1. Barock:
Eine Epoche verschwindet
Kriege haben nicht nur materielle, sondern auch geistige Folgen jenseits der eigentlich politischen Fragen. Das Barockzeitalter hatte jeweils Konjunktur nach den beiden Weltkriegen, auch wenn von den Kunsthistorikern der besondere Stil des Barock schon im ausgehenden 19. Jahrhundert wiederentdeckt und nach mehr als einem Jahrhundert der Verkennung, ja Verachtung positiv gewürdigt wurde. Heinrich Wölfflin grenzte nach vielen Vorarbeiten in seinen „Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen“ (1921) den Barock in allgemeinen Kategorien endgültig von der Renaissance ab. Oswald Redlich wandte den Begriff auf das Politische an, indem er in einem gleichzeitig erschienenen Buch Österreich unter Kaiser Leopold I. als „Weltmacht des Barock“ vorstellte. Im selben Jahr stellte Werner Weisbach seine viel diskutierte und lange nachwirkende These auf, der Barock sei die Kunst der Gegenreformation gewesen. Im Umfeld dieser Forschungen, aber ebenso in dem der zeitgenössischen Kunst, nämlich des Expressionismus, dem man wohl nicht zu Unrecht eine Verwandtschaft zum Barock unterstellt, stehen dann die Bemühungen Wilhelm Hausensteins, den „Geist des Barock“ – so der Titel seines erstmals 1920 erschienenen Werkes –, begrifflich zu fassen und eine umfassende Deutung als Epoche zu geben. Das Buch weist sich schon durch seinen sinnen- und rauschhaften, eben geradezu barock/expressionistischen Stil als Zeitdokument aus. Es enthält eine Fülle von Geistesblitzen und anregenden Gedanken und skizziert zwischen den Zeilen ein frühes Forschungsprogramm. Mit diesen Werken avancierte der Barock vom Stil- zum Epochenbegriff, vom bloß kunstgeschichtlichen zum kulturgeschichtlichen Terminus.
Basierend auf diesen vornehmlich von der Kunstgeschichte ausgehenden Darstellungen wurde der Barockbegriff dann auf alle möglichen Ebenen der Kulturgeschichte (Literatur, Musik usw.) ausgeweitet, zeitlich gedehnt (der „Barock“ der Spätantike und Spätgotik) und der Stil vor allem mit einer Fülle von definierenden Begriffen in seiner Eigenheit zu fassen gesucht: Unendlichkeit, Entgrenzung, Verwischung der Realität, Illusionismus, Durchdringung, Naturalismus, Komplexität, Regelverletzung, Asymmetrie, Exzess, Expressivität, Pathos, Heroismus, Sinnlichkeit, Erotismus, Pantheismus, Irrationalität, Polarität, Antithetik, Paradoxie usw. Diese Versuche, den Barock begrifflich zu fassen, sind wohl erstens als geistiger Reflex auf die durch den Krieg eingetretene Verunsicherung und den Zusammenbruch einer scheinbar so wohlgeordneten Welt zu begreifen. Zweitens erschien der Barock attraktiv als eine Zeit der relativen Ruhe zwischen den bewegten Jahrzehnten der Reformation und der Konfessionskriege einerseits, der Aufklärung und Revolution andererseits. Beförderte dies nach dem Krieg die Annäherung an die Epoche? Ahnte man vielleicht sogar, dass der Barock auch als Versuch der Krisenbewältigung interpretiert werden konnte?
Das Wunschbild einer heilen Welt schien jedenfalls für Theodor W. Adorno in seinen kritischen Ausführungen zum „missbrauchten“ Barock ein Grund für die Konjunktur des Barock auch nach dem Zweiten Weltkrieg zu sein. Die Jahre nach 1945 sahen in der Tat noch einmal ein entsprechendes Interesse aufkommen, diesmal mehr auf das Praktische als das Begriffliche gerichtet, neben einer intellektuellen Elite aber nun auch breitere Kreise erfassend. Materiell könnte das Interesse durch die furchtbaren Sachschäden des Krieges gefördert worden sein. In den größeren katholischen Städten, insbesondere den ehemaligen fürstbischöflichen Residenzen, war die sehr stark vom Barock geprägte bauliche Substanz durch die sinnlosen und barbarischen Bombardements noch gegen Ende des Krieges weitgehend zerstört worden. Konnte man die reine Architekturhülle wiederherstellen, so war dies für den reichen plastischen und malerischen Schmuck nur sehr begrenzt möglich – er war verbrannt und zusammengestürzt. Deswegen muten die rekonstruierten Gebäude heute so leer an. Doch gab es in den kleineren Städten und Dörfern auf dem Lande noch genug erhalten gebliebene Denkmäler, die nun neu entdeckt und gewürdigt wurden. Man besuchte sie gerne, wobei bald das Auto als bequemes Reisevehikel eine wichtige Rolle spielte. In diesen Zusammenhang gehört etwa die damals als erste Themenstraße überhaupt geschaffene „Oberschwäbische Barockstraße“, die durch eine ausgesprochene Sakrallandschaft führte. Hier konnte die Sehnsucht nach einer vergleichsweise heil gebliebenen Welt befriedigt werden. In musikalischer Hinsicht war das Jahr 1950, die zweihundertste Wiederkehr des Todes von Johann Sebastian Bach, ein Grund, sich erneut diesem damals unbestritten den ersten Rang einnehmenden Meister zuzuwenden und in seinen Werken Trost für die erlittenen Verwundungen zu suchen. In seinem Kielwasser interessierte man sich auch etwa für Händel und Telemann; darüber hinaus begann die Entdeckung anderer vergessener barocker Komponisten. Wie schon in der Zwischenkriegszeit erschienen verschiedene allgemeine Darstellungen des Barockzeitalters, die sich an ein historisch interessiertes Publikum wandten. Neue und bessere Techniken der grafischen Reproduktion, nun auch farbig, trugen weiter dazu bei, den Barock populär zu machen. Doch auch diese zweite Konjunktur des Barock war nicht von Dauer.
