Vorwort
»Knochen, Knochen, Knochen wunderbar!«
Graf Zahl aus der »Sesamstraße« hat aus meiner Sicht vollkommen recht: Knochen sind etwas Wunderbares, und jeder von ihnen, auch der kleinste, hat einen Sinn. Zusammen mit den Muskeln, den Bändern, den Knorpeln und den Gelenken formen sie eines der faszinierendsten Gebilde, die Natur und Evolution hervorgebracht haben: das menschliche Bewegungssystem. Es begleitet uns sozusagen auf Tritt und Schritt. Jeder hat einen persönlichen Bezug dazu und eine eigene Geschichte, die von der Kindheit über die Jugend, die Zeit als Erwachsener bis hin ins hohe Alter reicht. Die wenigsten von uns machen sich Gedanken über dieses faszinierende Wunderwerk, solange es reibungslos funktioniert. Wir erinnern eher die Probleme, die uns das Bewegungssystem bereiten kann: Da gibt es den Knick-Senkfuß der frühen Jahre, den Knochenbruch, den man als Jugendlicher erlitten hat, und den Bänderriss beim Skifahren, die quälenden Rückenschmerzen, die gerne auch bei einer Überbelastung im Job auftreten, oder den Schenkelhalsbruch der Großmutter, der letztlich dazu führte, dass diese nicht mehr allein in ihrer Wohnung leben konnte.
In guten Zeiten machen wir uns dagegen kaum Gedanken über dieses Konstrukt, das uns so viel ermöglicht. Im Gegenteil: Wir ignorieren manchmal nach Kräften die Bedürfnisse unseres Körpers, vernachlässigen ihn sträflich, selbst wider besseren Wissens. Und wundern uns dann, wenn er uns die rote Karte zeigt. Gerade bei einem so komplexen Gebilde wie dem Bewegungssystem kann ein winziger Defekt in einem kleinen Teilbereich das ganze Gefüge aus dem Tritt bringen.
Mit ungefähr zweihundert Knochen, sechshundert Muskeln und über hundert Gelenken können wir uns frei im Raum bewegen und dabei Dinge vollführen wie kaum ein anderes Lebewesen. Manche Tiere mögen uns in Einzeldisziplinen überlegen sein. So kann sich eine ein Zentimeter große Kakerlake zwar durch die extreme Verformung ihres Körpers durch einen nur wenige Millimeter breiten Spalt unter der Tür hindurchzwängen, aber einen dreifachen Salto rückwärts können nur wir Menschen ausführen. Eine Katze mag zwar wendiger einen Baum hinaufklettern, sie wird aber an der schwimmenden Durchquerung eines Flusses scheitern. Und welches andere Lebewesen vermag schon, Dinge nicht nur zu greifen, sondern mit Fingern und Armen Höchstleistungen zu vollbringen? Virtuos Klavier zu spielen wie Lang Lang oder enorme Gewichte zu stemmen wie Matthias Steiner? Zu sprinten wie Usain Bolt oder so ausdauernd zu laufen wie der 26-fache Weltrekordler Haile Gebrselassie aus Äthiopien? Zu all diesen vielfältigen Leistungen ist nur der menschliche Körper fähig und maßgeblich das ausgetüftelte Bewegungssystem.
Es sorgt für unsere Haltung, dafür, wie wir von unserer Umgebung wahrgenommen werden, und spiegelt auch unser seelisches Befinden wider. Dies hat sich in vielen umgangssprachlichen Formulierungen niedergeschlagen. So sprechen wir von »Rückgrat zeigen«, davon, dass »jemand einen breiten Rücken hat« oder dass wir »jemandem den Rücken stärken wollen«. Wir fordern jemanden auf, »sich nicht so hängen zu lassen«, werten hängende Schultern und eine eingesunkene Haltung als Ausdruck einer gedämpften Stimmung. Und auch die Mythologie kennt Helden, die ihren Ruhm dem Bewegungssystem verdanken: So trägt der Titan Atlas das Himmelsgewölbe auf seinem Rücken, und Achilles galt nach einem Bad im Unterweltsfluss Styx als unverwundbarer Kämpfer, wäre da nicht seine Ferse gewesen.
Unser Bewegungssystem beeinflusst wie wenige andere Teile unseres Körpers das tägliche Leben jedes Einzelnen. Auch wenn wir glauben, es sei quasi fix und fertig, ist alles im Fluss. Unser Bewegungssystem baut sich auf und ab. Das gilt für das Skelett ebenso wie für die Muskeln. Die Funktionsfähigkeit dieses Kunstwerks für die Dauer eines langen Lebens zu erhalten ist harte Arbeit. Das zeigt sich schon dadurch, dass gut ein Viertel aller Krankschreibungen in Deutschland durch Muskel- und Skeletterkrankungen bedingt sind. 40 Millionen Fehltage wurden deutschlandweit im Jahr 2013 allein durch Wirbelsäulenbeschwerden verursacht. Bei ungefähr 44 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland ist das eine beeindruckende Zahl. Die »Global Burden of Disease Study« listet Wirbelsäulenschmerzen als eine der Krankheiten auf, die Menschen weltweit am meisten einschränken. Der Knieschmerz ist – gemessen an der Häufigkeit – der kleine Bruder des Rückenschmerzes. Kein anderer Bereich der Medizin kommt auf derart hohe Werte. Die gute Nachricht ist aber: Nur wenig andere Leiden sind durch Prävention so gut zu beeinflussen. Oder, um es in ein Bild zu übersetzen: Nur, wer auf seinen Körper achtet, ihn pflegt und ähnlich wie sein Auto regelmäßig wartet und zur Inspektion gibt, wird lange daran Freude haben können.
