II. Wie kam es zum historischen Erfolg des Christentums in der Antike?
Diese Frage ist zuerst von dem evangelischen Theologen Adolf von Harnack untersucht13 und seither aus verschiedenen Perspektiven erörtert worden. Ich möchte ihre Beantwortung durch drei Teilfragen strukturieren, welche gleichzeitig auf unterschiedliche Phasen der Christentumsgeschichte verweisen:
Wie lässt sich die Konstituierung und der Erfolg der Jerusalemer Urgemeinde verstehen? Und in welcher Form kam die Ausbreitung der christlichen Botschaft in Gang? Wir beschäftigen uns hier mit Ereignissen, die in die ersten beiden Jahrzehnte nach der Tötung von Jesus aus Nazareth fallen.
Wie lässt sich die rasche Ausbreitung des Christentums in weiten Teilen des Römerreichs erklären? Wir beschäftigen uns hier – grob gesagt – mit der Zeit zwischen 50 und 200 n. Chr.
Wie lässt sich der politische Erfolg des seinen Intentionen nach so unpolitischen Christentums im Rahmen des Römischen Reichs plausibel machen? Hierbei ist im wesentlichen vom dritten und vierten Jahrhundert die Rede.
Diese Periodisierung stimmt nicht mit gängigen Periodisierungen der Christentumsgeschichte überein, die im übrigen ohnehin recht umstritten sind. Denn die Quellenlage ist höchst unvollständig, allerdings im Vergleich zu anderen Bereichen des antiken und zumal des religiösen Lebens doch recht reichhaltig. Und sie wird mit den gerade in den letzten Jahrzehnten sehr erheblichen Entdeckungen der jüdischen und christlichen Archäologie noch umfangreicher, allerdings nicht immer übersichtlicher.
An erster Stelle der Quellen stehen natürlich die uns im Neuen Testament überlieferten Zeugnisse der frühen Christen. Aber für die Behandlung unseres Themas sind auch die über die exegetischen Befunde hinausführenden Quellen von entscheidender Bedeutung. Denn aus soziologischer Sicht kann die Geschichte des Christentums wie diejenige eines jeden sozialen Makrophänomens nur als Wechselwirkung zwischen seiner endogenen Dynamik und den exogenen Bedingungen seiner Entwicklung verstanden werden.
Die soziologische Perspektive neigt sogar dazu, diesen äußeren Bedingungen Priorität bei der Erklärung einzuräumen; gerade darin liegt ihre spezifische Differenz zum Selbstverständnis der von ihr beobachteten und gedeuteten Makrophänomene, hier also zum kirchlichen Selbstverständnis und zur theologischen Perspektive. Solch eine deterministische Sicht würde allerdings zu einem Soziologismus führen, der ebenso einseitig erscheint wie eine ausschließlich kirchliche Betrachtungsweise. Will man die Entwicklung verstehen, so muss man die Blickrichtung stets erneut wechseln, um die Binnenperspektive der christlichen Traditionen mit den humanwissenschaftlichen Außenperspektiven im Hinblick auf eine die konfessionellen Traditionen übergreifende Christentumsgeschichte zu vermitteln. Die Geschichte des Christentums ist ein konstitutives Moment der europäischen Gesellschaftsgeschichte und sollte als solche verstanden werden.14
Die bisherige Geschichte des Christentums ist ganz überwiegend als Kirchengeschichte geschrieben worden, d. h. die Auswahl der zu berücksichtigenden Fakten und das Arrangement der Erklärungen orientieren sich am theologischen Selbstverständnis der jeweiligen christlichen Tradition, der sich ein Autor konfessionell zurechnet. Das gilt ganz selbstverständlich für die ältere Historiographie, aber es färbt auch auf die sich bereits als quellenkritisch verstehende neuere Kirchengeschichte ab. Die katholische Kirchengeschichtsschreibung ist romzentriert, die Geschichtsschreibung der übrigen Konfessionen lenkt ihre Aufmerksamkeit dagegen auf Befunde, welche dem römischen Selbstverständnis entgegenstehen. Die Lückenhaftigkeit der Befunde mit Bezug auf die jeweils interessierenden Fragen führt zudem zwangsläufig zu Interpolationen und Spekulationen des jeweiligen Autors, die natürlich von seinem Erkenntnisinteresse und seinem Vorverständnis geleitet werden.
Dem gegenüber wird hier das im vorangehenden angedeutete multiperspektivische Verfahren durchzuhalten gesucht, das ja auch den Signaturen unserer Gegenwartskultur entspricht. Angesichts der Breite des Themas und der für einen Fachfremden unüberschaubaren Vielfalt der Quellen, der Befunde und ihrer Deutungen bleibt jedoch die materiale Darstellung der Entwicklungen unvermeidlich allzu knapp, damit auch gelegentlich einseitig und in vielfacher Hinsicht verbesserungsfähig.15
1. Zur Entstehung der Urgemeinde
Wo kamen Jesus und seine Jünger her? Aus Galiläa, dem von Jerusalem mehrere Tagereisen entfernten, abgelegensten Teil des jüdischen Gebirgslandes. Seine Anhängerschaft dort dürfte sich im wesentlichen aus den untersten sozialen Schichten rekrutiert haben, und das gilt insbesondere für den engsten Jüngerkreis: Die Fischer unter ihnen, also vor allem Petrus, waren möglicherweise Analphabeten. Falls auch der lukanischen Kindheitsgeschichte ein historischer Kern eigen sein sollte, so ließe sich schließen, dass Joseph in der Umgebung von Bethlehem Boden besaß und deshalb zum Steuerzensus dort persönlich zu erscheinen hatte. Dass er auch seine hochschwangere Frau Maria auf die beschwerliche Reise mitnahm, deutet darauf hin, dass auch sie Landeigentümerin gewesen ist und dort zu erscheinen hatte.16 Möglicherweise befand sich die Geburtsstätte Jesu auf dem Grund und Boden seiner Eltern, was auch die spontane Zuwendung der Hirten zu dem Neugeborenen erklären würde.
