Heilung ist möglich
Wir alle möchten lieben und geliebt werden. Wir möchten erfüllt und authentisch leben. Wir möchten Verbundenheit und Frieden erfahren. Doch so viele von uns können sich selbst nicht lieben. Ständig kritisieren wir uns, nie haben wir den Eindruck, wir seien gut genug. Depression, Minderwertigkeitsgefühle, Strenge bestimmen unser Leben. Unsere Beziehungen wollen nicht gelingen. Sie bleiben oberflächlich, unbefriedigend und ohne Tiefe. Statt Vertrauen und Liebe sitzen Misstrauen, Angst und Groll tief in unserem Herzen.
Woran kann das liegen? Auffallend oft schauen wir auf eine unglückliche Kindheit, in der wir uns nicht gesehen, nicht geliebt gefühlt und uns als nicht angenommen erlebt haben. Kleine Anlässe können die Wunden der Kindheit wieder wachrufen, vor allem im Kontakt mit nahestehenden Menschen. Ein schiefer Blick, ein falsches Wort und plötzlich rasten wir aus, fühlen uns ertappt, empfinden Scham über Belanglosigkeiten, fühlen uns klein, schwach, ausgeliefert.
Wir sind vielleicht selbst überrascht von unseren kindlichen Reaktionen. Doch wenn wir die Rolle unserer Kindheit für unser jetziges Leben betrachten, können wir besser verstehen, warum das so ist.
In der Kindheit entwickeln wir ein Bild von uns selbst, mit dem wir auf die Welt, auf andere zugehen. Aufgrund dieses Bildes entscheiden wir, was wir uns zutrauen, wie wir unsere Beziehungen gestalten und welche Rollen wir anstreben.
Wir entwickeln in dieser Zeit auch grundlegende Vorstellungen von der Welt, in die wir geboren wurden, was wir hier erwarten können, ob sie schön oder schrecklich ist. Dazu gehören auch Annahmen über die Menschen, mit denen wir diese Welt teilen. Auf dieser Basis entscheiden wir, ob wir andere grundsätzlich als freundlich und vertrauenswürdig oder eher unfreundlich und gefährlich einstufen. Aus den grundlegenden Vorstellungen heraus interpretieren wir später das Verhalten unserer Umgebung, ob andere uns mögen oder ablehnen, und leiten daraus ab, welche Motive sich hinter ihren Taten verbergen, ob sie uns Gutes tun oder schaden wollen.
In der Kindheit lernen wir, unsere Bedürfnisse zu spüren und zu erkennen. Wir erfahren, welche dieser Bedürfnisse erfüllt werden und welche nicht. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickeln sich grundlegende Glaubenssätze darüber, was wir dürfen, was wir sollen, was wir müssen. Diese Glaubenssätze prägen fortan unsere Ziele und Hoffnungen, sie nehmen Einfluss darauf, wie wir unser Leben gestalten. Kurzum, die Kindheit beeinflusst in einem hohen Maße unser späteres Leben.
Doch was, wenn die Kindheit suboptimal verlaufen ist? Wenn wir gelernt haben, dass unsere wichtigen Bedürfnisse nicht zählen und nicht erfüllt werden, weil sich niemand für uns interessierte? Wenn wir kein Zutrauen zu unseren Fähigkeiten entwickeln konnten, weil wir nur ungenügend Anerkennung erfahren haben. Wenn wir keine liebevollen Beziehungen kennengelernt haben, sondern in einer Umgebung von Missachtung und Feindseligkeit aufwuchsen? Wenn unser kindliches Vertrauen missbraucht und ausgenutzt wurde?
In jedem von uns ist die Kindheit gegenwärtig. Sie drückt sich aus in all den Persönlichkeitsanteilen, die sich damals entwickelt haben, mitsamt den Reaktionsmustern, Glaubenssätzen und Überzeugungen über uns und die Welt. Wenn sie aktiv werden, fühlen und verhalten wir uns wie damals.
Die negativen Erfahrungen in unserer Kindheit machen sich in vielen kleinen Situationen bemerkbar. Sie zeigen sich in der Art, wie wir innerlich und äußerlich auf etwas reagieren, in der Art, wie wir denken und fühlen, in den Überzeugungen und Einstellungen, die wir in uns tragen.
All diese Muster, Gefühle und Gedanken sind uns so vertraut, dass sie uns nicht auffallen. Gerade weil wir sie nicht bemerken, stellen wir sie nicht infrage und setzen so die destruktive Vergangenheit fort.
Im ersten Kapitel dieses Buches werden wir uns Beispiele anschauen, wie sich diese Wunden aus der Kindheit manifestieren können. Es sind die Themen, die mir immer wieder als Meditationslehrerin in der Arbeit mit meinen Teilnehmern und Teilnehmerinnen begegnen. Die Beispiele sollen helfen, den Zusammenhang zwischen unseren Schwierigkeiten und den Wunden unserer Kindheit besser zu verstehen.
Dabei konzentriere ich mich auf den Themenkreis, der mit Entwicklungen in der Kindheit zu tun hat, in denen wir als Kinder nicht genügend geliebt, angenommen, gesehen worden sind. Ich spreche dabei der Einfachheit halber, und auch weil dieser Sprachgebrauch verbreitet ist, vom inneren Kind. Dies ist in der Praxis nachvollziehbar, weil wir uns tatsächlich wie ein Kind oder wie das damalige Kind fühlen, Stimmen wie von damals hören und Gedankengänge mit den Sätzen unserer Eltern in Verbindung bringen können. Auch spontane Rückerinnerungen an vergangene Erlebnisse sind nicht unüblich in längeren Meditationsretreats.
