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E-Book

Geliebter Ephraim

AutorLisa Kishon-Witasek
VerlagLangenMüller
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783784481012
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Humor und Liebe vereinen in dieser Geschichte zwei Menschen aus verschiedenen Kulturen, mit großem Altersunterschied und doch der gleichen Sehnsucht. Lisa Kishon-Witasek, Ephraim Kishons letzte Ehefrau, zeichnet in ihren Erinnerungen das Bild eines besonderen Menschen, der durch seine Herkunft und durch den Holocaust stark geprägt war und sich trotz seines Welterfolgs heiter-skurrile Eigenschaften bewahrt hatte. Diese schwungvoll und mitreißend geschriebene Geschichte ermutigt, das Leben, solange es dauert, zu umarmen. Unkonventionell, liebevoll und tröstlich.

Lisa Kishon-Witasek, 1956 in Salzburg geboren, studierte Musik, Germanistik, Philosophie und Sprachwissenschaft in Salzburg, München und Wien, Promotion. Von 1981 bis 2003 arbeitete sie im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit an den Musikhochschulen in Salzburg und Wien, seit 2003 lebt sie als freie Schriftstellerin in der Schweiz und Wien. Mehrere Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Sie war die große Liebe von Ephraim Kishon und seine letzte Ehefrau.

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Leseprobe

Gut gegangen


Das Geniale am Tod ist, dass er niemanden vergisst.« Der Zauber lag in der Art, mit der er diese Ungeheuerlichkeit sagte, ziemlich leise, ganz nebenbei, mit der weiten Schwingung der Wahrheit und dem Charme seines ungarischen Akzents, lächelnd und wissend und ganz ohne Angst. Ich schrieb es in mein grünes Notizbuch und hätte nicht gedacht, dass diese Wahrheit so nahe ist.

Am letzten Tag war die verglaste Veranda, unser Lieblingsplatz im Appenzeller Haus, halb ausgeräumt, weil in unserer Abwesenheit Schmelzwasser von der Dachterrasse eingedrungen war, aber das Provisorium störte uns nicht. Wir schauten hinaus in die blaue Stunde des Winters, auf die unverrückbaren Berge, hinter denen andere unverrückbare Berge stehen. Wir waren glücklich, zu Hause zu sein, mit dem guten Gefühl, alles sei bestens.

Ephraims israelische Sekretärin war in diesen Tagen bei uns. Wenn sie mit mir über ihn redete, nannte sie ihn Ubi, so wie ich. Zu ihm aber sagte sie immer Ephraim. Ich habe es noch im Ohr, wie sie »Ephraim!« rief, »Ephraim!«, um ihn zurück ins Leben zu rufen. Manchmal denke ich, hätte sie »Ubi!« gerufen, »Ubi!«, vielleicht wäre es anders ausgegangen. Ich weiß, dies ist nur einer von den hilflosen, verzweifelten Gedanken, die die Irrationalität in ein Wörtchen packen, weil wir glauben wollen, wir hätten das Leben in der Hand. Trotzdem frage ich mich, warum ich in diesen Sekunden stumm war, warum nicht ich gerufen habe?

Ich hielt ihn in meinen Armen, über seinen Kopf gebeugt. Es war ein Augenblick unsäglicher Stille. Alles stand still. Ganz still.

»Ephraim!« Der Schrei schreckte mich auf. Ein einziges, alles umfassendes Nein brach in mir aus und ich rannte zum Telefon, die Rettung zu rufen, rannte, die Türen zu öffnen, rannte wieder zu ihm und legte ihn zurecht, so wie ich es gelernt hatte für den Notfall. Ich fing sofort an, ihn zu beatmen und sein Herz zu massieren. Einmal begonnen, darf man nicht unterbrechen, das, nur das hämmerte in meinem Kopf. Nicht unterbrechen. Und fest. Auch wenn die Rettung schnell kommt, es dauert ewig. Ich fragte mich nicht, was geschehen war, geschehen könnte, und auf keinen Fall habe ich auch nur einen Augenblick daran gedacht, dass wir uns bereits in diesem unfassbaren »Für immer« befanden. Es wird alles gut gehen, dachte ich, es wird alles gut gehen. Er hatte es soeben selbst zu mir gesagt. »Es ist gut gegangen, Popshika.«

»Ich hab mich hingelegt. Es ist gut gegangen, Popshika.«

Dann die unsägliche Stille. Es war, als wäre etwas aufgestiegen.