Barock als Epoche: Von der Wissenschaft abgeschrieben
Es gibt Historiker, die Epochenbegriffe grundsätzlich ablehnen; in den romanischen Ländern ist auch eine ziemlich schematische Gliederung der Geschichte nach Jahrhunderten geläufig. Will man trotzdem nicht darauf verzichten, so trifft man für das Zeitalter, in welchem Kunst-, Literatur- und Musikhistoriker den Barock festmachen, am häufigsten auf den Epochenbegriff „Absolutismus“. Er stammt aus der protestantischen, insbesondere borussischen Geschichtsschreibung und lässt sich, abgesehen von der Spätphase des „Aufgeklärten Absolutismus“, auch am besten am Beispiel protestantischer Territorien und am „nichtbarocken“ Frankreich, darstellen. Ob man für das Zeitalter zwischen dem späten 16. und der Mitte des 18. Jahrhunderts „Barock“ oder „Absolutismus“ als übergreifende begriffliche Klammer bevorzugen solle, wurde in Deutschland und Frankreich noch in den Fünfzigerjahren des 20. Jahrhunderts lebhaft debattiert – und letztlich zugunsten des Absolutismus entschieden. Erst einige Jahrzehnte danach wurde auch dieser, im Wesentlichen in der politischen Sphäre beheimatete Begriff grundsätzlich kritisiert. Der Barock aber verschwand schon damals, abgesehen von einer späten (1975) und auf sein Heimatland beschränkten Gesamtdeutung des Spaniers José Antonio Maravall, völlig aus der theoretischen Diskussion und kommt heute auch in historischen Handbüchern und Gesamtdarstellungen gar nicht mehr vor. Allenfalls bleibt ihm ein spärliches und meist wenig aussagekräftig ausgefülltes Plätzchen in einigen Lexika. Dieses Verschwinden hat sicher auch damit zu tun, dass seit den Sechzigerjahren die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zu leitenden Paradigmen aufstiegen. Barock schien dazu wenig passfähig, vor allem nicht für die zwar mit neuen Methoden arbeitenden, aber sonst auf den alten protestantisch-borussischen Geleisen weiterfahrenden Historiker.
Auch andere methodische Neuansätze, etwa die Alltagsgeschichte, Geschlechtergeschichte oder die Historische Anthropologie konnten mit dem Barockbegriff nichts anfangen. Ebenso ließen sich einige neue, zeitweise die wissenschaftliche Diskussion ganz beherrschenden Leitthesen, wie diejenige der Sozialdisziplinierung oder der Konfessionalisierung (Wolfgang Reinhard), nicht mit dem Barock zusammenbringen, sie hatten aber die Wirkung, diesen Begriff in den Abstellraum zu deponieren. Auch der stark vom angelsächsischen, mithin ebenfalls dominant protestantischen Raum bestimmte „cultural turn“ der Neunzigerjahre holte ihn daraus nicht mehr hervor, denn er knüpfte in der Regel nicht an die ältere Kulturgeschichte an, sondern suchte vor allem in der „Volkskultur“ seine Aufgaben. Dem Barock ist es auch nie gelungen, dauerhafte Forschungsinstitutionen anzustoßen, wie dies etwa für die Reformation oder die Aufklärung der Fall war und ist. Die gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufgekommene Kritik am lange kanonisch geltenden Absolutismusbegriff führte nur selten dazu, Barock als möglichen Ersatz wieder in Erwägung zu ziehen. Negativ wirkt sich auch die immer größere Spezialisierung aus. Die frühere Forschung hatte zu Recht den Barock als „Gesamtkunstwerk“ aufgefasst, was heißt, dass der damit befasste Wissenschaftler in vielen Feldern Bescheid wissen oder aber die Zusammenarbeit suchen muss. Der seit ein oder zwei Jahrzehnten überall bemerkbare Trend, die Geschichtswissenschaft wiederum, wie schon im 19. Jahrhundert, auf die politische Geschichte zu zentrieren, tut ein Übriges, um Barock als obsolete Begriffskategorie einzuordnen. Außerhalb der fachhistorischen Publikationen, im allgemeinen Schrifttum, werden bis zum Überdruss alte Klischeevorstellungen vom Barock weitergetragen.
Einigermaßen unangefochten von Barock spricht, mit guten Gründen, nur noch die Musikwissenschaft – darauf wird noch einzugehen sein. Die spezielle Kunstgeschichte, von der die Barockforschung einst ausging, umgeht den Begriff heute nicht ungern, diskutiert ihn kaum mehr generell und beschränkt sich praktisch auf eine Geschichte der Künstlernamen und der Objekte. Nur in Bildbänden, die sich an ein allgemeines Publikum wenden, kommt Barock noch im Titel vor. Auch in der Literaturgeschichte hat es der Barock schwer. Vor allem aber wird, wie bei der Geschichte überhaupt, im gymnasialen Unterricht rigoros ein Schwerpunkt im 20., allenfalls...