Viele, die meditieren, sind anfangs überrascht von derartigen Erfahrungen. Sie hatten solche Erinnerungen nicht erwartet, noch waren sie sich bewusst, ein verletztes inneres Kind in sich zu haben. Für die Meditation, wie für jeden Weg der inneren Entwicklung, und auch für die buddhistische Praxis ist das Wissen um unser verletztes inneres Kind von Bedeutung. Manche angestrebten Ziele und manche buddhistischen Lehren können sonst missverstanden werden.
Die Heilung des inneren Kindes ist ein wichtiger Schritt zu einem erfüllten Leben. Wir wollen all die Entwicklungen nachholen, die ein Kind befähigt, ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Auch heute noch können wir die dafür notwendige Wertschätzung, das Selbstvertrauen und die Verbundenheit in uns aufbauen. Die Voraussetzung dafür ist ein guter Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen, den Gefühlen und zum Körper.
Der Schritt, den Wunden der Kindheit und damit den schwierigen Gefühlen zu begegnen, mag schmerzhaft sein, führt letzten Endes aber zu einer tiefen Befreiung von den Wirkungen dieser Vergangenheit. Von da aus können wir unser Potenzial als Mensch entfalten. Wir können unsere Weichen neu stellen und uns auf einen inneren Weg begeben, auf dem sich unser Herz entfaltet und wir zutiefst erfüllende Beziehungen leben können.
Die Vergangenheit selbst können wir nicht ändern. Sie kann immer wieder von heutigen Erlebnissen erweckt werden, die alten Gefühle können auftauchen, aber wir können lernen, anders mit uns, unserer Geschichte und unseren Gefühlen umzugehen. Wir müssen uns weder über das Vergangene definieren, noch müssen wir bleiben, wer wir meinten zu sein.
Neben den erwähnten Beispielen werde ich im ersten Kapitel verbreitete Wunden des verletzten inneren Kindes vorstellen, wobei ich eher von milderen Formen sprechen möchte. Traumatische Erfahrungen brauchen sicher eine zusätzliche adäquate therapeutische Begleitung. Hier können das Buch und die Praxis eine zusätzliche Stütze sein, mehr nicht. Falls Sie von einer solchen traumatischen Vergangenheit wissen, fragen Sie Ihren Arzt oder Ihre Therapeutin, ob Meditation für Sie ein sinnvolles Mittel sein könnte.
Im zweiten und dritten Kapitel erläutere ich die Achtsamkeitspraxis. Ob wir einer spirituellen Praxis folgen oder vorrangig unsere inneren Wunden heilen wollen, Achtsamkeit steht im Zentrum von beidem. Die Achtsamkeit, die hier gemeint ist, besteht aus einer Reihe von Aspekten. Wir wollen darauf achten, dass sie alle wohl ausgebildet werden, denn erst dann kann sie ihre heilende Wirkung entfalten.
Im vierten Kapitel lernen wir die Meditation der liebenden Güte kennen. Mit ihrer Hilfe heilen wir die Beziehung zu unserem verletzten inneren Kind. Dazu gehört auch die Beziehung zu unserem Körper und zu diversen Persönlichkeitsanteilen. Wir alle haben unsere Sonnenseiten wie Schattenseiten. Wir wollen sie tief verstehen und Frieden damit schließen.
In dieser Arbeit begegnen wir selbstverständlich leidvollen Erfahrungen wie auch vielen freudvollen. Für beides öffnen wir uns mithilfe von Achtsamkeit und liebender Güte. Das verschlossene Herz öffnet sich, und wohltuendes Mitgefühl und beschwingende Mitfreude strömen hervor. Wir entdecken die Fähigkeit unseres Herzens, allen menschlichen Erfahrungen mit liebender Güte und Gleichmut zu begegnen.
Im letzten Kapitel stelle ich die Qualitäten vor, die uns helfen, tiefe, vertrauensvolle Beziehungen zu entwickeln. Es sind Qualitäten, die Kinder von ihren Eltern brauchen, um eine gesunde Entwicklung nehmen zu können. Indem wir selbst diese Qualitäten entwickeln, können wir unserem eigenen inneren Kind eine heilsame Atmosphäre bieten, in dem es weiter wachsen kann. Gleichzeitig handelt es sich um Qualitäten, die aus uns einen innerlich »schönen« Menschen machen. Es sind Qualitäten, die helfen, ein Leben erfüllt von innerem Frieden zu leben. Ich nenne sie »die guten Freunde«.
Wir können sie allerdings leicht mit anderen Qualitäten verwechseln, die das verletzte innere Kind allzu gut kennt. Aber statt dass sie uns helfen, Geborgenheit, Lebendigkeit und Wohlbefinden zu erfahren, halten sie uns zurück. Ich nenne sie »die falschen Freunde«. Diese Differenzierung soll uns helfen, nicht wieder in alte Muster zu fallen.
All die Hinweise und Adaptionen der Meditationen gehen aus meiner Arbeit mit unzähligen Menschen in den letzten fünfzehn Jahren hervor sowie aus meiner eigenen inneren Entwicklung. Dort, wo ich von den Erlebnissen anderer berichte, habe ich Namen, Geschlecht und Zusammenhänge verändert.
Der Weg der inneren Heilung erfordert Geduld, und immer wieder scheint es auf dem Weg rückwärtszugehen. Themen, die längst Vergangenheit zu sein schienen, tauchen immer wieder auf. Heilung können wir...