Ich aber, am Leben, klammerte mich an sein Leben. Wenn es gut gegangen ist, dann geht es ihm gut. Dann wird alles gut. Alles wird gut.

Die Männer von der Rettung sagten mir, ich solle hinausgehen. Ich wusste, was sie jetzt mit ihm taten. Sie versuchten es mehrmals, dann nicht mehr.

Hoffentlich hat er nichts davon mitbekommen, nichts davon gespürt. Man versicherte mir, dass er es nicht gespürt hat, nichts mehr gespürt haben konnte. Nichts mehr. Hat er überhaupt etwas gespürt? Hat er bemerkt, dass er fortgeht? »Es ist gut gegangen, Popshika.« Seine Stimme war leise, aber ganz klar. Auf Deutsch hat er es gesagt. Er hat es mir gesagt. Er wusste, ich bin da.

Ich hatte geglaubt, er verliert nur das Bewusstsein, nicht das Leben. Aber im Nachhinein betrachtet, da kein Leben mehr in ihn zurückgekommen ist, muss dieser Augenblick der Stille und des Friedens der Augenblick gewesen sein. Es war ein heiliger Friede, der in dieser letzten – oder vielleicht ersten – Sekunde lag, ein Friede, den das Leben nicht kennt, eine vollkommene Erlöstheit.

Nichts hatte es angekündigt. Nichts, was wir wahrgenommen oder in diese Richtung gedeutet hätten. Er war voller Pläne und Arbeitsdrang, telefonierte, gab ein Interview, schrieb Listen, was alles zu erledigen sei, und vor allem, wie seit eh und je, beklagte er seinen Untergang, das sicherste Zeichen dafür, dass es ihm gut ging.

Seit ich ihn kannte, beklagte er seinen Untergang, und von anderen, die ihn länger kannten als ich, weiß ich, dass er von Anfang an, schon bevor er die großen Erfolge gehabt hatte, seinen Untergang fürchtete. Prophylaktisch, hatte er mir erklärt, und dass dieser Untergang keinem, der nicht rechtzeitig stirbt, erspart bleiben würde. Rechtzeitig, das heißt in jungen Jahren, so wie Elvis Presley, Marilyn Monroe, Romy Schneider, Humphrey Bogart, James Dean … »Das hab ich schon verpasst«, meinte er und bezeichnete sich als lebende Legende. Ich lachte. Auch er lachte, aber nicht nur.

Ich sagte: »Du kannst nicht mehr untergehen«, und er: »Ich weiß, die Leiche ist schon zu groß.« Mitten im Leben, nimmermüde, voller Zukunft. Er wollte jetzt an der hebräischen und ungarischen Version seines letzten Romans arbeiten, den Mann treffen, der die Biografie über ihn plante, und noch ein Buch schreiben, wie schon so oft ein letztes. »Ich bin wie ein Raucher, habe große Erfahrung im Aufhören.« Angeblich hatte er bereits in den 80er-Jahren davon geredet, mit dem Schreiben aufzuhören, und seit ich ihn kannte sowieso. Aber er hat nicht aufgehört. Es war sein Leben.

Zeit ist vergangen, und man sagt, die Zeit heilt. Aber es sind ja nur wir selbst, die in Stunden, Tagen, in Jahren denken und damit versuchen, uns die Endlichkeit unseres Daseins begreiflicher zu machen. Wäre unser Dasein nicht endlich, bräuchten wir gar keine Zeit. Wäre unser Dasein unbegrenzt, würde ich jetzt nicht denken, dass es nun schon Jahre her ist, dass Ephraim das letzte Mal in der verglasten Veranda am Esstisch saß und ein Stückchen Huhn verspeiste, wie immer im schräg zum Tisch gerückten Sessel, mit weitem Weg vom Teller zum Mund. Ich weiß genau, wie viele Jahre, Tage, Stunden seither vergangen sind, weiß aber nicht genau, wie sie vergingen. Wirklich ohne ihn? Ich höre ihn, als wäre er da.

»Du bist mein größter Erfolg, schöne und außerordentlich gute Popshika.«

Zwei Stunden später …

… ist die Welt untergegangen.

