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E-Book

Genie und Gartenzwerg

Wie uns die anderen sehen - Eine Deutschlandumrundung

AutorHelmut Schümann
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644115514
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eigentlich sehnen auch wir Deutsche uns nur nach ein bisschen Zuneigung und Anerkennung, und doch treibt uns wie wenige andere eine Frage um - nämlich, wie die Welt uns sieht: als bieder-fleißige, kalte Techniker? Als von Stadttheatern überquellende Kulturnation? Als bierselige Dumpfköpfe und ewig verdächtige Unheilstifter? Helmut Schümann hat Deutschland umrundet und mit jenen gesprochen, die es wissen müssen: unseren Nachbarn, den Polen, Tschechen, Österreichern, Schweizern, Franzosen, Luxemburgern, Belgiern, Niederländern und Dänen. Und weil das nicht auf die Schnelle funktionierte, ist Helmut Schümann fast die Hälfte der Strecke zu Fuß gegangen. Er hat dabei viel über unsere Leidenschaft fürs Rustikale und unsere Geschichtsbesessenheit, über unsere Rolle als Euroretter und Humorverweigerer gelernt. Er hat auch ganz praktisch gefragt, warum unsere Nachbarn bei Aldi einkaufen, ob sie bei uns arbeiten, einheiraten - oder das Land, seine Leute, ihre Imbissbuden und den Filterkaffee eher meiden. Wir erfahren, für welche Eigen- und Errungenschaften wir wirklich geliebt, wahrhaft gefürchtet oder ehrlich bewundert werden. Eine kluge, oft komische, stets erhellende Reisereportage, ein Buch über Deutschland, durch das wir uns selbst klarer sehen - und das uns hilft, uns ein bisschen leichter zu nehmen.

Helmut Schümann, geboren 1956 in Düsseldorf, ist Journalist. Er war Redakteur der «Süddeutschen Zeitung», des «Spiegel» und der «Berliner Zeitung». Seit 1999 arbeitet er als Reporter für den «Tagesspiegel». Sein Buch «Der Pubertist. Überlebenshandbuch für Eltern» (2004) wurde zum Bestseller.

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Leseprobe

Kapitel 2 Der Pole in mir


Von Widuchowa, einem kleinen Ort an der Oder, eine Tageswanderung südlich von Stettin, bis nach Krajnik Dolny sind es stattliche zweiundzwanzig Kilometer. Ich laufe ohne nennenswerte Pause. Nennenswerte Pausen fangen an, wenn man sich setzen kann, vielleicht etwas trinkt, ein Brot isst. Aber da ist nichts. Keine Bank, kein Kiosk. Nur endlose, öde Landstraße. Kein Weg, kein Pfad, nur ein schmaler Streifen neben der Straße. Ab und an eine Leitplanke. Sich auf die Leitplanke zu setzen zählt nicht als nennenswerte Pause.

Zweiundzwanzig Kilometer zu Fuß, das sind in der Früh und in der Ebene ungefähr vier Stunden. Mittags sind es in der Ebene vielleicht fünf Stunden. Und am Nachmittag, wenn die Schrittgeschwindigkeit schon weit unter fünf Kilometer in der Stunde gesunken ist, ist es eine Qual. Dann geht man so vor sich hin. Schleicht. Linkes Bein, rechtes Bein. Schritt, Schritt. Man denkt auch nicht mehr viel am Nachmittag. Linkes Bein, rechtes Bein. Schritt, Schritt. Die Landschaft verliert ihren antreibenden Reiz an die Müdigkeit. Zumal, wenn sie wie hier nicht schön ist. Nur Wald, der immer gleiche Wald. Und Krajnik Dolny? Wann kommt endlich dieses verdammte Krajnik Dolny? Die Wanderstöcke, solche mit Federung, klackern auf dem Asphalt. Linkes Bein, rechtes Bein. Schritt, Schritt. Am Ende der Kurve sind Häuser zu sehen.

Am Ende der Kurve stehen doch keine Häuser. Ich bin gerade mal den fünften Tag unterwegs, und schon sehe ich Häuser, wo gar keine sind. Verfluchte Landstraße.

