Achtsamkeit im historischen buddhistischen Verständnis
Der Begriff der Achtsamkeit hat seinen Ursprung im Buddhismus. Achtsamkeit ist dort eines der zentralen Konzepte der Lehre und hat in den letzten 2500 Jahren in den asiatischen Verbreitungsgebieten des Buddhismus nur wenig Veränderung erfahren. Buddhismus kann als ein spiritueller Weg der Selbsttransformation beschrieben werden. Ziel dieses Prozesses ist, sich von der eigenen Bedingtheit zu befreien und Mitgefühl für alle Wesen zu entwickeln.
Die ältesten schriftlichen Hinweise auf Achtsamkeit (sati in der damaligen Schriftsprache, Pali) findet man im sogenannten Palikanon des Theravada-Buddhismus. Theravada (wörtlich: Schule der Älteren) ist die älteste buddhistische Schule, die noch heute in Sri Lanka, Myanmar, Laos, Kambodscha und Thailand praktiziert wird. Alle anderen buddhistischen Traditionen wie der tibetische Buddhismus oder der Zen-Buddhismus haben ihren Ursprung in dieser Tradition. Es ist überliefert, dass buddhistische Mönche ungefähr im 1. Jh. v. Chr. die Reden und Lehren von Gautama Buddha, der vermutlich im 5. Jh. v. Chr. lebte, niedergeschrieben haben. Diese Texte, die zuvor mündlich überliefert worden waren, bilden das älteste schriftliche Zeugnis der buddhistischen Lehren, den Palikanon. [31] Für das Studium der Achtsamkeit sind hauptsächlich zwei Lehrreden des Buddha (Pali: sutta) von Bedeutung: die Lehrrede von den vier Grundlagen der Achtsamkeit, das Satipatthana Sutta [32][33], und die Lehrrede von der Achtsamkeit auf den Atem, das Anapanasati Sutta[34]. Beide Suttas beschreiben ausschließlich eine Meditationspraxis, jedoch kein Konzept. Was mit Achtsamkeit oder sati aber genau gemeint ist, kann aus diesen Praxisanleitungen erschlossen werden.
Laut Analayo [35], einem Mönch und Gelehrten der Theravada-Tradition, hat das Wort sati seinen Ursprung in dem Verb sarati, was »sich erinnern« (S. 59) bedeutet. Allerdings ist sati nicht als Erinnerung gemeint, sondern als Gewahrsein des Augenblicks, was die Erinnerung wiederum erleichtert. Gewahrsein im Augenblick und Erinnerung ergänzen sich gegenseitig: »… verbindet sati das Bewusstsein im Augenblick mit der Erinnerung an das, was der Buddha gelehrt hatte« (S. 61). Um das zu erreichen, muss der Geist im Zustand von sati »in Bezug auf den gegenwärtigen Augenblick hellwach« sein (S. 61). Hier wird der Begriff der Weite des Bewusstseinszustandes (im Gegensatz zu einem eng begrenzten Fokus) betont (S. 61). Ein anderer Mönch und Gelehrter aus der Theravada-Tradition, Nyanaponika [36], beschreibt sati als »reines Beobachten« (S. 25ff.). Der Begriff »rein« bezieht sich hier auf die Tatsache, dass der Beobachter oder die Beobachterin versucht, lediglich das beobachtete Objekt wahrzunehmen, anstatt mit ihm zu interagieren, wie dies z.B. durch Beurteilungen, Bewertungen, Stellungnahmen oder bewusste Handlungen geschieht. Die amerikanische Meditationslehrerin Sharon Salzberg drückt den gleichen Sachverhalt anschaulich mit anderen Worten aus: »Achtsamkeit ist eine Qualität in der Beziehung zu einem wahrgenommenen Objekt. Einfach etwas wahrzunehmen, z.B. ein Geräusch zu hören, heißt nicht unbedingt, achtsam zu sein. Aber ein Geräusch zu hören, ohne dabei mit Verlangen, Ablehnung oder Selbsttäuschung zu reagieren, das ist Achtsamkeit.« [37]
Sati kann folglich als ein Zustand des Gewahrseins des gegenwärtigen Augenblicks beschrieben werden, in dem der Geist mit der oben beschriebenen Weite beobachtet, ohne einzugreifen.
