|17|1 Normales und gestörtes Angsterleben
Zu den grundlegenden Gefühlen des Menschen gehören angenehme, weniger angenehme und sehr unangenehme Gefühle wie Freude, Überraschung, Neugierde, Traurigkeit, Ekel, Verachtung, Wut oder Angst. Ängste hat jeder bisweilen, etwa die Angst, nicht mehr geliebt zu werden, den Arbeitsplatz zu verlieren, zu verarmen oder krank zu werden.
Angst ist facettenreich und hat ganz unterschiedliche Funktionen: Milde Angst löst Kitzel aus und steigert Spannung, Lust und Vergnügen. Eine leicht bis mittelmäßig ausgeprägte Angst intensiviert das Risikoverhalten und die Anstrengung vieler Menschen. Das steigert ihre Leistung, egal, ob es sich um berufliche Aufgaben oder um ausgesprochen waghalsige Manöver handelt wie Bühnenauftritte vor kritischem Publikum oder Geschwindigkeitsklettern an einer Steilwand in schwindelerregender Höhe. Wird die Angst jedoch zu stark, z. B. in einer Prüfungssituation, dann schneidet der Prüfungskandidat schlechter ab. Selten kommt es zum Extremfall Denkblockade.
Starke Angst löst Schutz- und Sicherheitsverhalten aus. Davon gibt es viele Varianten: Sie reichen von vorsichtiger Annäherung bis zu kämpferischem Draufhauen oder von Wegschauen bis zu fluchtartigem Davonlaufen.
Angst ist ein unverzichtbares, menschliches Grundbedürfnis. Als Alarmsystem wirkt es wie eine Schutzvorkehrung. Im Moment der Gefahr wird der Körper durch Stresshormonausschüttung auf Hochleistung getrimmt: Bei Angst ist der Mensch zu kurz entschlossenem, raschem und oft auch kraftvollem Handeln fähig, ohne dass er lange überlegen muss. Er kann sich dann genau so verhalten, wie die gefährliche Situation es erfordert (vgl. S. 97). Die weichen Knie kommen erst, wenn er wieder außer Gefahr ist.
Angst ist eine Reaktion auf subjektiv erlebte Bedrohung in brenzligen Situationen. Der eine reagiert bereits in weniger gefährlichen Situati|18|onen panisch, der andere erst in äußerst gefährlichen. Gleichzeitig ist Angst eine Belastungs- oder Stressreaktion (vgl. S. 29). Ausgeprägtes Angsterleben wird oft als große emotionale Belastung erlebt.
Beachte:
Jeder kennt Angst, nicht jeder mag es zugeben. Angstgefühle sind lebenswichtig und normal, sofern sie nicht überborden und ausufern.
1.1 Die Entwicklung von normalem Angsterleben
Kinder durchlaufen Phasen, in denen sie ganz bestimmte Ängste erleben. Manche reagieren besonders ängstlich, während andere sich kaum vor etwas fürchten. In unserem Kulturraum ist folgende Entwicklung von spezifischen Angstinhalten im Kindesalter die Regel und gilt als „normal“:
Bis zum Alter von etwa sechs Monaten fürchten sich Babys einmal vor dem Verlust von Zuwendung und zum anderen vor heftigen Reizen wie lauten Geräuschen oder grellem Licht.
Im Alter von sieben bis acht Monaten haben Babys Angst vor der Trennung von geliebten Personen und fürchten sich mehr oder weniger vor fremden Menschen („Fremdelphase“).
Mit eineinhalb bis vier Jahren haben viele Kinder Angst vor dem Alleinsein, der Dunkelheit, vor Hunden (und anderen Tieren), Donner und Blitz, fantastischen Wesen oder Einbrechern. Viele reagieren ängstlich beim Eintritt in den Kindergarten.
Zwischen vier bis sechs Jahren sind es vor allem gruselige Fantasiegestalten, Naturgewalten und Verletzungen (Angst vor Blut und medizinischen Eingriffen), die Kindern Angst einflößen. Einige haben Angst bei Schulbeginn.
Kinder mit sieben bis 12 Jahren fürchten sich mehr vor sozialen Situationen, schlechter Leistung in Schule und Sport und vor medizinischen Behandlungen, Sterben und Tod.
