fürsorglicher Zuwendung gewonnen hat, davon können wir sicherlich einiges lernen, handelt es sich doch um wichtige Zutaten eines guten und erfüllten Lebens.
Wenn es um Geld geht, suchen wir einen Anlageberater auf, und für unsere Gesundheit konsultieren wir den Arzt, aber was unser Innenleben angeht oder die Frage, wie wir in dieser Welt eine Kraft zum Guten sein können, dürfen wir dem Dalai Lama als einem Experten trauen, der uns allen Anleitung geben kann.
Wendet zuerst den Blick nach innen, rät er uns, und sorgt dafür, dass mit Geist und Herz alles zum Besten steht. Von dieser inneren Ausgeglichenheit aus könnt ihr dann den Blick nach außen richten und euch fragen, was ihr Gutes tun könnt.
Er rät uns auch, uns nicht von schlimmen Nachrichten entmutigen zu lassen, da sie nicht das Ganze repräsentieren, sondern nur einen kleinen Teil, nur die Oberfläche. Darunter liegt ein Meer von Feinfühligkeit und Freundlichkeit, das jeder Einzelne von uns noch vergrößern kann.
Ich habe in den letzten Jahren viel über Führung geschrieben und denke, dass der Dalai Lama allen Menschen mit Führungsverantwortung etwas mitteilen kann. Und wie wir sehen werden, schließt seine Vision für eine bessere Welt niemanden aus, sondern spricht jede Gesellschaftsschicht und alle Menschen an, überall auf der Welt. Seine Botschaft richtet sich nicht an Auserlesene oder Eingeweihte, sondern an uns alle.
Er schreibt uns auch nicht vor, wie wir aktiv werden sollen. Zwar hat er ganz bestimmte Ziele im Sinn, aber er überlässt es uns, ob wir ihm darin folgen wollen oder nicht, und falls ja, was wir dann unternehmen.
Er hat kein Interesse an unserem Geld oder unseren »Likes«, und er braucht uns nicht als »Followers«. Er bietet seine Sicht des Lebens einfach dar, gratis. Wir können zugreifen oder eben nicht.
Das Erfrischende an seiner Botschaft liegt für mich darin, dass keine versteckten Absichten dahinterstecken und sich alles um ein zentrales Ordnungsprinzip dreht: echtes Mitgefühl. Und da er so tief um die Verbundenheit aller Menschen weiß, gilt seine liebevolle Zuwendung uns allen.
In Gesprächen mit hohen Verantwortungsträgern, sei es in Davos oder Washington, höre ich immer wieder die gleichen Klagen: Unsere zentralen Wertvorstellungen sorgen dafür, dass die Reichen die Armen einfach ihrem Schicksal überlassen, dass weltumspannende Systeme ihrem Untergang entgegengehen und die Regierungen angesichts all der dringenden Aufgaben wie gelähmt wirken und weitgehend untätig bleiben. Wir brauchen, heißt es dann weiter, Orientierungsgestalten einer neuen Art, die endlich Schluss machen mit diesem Mix aus Zynismus und Eigennutz, von dem keine lebenswerte Zukunft mehr zu erwarten ist.
Je bekannter wir sind, desto mehr Menschen orientieren sich an uns. Der Dalai Lama spricht Millionen an, und dadurch fällt ihm eine Rolle für die ganze Welt zu. Er ist ein Weltbürger geworden, seit über einem halben Jahrhundert überall auf der Welt unterwegs, und das jedes Jahr für etliche Monate. Die Anliegen der Welt sind wahrhaft seine.
Hohe Verantwortungsträger lenken unsere Aufmerksamkeit und bündeln unsere Kräfte in Richtung dessen, worauf es nach ihrer Einsicht ankommt. Bisher waren das allerdings fast ausschließlich die dringendsten kurzfristigen Ziele – die Quartalszahlen, die anstehenden Wahlen und dergleichen.
Im Wirtschaftsteil der Zeitung erfahren wir, woran man wirklich gute Führungskräfte erkennt: Sie entwickeln schlaue Strategien, mit denen man seiner Firma Marktanteile und satte Gewinne sichert, und immer wieder werden Topmanager gefeiert, denen es am besten gelingt, die Gewinne ihrer Firma legal am Fiskus vorbeizuschleusen. Und wenn Regierungsmitglieder einmal Pläne umzusetzen versuchen, die nicht ganz so kurzsichtig sind wie die Aktionen der Tagespolitik, scheitern sie in der Regel an der Trägheit des Systems.
So beschränken sich die meisten darauf, innerhalb dieser mehr oder weniger engen Grenzen »das Machbare« zu tun, was meist auf die Durchsetzung bestimmter Gruppeninteressen hinausläuft. Der Dalai Lama dagegen ist an keine Vorgaben gebunden, und das gibt ihm die Freiheit, unserem Denken so viel Spielraum zu schaffen, dass wir überlegen können, wie unser bestehendes System zum Nutzen möglichst vieler Menschen verändert werden kann.
Das macht ihn zu einer Führungsgestalt des Wandels: Er kann es sich leisten, über die Gegebenheiten der derzeitigen Realität hinauszublicken und Wege in eine bessere Zukunft für die ganze Welt aufzuzeigen. Menschen wie er besitzen einen weiten Horizont und können sich auch unseren größten Herausforderungen zuwenden, da sie in die Zukunft denken und das im Blick haben, was über das Tagesgeschehen hinaus für uns alle zählt.
Sie handeln nicht im eigenen persönlichen Interesse oder dem ihrer Gruppe oder Organisation, sondern für uns alle, für die Menschheit. Die Welt sehnt sich nach dieser Art von Führung, und da sie von den bestehenden Machteliten alles in allem nicht geboten wird, brauchen wir gerade solche Stimmen wie die des Dalai Lama.
Je altruistischer die Leitwerte, je weiter der Zeithorizont und je allgemeingültiger die von einer Orientierungsgestalt angesprochenen Bedürfnisse sind, desto größer wird die Vision dieses Menschen sein. Wahre Leitfiguren des Wandels dienen transzendenten Zwecken und weisen den Weg in eine neue Realität, und das ist es, was mich an der Vision des Dalai Lama so ganz besonders anspricht.
Man mag sich fragen, was gerade den Dalai Lama zu einer solchen Leitfigur macht. Zwar fühlen sich viele Menschen weltweit von seiner Ausstrahlung angezogen und bewundern seine Weisheit und sein Mitgefühl, aber wenige erkennen ihn als zukunftsweisenden Visionär, der unsere Probleme und ihre Lösungen aus einer globalen Perspektive und über Jahrhunderte hinweg betrachtet – und spürt, was nötig sein wird, wenn wir unserer künftigen Realität gewachsen sein wollen.
Der Dalai Lama hat bei seinen Reisen rund um den Globus immer zwei Arten von Zuhörern gehabt: einerseits die am Buddhismus interessierten Teilnehmer bei seinen religiösen Unterweisungen, und zum anderen ein allgemeines Publikum bei seinen öffentlichen Vorträgen. Bedingt durch das, was er als seinen persönlichen Auftrag empfindet, schwindet mit den Jahren seine Neigung, zu immer den gleichen Versammlungen von Buddhisten zu sprechen. Anders gesagt: Seine öffentlichen Vorträge nehmen zu, seine religiösen »Auftritte« ab.
Wenn er seine Vision erläutert, spricht er jeden von uns an, nicht als religiöser Würdenträger, sondern als globale Führungspersönlichkeit, als einer, dem das Wohl jedes einzelnen Menschen auf dieser Erde am Herzen...