Dass ich auf der Landstraße gehe, kommt so: Ich habe mir vor der Reise im angeblich größten Radgeschäft Europas, bei Stadler nämlich – ich sehe wirklich keinen Grund, jetzt Rücksicht zu nehmen, nicht auf diese Verbrecher –, ich habe mir also bei Stadler, angeblich Europas größtem Radgeschäft, ein Navigationsgerät gekauft. Der Verkäufer tönte, dass es für Fahrradfahrer wie Fußgänger geeignet sei. Man darf ja auch als Wanderer ruhig auf der technischen Höhe der Zeit gehen. Ich bin nicht auf asketischer Pilgerschaft und nicht bei der Buße.

Zwei Tage vor Abmarsch hat Achim, ein Freund, das Gerät zu installieren versucht. Achim kennt sich wirklich gut aus mit Technik, viel besser als ich. Nur, die Landkarten, die ich brauche, hat er auch nicht herunterladen können. Weil das Navi schon registriert war, auf irgendeinen Menschen, der mal ein bisschen durch Brandenburg spaziert ist. Dieser Stadler hat das gebrauchte Navi eines Spaziergängers einem Deutschlandumwanderer als neues Navi verkauft!

Es war Samstag, als wir diese Entdeckung machten, Stadler hatte schon geschlossen, Montag sollte meine Wanderschaft beginnen. Achim, der Techniker, hat dann später noch beim Hersteller angerufen. «Ach», sagte der Hersteller, «das Navi mit dieser Registriernummer? Das ist doch defekt, ein technischer Fehler, das hätte doch gar nicht mehr im Handel sein dürfen …» Ich werde darüber noch zu reden haben mit Stadler, dem angeblich größten Radgeschäft in Europa.

Zu den erwartbaren Einwänden:

Warum habe ich mir auf dem Weg kein neues Navigationsgerät gekauft?

Antwort: Mein Reisebudget ist schmal.

Warum verwende ich nicht mein Handy als Navigationsgerät?

Antwort: Wie weit wäre ich wohl gekommen, wenn ich jede Stunde eine Kneipe aufgesucht hätte, um das Handy aufzuladen? Navi auf Handy frisst Akku leer, so schnell kann ich gar nicht gehen.

Ich laufe jetzt altmodisch mit Karte. Oder auf Sicht. Und der Sonne nach. Leider habe ich für das Gebiet, durch das ich gerade wandere, nur eine Straßenkarte bekommen. Auf Landstraßen zu gehen, immer der Gefahr entgegenzusehen und vor donnernden Lastkraftwagen auszuweichen ist kein Vergnügen. Krajnik Dolny – wo ist dieses verfluchte Nest?

Ich bewege mich durch Polen. Von Swinemünde aus bin ich per Tragflügelboot schnell und bequem über das Haff nach Stettin gekommen. (Was sollte ich anderes machen? Ich bin nicht der, der übers Wasser laufen kann.) Von Stettin aus bin ich langsam, weil zu Fuß und unerquicklich, raus aus der Stadt durchs Industriegebiet, weiter nach Gryfino und Pniewo und dann nach Widuchowa.

 

Der Krieg ist seit bald siebzig Jahren vorbei. Und ich kenne den Krieg und überhaupt Kriege nur aus dem Geschichtsunterricht oder vom Hörensagen. Oder auch nicht mal vom Hörensagen, die Eltern haben nicht viel mehr davon erzählt, als dass er ganz schrecklich gewesen sei. Sonst kaum etwas. Nichts von der eigenen Verstrickung. Nichts von der eigenen Verstummung.

Die Mutter, die hat manchmal behauptet, sie habe nichts mitbekommen. Aber dann hat ihr der Vater gesagt, dass sie nur aus dem Fenster hätte schauen müssen, dort hätte sie sehen können, dass Menschen in Scharen abtransportiert werden. Die Mutter wollte das nicht hören und meinte nur, dass auch mal Schluss sein müsse mit der Vergangenheit. Das hat sie später sehr oft gesagt, wenn es im Radio um die deutsche Vergangenheit ging oder, Jahre später – wir hatten erst sehr spät einen Fernseher, ab 1972, weil der Vater die Olympischen Spiele schauen wollte, die ich auch supertoll fand, zum Beispiel Ulrike Meyfarth, die war genauso alt wie ich und gewann schon die Goldmedaille –, also, die Mutter hat das auch oft gesagt, wenn im Fernsehen ein «Problemfilm» gezeigt wurde, so nannte sie diese Filme.