Mit 12 bis 18 Jahren ängstigen sich viele Kinder und Jugendliche – insbesondere in Gegenwart von Gleichaltrigen – vor schulischem |19|oder beruflichem Versagen, sozialer Abwertung und Ablehnung, körperlichen Veränderungen und Sexualität.
Beachte:
Diese Befürchtungen und Ängste gehören zu einer normalen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter. Bis zum 8. Lebensjahr legt sich die Mehrzahl der kindlichen Ängste von ganz allein.
Kinder unterscheiden sich von Geburt an hinsichtlich der Intensität von gehemmtem und angstsensiblem Verhalten (vgl. S. 42). Während das eine Baby kaum Angst hat, zeigt ein anderes vom ersten Tag an ein auffallend ängstlich-scheues Temperament.
Normale Angst warnt uns vor Gefahr. Sie lässt uns blitzschnell entscheiden, ob wir uns der Bedrohung stellen oder sicherheitshalber flüchten. Angst tritt nicht nur dann auf, wenn wir uns einer bedrohlichen Situation aussetzen, z. B. uns nachts in einem gefährlichen Stadtteil aufhalten. Wir reagieren auch ängstlich bei der bloßen Vorstellung von Bedrohung und Gefahr, wenn wir uns etwa Sorgen um ein Kind machen, das zum ersten Mal ohne Eltern auf Reisen ist.
1.2 Was bedeutet eigentlich „normal“?
Der Begriff „Normalität“ ist in seiner „statistischen“ Bedeutung wahrscheinlich noch am unverfänglichsten: Je mehr Leute in einer gefährlichen Situation oder vor einem gefürchteten Ereignis Angst haben, desto normaler erscheint es, unter diesen oder vergleichbaren Umständen Angst zu haben. Zahlreiche Menschen fürchten sich davor, aus 10.000 Metern mit dem Fallschirm in die Tiefe zu springen. Weil diese Angst weit verbreitet ist, gilt sie als normal. Im Vergleich dazu haben nur wenige Menschen Angst vor dem Fahrstuhlfahren. Infolgedessen und weil Fahrstühle nicht gefährlich sind, wird die Angst davor oft als übertrieben eingeschätzt, vor allem in Manhattan.
|20|„Normale“ Angst?
Ob ein Angsterleben als „normal“ gilt, hängt davon ab,
wie oft die Angst auftritt, wie stark sie ist, wie lange die Angstsymptome anhalten (Unruhe, Herzklopfen, Atemnot, Muskelverspannungen) und wie sehr die Angst als quälend erlebt wird,
wie sehr sich die Person bei Angst hilflos ausgeliefert fühlt, im Handeln beeinträchtigt ist, vor lauter Erwartungsangst nicht mehr verreisen oder Sport treiben kann und noch vieles mehr vermeidet.
Angstgefühle werden ganz unterschiedlich bewertet. Einige ängstliche Personen können zu ihren Ängsten stehen, andere, vor allem Männer, glauben, man dürfe Angst um keinen Preis zeigen, weil das ein Zeichen von Schwäche sei.
1.3 Übertriebenes, gestörtes Angsterleben
Jeder von uns macht sich gelegentlich Sorgen und regt sich dabei auf. Ein Leben ohne Sorgen, Probleme und schwierige Ereignisse ist unvorstellbar. Extrem ängstliche Personen machen sich aber besonders viele intensive Sorgen über Bedrohung, mögliche Gefährdung und Versagen. Dabei geraten sie in Erregung, werden angespannt und können nicht mehr abschalten, durchschlafen oder einer ruhigen Beschäftigung nachgehen. Derart ausgeweitete Sorgen und Ängste sind nicht mehr normal.
Die Übergänge von normaler zu gestörter Angst sind fließend: Normale Angst kann sich zu generalisierter Angst oder zu einer anderen Angststörung steigern.
Beachte:
Unvorhersehbare Ereignisse, die nach subjektiver Einschätzung der Person schwer oder gar nicht zu bewältigen sind, rufen besonders viel Angst hervor, die in der Regel auch länger anhält.
|21|Nach Absprache internationaler Psychiater im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO werden acht verschiedene Angststörungen des Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalters unterschieden:
Generalisierte Angststörung,
Panikattacken und Panikstörung,
Agoraphobie,
Spezifische Phobie,
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