Ich hatte geglaubt, durch die vielen Bücher, die ich über den Tod gelesen habe, durch mein Studium der vielen verschiedenen Einstellungen der Menschen zum Tod, sei ich per du mit dem Tod und er könne mich nicht erschrecken. Aber er erschreckte mich in einem Ausmaß, dass ich keine Worte dafür habe. Ein Satz von Philippe Ariès blieb in mir hängen. »Ein einziger Mensch fehlt dir, und die ganze Welt ist leer.« Ein einziger Mensch fehlt mir, und die ganze Welt ist leer.

Leer? Im Grunde ist es ganz einfach. Der Tod ist ein Teil des Lebens. Oder umgekehrt, das Leben ist ein Teil des Todes. Aber mein Herz scheint diese Logik nicht zu kennen.

Ich habe ihm gesagt: »Ich liebe dich so sehr, dass du auch sterben darfst.« Weil er sich frei fühlen sollte, ohne Druck, leben zu müssen. Was weiß ich denn, dachte ich immer, wie man sich zweiunddreißig Jahre älter als ich fühlt. Auch wenn wir immer glaubten, er werde neunzig oder hundert, er sollte nicht denken, er muss. Weil ich es mir schrecklich vorstelle, leben zu müssen und vielleicht zu müde zu sein oder nicht mehr zu wollen, keine Kraft mehr zu haben und vielleicht wirklich unterzugehen – alles nur, weil ein jüngerer Mensch erwartet oder verlangt, dass man dableibt. Nein, das wollte ich ihm nicht zumuten. Aber ich war nur darum so großzügig, weil er lebte und weil ich mir nicht vorstellte, es würde, solange ich lebe, jemals anders sein. Zusammen konnte uns nichts geschehen.

Ihn in eine dritte Person zu verwandeln, um von ihm zu erzählen, ist nach wie vor ein befremdlicher Vorgang. Eigentlich kann ich nur ihm von ihm erzählen. Aber wie soll ich ihm sagen, dass er gestorben ist? Ich habe Angst, dass er es glauben könnte und dass er dann nochmals stirbt. Inzwischen nämlich habe ich mich einigermaßen eingerichtet, lebe mit ihm sozusagen in gewandelter Form. In der ersten Zeit sind mir die Stimmen aller anderen fremd geworden, schlimmer noch, sie waren unerträglich. Ich lauschte nur der einen, seinen. Ich hob das Telefon nicht mehr ab, um niemanden und nichts zu hören. Gleichzeitig durchzuckte mich mit jedem Klingeln die Hoffnung, er würde anrufen. Einmal noch. Und weil er es nicht sein konnte, wozu abheben? Niemand erreichte mich, mit keinem noch so gut gemeinten Angebot. Niemand brauchte mich, so wie er mich gebraucht hat, niemand redete mit mir, so wie er mit mir geredet hat.

Panik ergriff mich, dass die Stimmen anderer seine überlagern oder verdrängen könnten. Und es beruhigte mich auch nicht, mit anderen über ihn zu sprechen. Ich wollte mit ihm sprechen, und wenn er schon nicht mehr da war, so wollte ich wenigstens, dass er aus mir spreche, dass ich er werde, um ihn am Leben zu halten – für mich. Hatte ich überhaupt ein eigenes Leben, ein von ihm unabhängiges Leben? Wollte ich das? Mein Leben mit ihm war das schönste, beglückendste, das, wonach ich mich immer gesehnt hatte. Unabhängigkeit ist gut und wichtig, aber verglichen mit dem Erlebnis der Liebe eine Art Notprogramm.

Bevor ich ihn kannte, war ich sehr emanzipiert und war mir selbst die Wichtigste. Doch nach meinem Leben mit Ephraim konnte ich nicht wieder zurück in mein Früher steigen. Er ist mit mir, und der Wunsch, es möge ihm gut gehen, ist wie mein Herzschlag. Eigentlich kam es genau so, wie er es mir vorausgesagt hatte. Je länger er nicht mehr so da war wie früher, desto mehr verwandelte sich die Konfusion in Dankbarkeit. Nicht dass der Wunsch verging, es möge wieder so sein wie früher, aber das Leben handelt nun wieder mehr von mir. Ohne dass ich nur mit mir selbst sein muss. Ich bin und werde immer mit ihm sein.

Er wusste, dass ich diese Bücher über den Tod las. Er bezog es nicht...

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