1. Sind das etwa meine Hände?
Menetekel des Älterwerdens
»Das wird nun auch nicht mehr besser.« Über körperlichen Verfall und die plötzliche Wichtigkeit von Routineuntersuchungen – Selbstkontrolle statt Chaos: Weniger ist mehr, und Disziplin ist alles – Gute Fette, schlechte Fette: Smalltalk ab vierzig – »Ich glaube, in die Disco können wir jetzt nicht mehr gehen …«: Die schmerzhafte Erkenntnis, zu den alten Säcken zu gehören – Zurück zur Natur, dem Ort der Vergangenheit – Plötzliche Lärmempfindlichkeit: Die ehemaligen Krawallbrüder beschweren sich – Wenn man selbst vielleicht der Nächste ist: Der Tod rückt näher – Sportlicher Ehrgeiz: Über den Willen, doch noch mitzuhalten – Weh dem, der den Rubikon zur Würdelosigkeit überschreitet!
Wann genau ich zum ersten Mal auf meinen Körper schaute und halblaut murmelte: »Das wird nun auch nicht mehr besser«, ist im Nachhinein nicht festzustellen. Es muss irgendwann in den Neunzigern gewesen sein. Gewiss, schon mit Anfang dreißig hatte eine Freundin im Freibad bemerkt, dass sich die einst sehr schlanke Figur durchaus mainstreammäßig weiterentwickelt hatte, und natürlich hatte es in der gesamten Zeit der Adoleszenz immer wieder Anlass zu scharfer Selbstkritik am äußeren Erscheinungsbild gegeben. Wer mag sich schon, wenn er einundzwanzig ist?
Doch stets war da die berechtigte Hoffnung auf Besserung: Pickel verschwanden, das Gesicht formte sich, die Bewegungen wurden souveräner und kompakter. Der Körper nahm Gestalt an. Es ging, Krise um Krise, aufwärts, und irgendwann war man mit dem eigenen Spiegelbild halbwegs ausgesöhnt.
Jahrzehnte später, inmitten der neunziger Jahre mit ihrem Jugend- und Schönheitswahn, ging es um etwas ganz anderes. Nun war kein Raum mehr für das Prinzip Hoffnung, erst recht nicht für den Gedanken, mit der Zeit würde das schon besser, etwa so, wie eine Wunde heilt oder ein Ekzem verschwindet. Nein, es würde nur noch schlechter werden.
Die Sanduhr läuft. Der Verfall hat längst begonnen. Und er wird immer sichtbarer. Unaufhaltsam.
Plötzlich spielt das Alter, lange Zeit nur eine abstrakte oder symbolische Zahl, wirklich eine Rolle. Ganz praktisch. Die physische Attraktivität, soweit vorhanden, war immer auch ein Schutz vor Zumutungen aller Art. Sie lieferte eine gewisse Grundsicherheit auch in turbulenten Augenblicken, natürliche Spannkraft gegen akute Spannungszustände. Ein Hüftschwung, der immun machte gegen die ganze Welt, ein Sprung übers Geländer, der Dynamik bezeugte. Ein Panzer gegen die Bedrängnisse des Alltags.
Nun wird der Panzer allmählich porös. Der kritischen Selbstbeobachtung entgeht nichts – von den Augenringen über Hüftfalten bis zu den Händen, bei denen man zuschauen kann, wie die Jahre vergehen.
Die entscheidende Zäsur aber: Die Perspektive hat gewechselt. Plötzlich, so scheint es, hat die Biologie die Macht übernommen, besser: biochemische Prozesse, die mit noch so viel Olivenöl, Magerquark und eingelegtem Ingwer nicht aufzuhalten sind – auch nicht mit Power-Walking, Ferien auf dem Bauernhof, Anti-Aging-Therapie mit Testosteronsalbe oder Entschlackungskuren in Südportugal (dort, wo man vor 27 Jahren auf der revolutionären Kooperative bei der Olivenernte geholfen hatte).
Der Weg ist vorgezeichnet: von der Revolte ins Hormonloch. Männer, die früher mit ihrer Lederjacke geradezu verwachsen schienen und einen ziemlich coolen Gang hatten, klagen über Rückenprobleme und unmotivierte Schweißausbrüche, wiederkehrende Anfälle grundloser Müdigkeit, anhaltende Schlaflosigkeit und depressive Attacken.
Die unbegrenzte Verfügbarkeit der (körper-)eigenen Ressourcen ist nachhaltig angekratzt, Abwehrkräfte schwinden, und auch die geistige Präsenz leidet hier und da.
Der Sieg der Naturwissenschaften scheint überwältigend, die banale Empirie triumphiert über jede theoretische Spekulation. Von Kultur keine Spur mehr. Und: Diskutiert wird nicht, erst recht nicht abgestimmt.
Es ist diese stumme, zutiefst undemokratische Absolutheit, die so empörend ist für jene Generation Z, die doch gelernt hatte, über alles zu reden, um alles verändern zu können.
Hier wirkt eine Macht, die unhinterfragbar ist, die nicht einmal eine ladungsfähige Adresse hat. Kommunikation, Dialog, Diskurs, Verständigung, wenn es sein muss, ein runder Tisch, an dem alles zur Sprache kommt – nichts dergleichen.
Stattdessen häufen sich fast unmerklich die Arztbesuche, die Check-ups und die vergleichenden Beobachtungen im Wartezimmer wie beim Stehempfang, ein Reigen ganz eigener Art: Kontrolle statt Chaos.