Die noch bessere Nachricht lautet: Sie müssen Ihren Körper nicht exzessiv trainieren, um ihn in Schuss zu halten. Regelmäßig ein wenig Sport und Bewegung, dazu eine gute, ausgewogene Ernährung, mehr braucht es nicht. Schon mit ganz wenig Einsatz ist sehr vieles möglich. Dafür brauchen Sie weder einen dieser modernen Körpertracker, die Ihr »ich« in allen erdenklichen Bereichen vermessen. Das Stichwort ist vielmehr Achtsamkeit: Schenken Sie Ihrem Körper Beachtung, und gehen Sie behutsam mit ihm um. Manchmal sind zwei Wochen Ausspannen am Strand mit einem Glas Piña Colada in der Hand besser, als die schmerzende Schulter noch weiter im Fitnessstudio zu quälen. Seien Sie Ihr eigener Körpercoach, achten Sie auf dessen Signale, dann können wir Orthopäden Sie mit individualisierter Medizin begleiten, ohne gleich einen Totalschaden reparieren zu müssen. Diese Form der Begleitung ist spannend von der Geburt und der Überprüfung der Säuglingshüfte durch die Wachstumsphase hinein in das frühe und späte Erwachsenenalter. Der Begriff Orthopädie kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt die Lehre vom geraden oder aufrechten Kind. Aus der Zeit des Hippokrates (460 v. Chr. – 370 v. Chr.) gibt es bereits Überlieferungen, dass Ärzte deformierte Knochen und Gelenke behandelten. Doch eine weite Verbreitung erfuhren der Begriff Orthopädie und die damit zusammenhängenden Behandlungsmaßnahmen erst im Jahr 1741. Damals hatte der französische Kinderarzt Nicolas Andry de Boisregard ein Werk mit dem Titel »Orthopädie, oder die Kunst, bey den Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern« vorgelegt, in dem er die Tätigkeit eines Orthopäden mit der eines Gärtners verglich, der einen Baum mithilfe eines stützenden Pfahls zu geradem Wachstum lenkt. Das Bild dieses Bäumchens ist bis heute das Symbol der Orthopädie.
So wie das Seil das Bäumchen beim geraden Wachstum unterstützen soll, können regelmäßige Check-ups beim Orthopäden die Funktionsfähigkeit Ihres Bewegungssystems erhalten.
Wie jede medizinische Disziplin hat auch die Orthopädie enorme Entwicklungen durchlaufen. Wir Orthopäden behandeln konservativ und operativ, vom Säugling bis zum Greis. Als Unfallärzte kümmern wir uns um Knochenbrüche und Verletzungen. Es werden Kreuzbänder ersetzt und neue Gelenke eingebaut. Wir verfügen über ein Handwerkzeug aus Hammer, Säge, Meißel und Bohrer, das jedem Bankräuber zur Ehre gereichen würde. Wir arbeiten aber auch mit biologischen Wachstumsfaktoren, züchten Knorpel an und verwenden Stammzellen. Wir fühlen mit unseren Händen, wir beobachten, wie sich ein Patient entkleidet und bewegt. Das allein ist in der Regel schon recht aufschlussreich. In einer der ersten Kliniken, in denen ich gearbeitet habe, hat der Oberarzt uns junge Ärzte immer ermutigt, nach einer ersten raschen Blickdiagnose und dem Abfragen der Beschwerden eine vorläufige Diagnose auf einen Zettel zu schreiben. Hinterher wurden die Notizen verglichen – es ist erstaunlich, wie oft wir richtiglagen. Er wollte uns damit vermitteln, wie wichtig Zuhören und aufmerksames Anschauen ist. Bei vielen Erkrankungen sind die klinischen und technischen Untersuchungen wie Sonografie, Röntgen und Magnetresonanztomografie (MRT) oft nur noch Beiwerk.
Orthopäden behandeln nicht nur akute Fälle wie Brüche, sondern auch die Spuren, die das Leben am Bewegungssystem hinterlassen hat. Es geht auch um all die Sünden, die wir an unserem Körper begangen haben. Wir helfen bei Verschleiß, bei Fehlstellungen und rheumatischen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder Psoriasis-Arthritis und haben damit enge Schnittstellen zur Inneren Medizin und auch zur Dermatologie. Gemeinsam mit Gynäkologen therapieren wir Schwangere mit Rückenschmerzen oder einer sogenannten Symphysenlockerung. Das knorpelige Schambeingefüge wird bei einer Schwangerschaft gedehnt und gereizt, was zu unangenehmen Schmerzen führen kann.
Wir beschäftigen uns mit den Wechseljahren bei Männern und Frauen, wo sich die Abnahme des Hormonspiegels negativ auf die Knochendichte auswirkt und es zu einem Umbau des Körpers kommt, mit weniger Muskeln und mehr Fettdepots. Und wir kümmern uns um Schmerzen, die mit dem Bewegungssystem zusammenhängen. Viele Patienten berichten, dass sie sich an ein Leben ohne Schmerzen nicht mehr erinnern können. Schmerz schränkt nicht nur das körperliche Wohlbefinden und die Lebensqualität ein, sondern beeinflusst auch die mentale Gesundheit negativ. 80 Prozent der Deutschen leiden an Rückenschmerzen, 13 Prozent unter starken chronischen Rückenbeschwerden. Als Orthopäde kann man, wenn man ganzheitlich vorgeht, die Lebensqualität der Patienten deutlich verbessern. Wie Sie in späteren Kapiteln noch sehen werden, ist »Rücken« nicht gleich »Rücken«. Nicht immer ist es ein tatsächlicher Schaden, der uns auf die...