Die Jugend Jesu fiel in eine überaus unruhige Zeit, in der sich das religiöse Judentum gegen hellenistische Überfremdungstendenzen zu behaupten hatte und in mehrere Parteien zerfiel, unter denen die auf Wahrung der Tradition bedachten Pharisäer und die den Hellenisierungstendenzen wie auch der römischen Besatzungsmacht gegenüber liberaleren Sadduzäer die wichtigsten waren. Aber das einfache Volk, unter dem Jesus im wesentlichen seine Anhänger fand, galt beiden Parteien als minderwertig, und die Galiläer waren dem orthodoxen Judentum in Judäa ohnehin suspekt. Als Jesus mit seinen Anhängern – nach Johannes zum dritten Mal, bei den Synoptikern überhaupt nur einmal – nach Jerusalem kam, richtete er im Tempelvorhof einen Krawall an, weil er versuchte, die dort etablierten Händler zu vertreiben. Er forderte zudem die herrschende Orthodoxie durch seine Lehre sowie durch die Handlungen seiner Jünger heraus und gewann zweifellos Anhänger auch in den höheren Schichten der Bevölkerung. Schließlich beschloss das Synedrion, die geistliche Behörde des Judentums, ihn zu beseitigen. Nach seiner Gefangennahme klagten sie ihn bei dem sonst in Cäsarea residierenden, jedoch gerade in Jerusalem anwesenden römischen Prokurator Pontius Pilatus an, der Jesus schließlich zum Tode durch Kreuzigung verurteilte.
Nach allgemeiner menschlicher Erfahrung wäre die Angelegenheit damit erledigt gewesen. Als selbsternannter Prophet, ja selbst als Messias stand Jesus, soviel zeigen selbst die spärlichen Quellen, damals keineswegs allein und seine „Sache“ hätte, wie in vergleichbaren Fällen, mit seiner Tötung zu Ende sein können. Die Auflösung und Zerstreuung der Anhängerschaft, die – unter Gesichtspunkten sozialer Gesetzmäßigkeit betrachtet – kaum eine dauerhafte Selbstbehauptung als Gruppe erwarten ließ, wäre nichts Unnormales gewesen. Und wenn schon ein Kreis besonders treuer Jünger nach dem Tode Jesu zusammenblieb, so bleibt es doch weitgehend unerklärlich, weshalb diese eine religiös-soziale Bewegung ins Leben rufen konnten, die sich dauerhaft behauptete und sogar sich in kürzester Zeit in der römischen Provinz Syrien ausbreitete. Wie lässt sich dieses Phänomen – ohne Rekurs auf göttliches Einwirken – verständlich machen?
Der Soziologe Michael Ebertz hat einen solchen Versuch unter Heranziehung der Charisma-Theorie von Max Weber unternommen.17 Ich kann seine weitausholende Argumentation hier nur knapp resümieren: Die sozialen Voraussetzungen habe ich bereits erwähnt. Ebertz führt den Erfolg der Jesus-Bewegung, deren „Jüngerkreis sich ausschließlich aus Angehörigen der marginalisierten jüdischen Bevölkerung Galiläas zusammensetzte, und dieser ja auch von außen eindeutig zugeordnet wurde,“ darauf zurück, dass sie sich der drohenden „sozio-kulturellen Überfremdung durch die ‚Heiden‘ hier und einer sozio-religiösen Diskriminierung durch das jüdische Zentrum dort“ entgegenstemmte und versuchte, die drohende Entwicklung eines Identitätsverlustes „aufzuhalten, zu unterlaufen und ‚umzukehren‘“.18
Die Erfahrung des Kreuzestodes ihres Anführers, der schändlichsten Todesart im Altertum, wurde von ihr im Sinne einer sogenannten ‚Selbststigmatisierung‘ verarbeitet,19 d. h. in der Übernahme des Stigmas des Gekreuzigten und seiner Umdeutung zum Siegeszeichen des von den Toten Auferstandenen. Es handelte sich hierbei also um eine Art ‚Umkehrung der Welt‘, wie sie bei charismatischen Bewegungen des öfteren beobachtet worden ist. Diesen Prozess der Selbststigmatisierung habe Jesus durch seine Lehre bereits eingeleitet, insofern er seinen Jüngern ein Bewusstsein der Würde und der Erwähltheit gab, ihnen also die Chance einer neuen sozialen Identität vermittelte, mittels derer sie sich gegen die entfremdenden Bedingungen des Hellenismus wie der Orthodoxie behaupten konnten.
Zieht man zur Prüfung dieser These die Berichte der Apostelgeschichte über das erste Auftreten der Jünger nach einer mehrwöchigen Zeit der Abgeschlossenheit unter sich und nach dem sogenannten Pfingstereignis heran, so ergeben sich keine...