Die Anarchie der unkontrollierten Nahrungsaufnahme und der exzessiven Kraftverschwendung bis tief in die Nacht weicht dem Regime der Selbstkontrolle. Jetzt erst begreife ich die Losung der Väter und Vorväter, die immer so schrecklich spießig klang: Das Wichtigste sei die Gesundheit.
Was sollte das schon sein – ein Leben in Gesundheit?
Doch schon als ich 35 war, hatte die Allgemeinärztin in Frankfurt-Sachsenhausen mich im Kreise jener jungen Alten begrüßt, um die sich ab sofort die Vorsorgepolitik der AOK kümmern werde. Zehn Jahre später ist die Vorsorgepolitik längst internalisiert und habituell geworden. Vorhandene hypochondrische Neigungen verstärken sich dabei, doch auch normal schmerzempfindliche Altersgenossen führen neben den bisherigen Termineintragungen – Donnerstag, 20 Uhr Simonetta im Pan Asia – eine zweite Liste, in der regelmäßig Urologen, Augenärzte, Internisten, HNO-Fachärzte, Physiotherapeuten und Chiropraktiker auftauchen. Immer häufiger werden Telefonnummern ausgetauscht, hinter denen sich kein süßes Geheimnis verbirgt, sondern die klinisch weiße Praxis eines Orthopäden, der angeblich noch jedes lahme Knie zum Laufen gebracht hat, und in manch gemütlichem Bargespräch geht es um die zurückliegende Parodontose-Behandlung, die Handhabung des Massagebürzels und erschreckend niedrigen Zahnersatzleistungen der Krankenkasse.
Längst schon sind die ausgefalteten Beipackzettel der eingenommenen Medikamente deutlich länger als die antiimperialistischen Nicaragua-Flugblätter von einst, und die Liste der aufgeführten Nebenwirkungen schlägt quantitativ jeden politischen Forderungskatalog von 1977. Als ich jüngst zum ersten Mal für endlos lange zwanzig Minuten in die bedrohlich enge Röhre eines Kernspintomographen geschoben wurde – spätere Diagnose des Neurochirurgen: typischer Verschleiß an der Halswirbelsäule –, half nur noch der rettende Gedanke an Woody Allen: Der hatte die Prozedur, die einem Probeliegen im Eichenholzsarg schon sehr nahe kommt, in »Hannah und ihre Schwestern« ja auch glücklich überstanden. Leben im Lazarett.
Unvergessen jener Routinetermin beim Urologen zu Beginn des Berliner Frühlings, also irgendwann Ende April. Auf dem Weg zur jährlichen Untersuchung, die stets mit einer gewissen Anspannung erwartet wird, passierte ich eine Ansammlung bildschöner junger Frauen – offenkundig Models, die auf dem Bürgersteig auf ihren Einsatz warteten. Ein Memento der besonderen Art: Ohne Gesundheit ist alles nichts. So hängt noch die Prostata-Vorsorge mit der Aussicht zusammen, auch weiterhin des Wunders weiblicher Schönheit teilhaftig zu werden.
Weh dem, für den es dafür schon zu spät ist!
Dass das Leben Spuren hinterlasse, hat man früher schon gehört und stets zu den schlimmsten Allgemeinplätzen gerechnet. Jetzt aber sieht man sie und ist schwer betroffen. Dabei ist Falte nicht gleich Falte. Ungezählt sind die Orte zwischen Stirn und Kinn, in denen sich die Jahresringe ablagern und eingraben – Menetekel des Älterwerdens.
Auch hier erzeugen Schicksal, Arbeitsbiographie und Genetik jede Menge Ungerechtigkeit. Hängen bei dem einen die Backen schon recht bedrohlich, strafft sich beim andern noch ganz stattlich das Gewebe unter der freilich etwas großporigeren Haut. Strahlt der eine noch mit fünfzig eine gewisse Jugendlichkeit aus, so sieht der andere schon mit Ende dreißig aus, als warte er nur noch auf die Riester-Rente.
Jenseits des Jürgen-Drews-Schemas (Modell Sonnenbank) oder des Iris-Berben-Phänomens (will einfach nicht altern) blicke auch ich zuweilen selbstkritisch in den Spiegel, um mich der eigenen Silhouette zu versichern, an die ich mich bei allen Schwierigkeiten letztlich doch gewöhnt habe. Meist erkenne ich mich noch, auch wenn die Qualität der Beleuchtung dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.
Doch wie lange geht das noch gut? Nachdem die schier endlosen Wirren der metaphysischen Identitätsbildung überwunden scheinen, tritt nun das physische Selbstbewusstsein stärker in den Vordergrund. Nach der Frage »Wer bin ich?« heißt es nun immer öfter »Wie sehe ich überhaupt aus?«.
Befreundete Frauen berichten sarkastisch von einem fatalen »Wahrnehmungsloch«, in das sie immer häufiger fielen, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs seien: Gleichaltrige Männer, jüngere erst recht, zielen mit ihren allzeit fixierbereiten Blicken haarscharf vorbei an den weiblichen Mittvierzigern, die sich plötzlich im Niemandsland zu bewegen scheinen, jenseits von gut und böse. No woman, no eye.
Wer diese Tendenz aufhalten will, muss sich und seinen Körper einer gnadenlosen Disziplin unterwerfen. Denn nicht nur der reine Verfall, auch der ab spätestens dreißig stetig anwachsende Umfang des eigenen Körpers erfordert ein allgemeines Umdenken.
Auch mir ging eines Tages die...