Sati wird im Palikanon oft auch mit Hilfe von Bildern oder Gleichnissen beschrieben, wobei diese unterschiedliche Funktionen von sati betonen. Analayo [38] hat eine schöne Sammlung solcher Gleichnisse zusammengetragen (S. 66ff.). Der Aspekt des entspannten, weiten und leicht distanzierten Beobachtens kommt im Gleichnis vom Kuhhirten zum Tragen. Dieser muss zunächst sorgsam über die Kühe wachen, damit diese nicht in die Felder mit dem reifen Getreide laufen. Aber nach der Ernte kann sich der Hirte entspannt unter einen Baum setzen und die Kühe aus der Entfernung beobachten. Ein anderes Gleichnis hebt die feine Balance hervor, die die Praxis der Achtsamkeit erfordert; hier wird sati mit dem Tragen einer vollen Schale Öl auf dem Kopf verglichen. Viele dieser Metaphern betonen nicht nur den direkten Wert der Praxis, sondern zeigen auch, dass sati eine wichtige Haltung ist, um spätere Handlungen vorzubereiten. Hier gibt es das Bild von der Sonde des Chirurgen, die für die nachfolgende Behandlung Informationen über die Wunde liefert. Der vorbereitende Charakter für das Entstehen von Weisheit drückt sich in der Metapher von sati als Pflugschar aus, die den Boden bereitet, bevor man säen kann.
Diese Funktion von sati als Vorbereitung zur Erkenntnis zeigt sich bei den Begriffsbestimmungen oft auch dadurch, dass sati mit dem Begriff der Wissensklarheit (sampajanna) kombiniert wird. [39] Laut Analayo [40] bedeutet sampajanna, umfassend zu begreifen und zu verstehen, was gerade geschieht. Dieses Verstehen bereitet die Grundlage dafür, dass das reine Beobachten zur Einsicht und damit zur Entwicklung von Weisheit führen kann. Die Kombination von sati und sampajanna ermöglicht somit auch die Anwendung der Achtsamkeit als einer informellen Praxis im Alltag, die über das bloße reine Beobachten in der meditativen Stille hinausgeht.
Es zeigt sich also bei genauerer Betrachtung, dass sich der deutsche Achtsamkeitsbegriff eigentlich auf zwei unterschiedliche Aspekte bezieht. [41] Zum einen Achtsamkeit als spezifischer Geistesfaktor – sati –, den man mit »reines Beobachten« oder auch mit »Vergegenwärtigung« [42] übersetzen kann. Zum anderen aber auch Achtsamkeit als die »Praxis der Achtsamkeit«, wie sie im Satipatthana Sutta beschrieben wird. In diesem weiteren Sinne schließt die Übung der Achtsamkeit neben der Vergegenwärtigung (sati) noch weitere Geistesfaktoren mit ein. Dies sind unter anderem der Faktor des wachsamen (Selbst-)Beobachtens, das dazu führt, dass wir bemerken, wenn wir während der Übung abschweifen, oder die sogenannte kümmernde Fürsorge, deren Aufgabe es ist, die Übung mit Ernsthaftigkeit und Zuwendung zu stabilisieren. Eine sehr schöne Darstellung, wie eine achtsame Betrachtung aus dem Wechselspiel verschiedener Geistesfaktoren entsteht, findet sich in einer von Alexander Berzin ausgearbeiteten Erklärung von Samdhong Rinpoche. [43]
Diese Textanalysen und begrifflichen Ableitungen lassen schnell den Eindruck entstehen, dass es sich bei sati um einen feststehenden theoretischen Begriff handeln würde; es ist aber eine geistige Gewohnheit unseres westlichen, wissenschaftlich geprägten Denkens, alles gleich in Konzepten fassen zu wollen, die sich beschreiben und definieren lassen. Würden wir diese Herangehensweise auch auf die Achtsamkeit anwenden, so würden wir eine der zentralsten Eigenschaften von sati außer Acht lassen: den Erfahrungsbezug. Damit ist gemeint, dass Achtsamkeit immer eine gelebte Erfahrung beschreibt und nie ein abstraktes Konzept darstellt. Dieser Unterschied ist zentral, und ein einfaches Beispiel soll dies erläutern. Stellen Sie sich vor, Sie hätten in Ihrem Leben noch nie Schokolade gegessen und würden nun in einer spannenden Vorlesung alles Wissenswerte über Schokolade erfahren: die Kakaopflanze, die Kakaobohne, die unterschiedlichen Verfahren der Zubereitung von Schokolade, die unterschiedlichen Geschmacksrichtungen und so weiter. Egal wie ausführlich Ihr neuer Wissensbestand über Schokolade ist, eines wird er nicht enthalten, nämlich wie es genau ist, Schokolade zu schmecken. In dem Moment, in dem Sie am Ende der Vorlesung Ihr erstes Stück Schokolade probieren, machen Sie eine neue Erfahrung von Schokolade. Dieser Erfahrungsbezug, das sinnliche Erleben, ist sprachlich nicht vermittelbar und nicht fassbar.
Achtsamkeit schließt immer diesen Erfahrungsbezug ein. Daher ist es ein Paradox, über Achtsamkeit zu schreiben. Will man sie verstehen, muss man sie praktizieren. So ist es auch zu verstehen, dass die beiden oben erwähnten Suttas des Palikanon...