Die Angst vor einem erneuten Krieg war immer gegenwärtig. Und in den Weltbildern, die sich aus der «Welt» und der «Bild» zusammensetzten, gehörte auch das kommunistische Polen zur Achse des Bösen. Einmal, das war an dem Tag, an dem John F. Kennedy in Dallas erschossen wurde, stand die Mutter am Bett von meiner Schwester und mir und meinte, dass jetzt alles wieder von vorne losgehe. Sie war mit dem Vater bei Nachbarn gewesen, alle hatten sie dort ferngesehen und vom Attentat auf der Elm Street erfahren. Die Mutter, politisch ebenso wenig involviert wie der Vater, glaubte sofort, die Kinder warnen zu müssen vor dem dritten Weltkrieg. Dass die Pferde der Kommunisten ihren Durst bald am Rhein stillen würden, war eine oft wiederholte Binse meiner Kindheit.

Die schlaftrunkenen Kinder erschreckte das alles allerdings nicht sonderlich. Sie wussten kaum, wer John F. Kennedy ist, und schon mal gar nicht, was böse Kommunisten sind. Sie wussten nur, dass sie, die Kinder, nicht im Rhein schwimmen durften, weil der Rhein damals so dreckig war, dass Pferde, selbst Pferde von bösen Ostblock-Kommunisten, nach nur einem Schluck Rheinwasser tot umgefallen wären.

Vor zwei Tagen bin ich irgendwo entlang der Oder an ein paar polnischen Pferden vorbeigelaufen. Sie zeigten keinerlei Ressentiments gegenüber dem deutschen Wanderer. Es kann natürlich auch sein, dass sie mich für einen polnischen Wanderer hielten, wir haben nicht über meine Herkunft gesprochen. Wie lässt es sich beschreiben, das Gefühl, durch Polen zu laufen, wo die Vergangenheit des Krieges sicher allgegenwärtig ist? Oder bilde ich mir nur ein, dass die Vergangenheit hier noch eine Rolle spielt, und die polnische Gegenwart ist tatsächlich längst anderweitig beschäftigt?

 

In Podjuchy, einem Vorort von Stettin, habe ich vor ein paar Tagen Tomas kennengelernt. Tomas saß vor einem Kiosk am Busbahnhof und trank Bier. Ins Gespräch kamen wir, weil ich ihn nach dem Weg nach Gryfino fragte, eine Kleinstadt an der Oder, grenznah, gegenüber von Gartz. Er sah aus wie einer, dem man nicht begegnen möchte, wenn er zornig ist, den man aber auf seiner Seite haben will, wenn Ungemach droht. Groß war er, kräftig, vierkantig das Gesicht, den Muskeln in den Oberarmen war anzusehen, dass sie schwer schleppen und auch Bäume ausreißen können. Auf meine Frage nach Gryfino antwortete er auf Deutsch: «Oh, ist kein Problem, da vorne fährt Bus nach Gryfino.» Dann bemerkte er die Wanderstöcke und den Rucksack. «Oh, ist auch kein Problem, immer geradeaus, irgendwann Gryfino.»

Tomas arbeitet in Deutschland. Er ist einer von den polnischen Handwerkern, die alles können, einer von denen, die wir in Deutschland immer gerne zur Hand haben, wenn es etwas zu bauen gibt, zu renovieren, natürlich schwarz. Zurzeit, erzählte er mir, arbeitet er in der Nähe von Köln, «verlege Rohre für Wasser, aber kann auch Mauern bauen».

Tomas hatte sich ein paar freie Tage gegönnt, wegen des 3. Mais, der Feiertag ist in Polen. Am 3. Mai 1791 hat sich Polen eine rechtsstaatliche Verfassung gegeben. Als erstes europäisches Land. Ich wusste nicht, dass Polen mal für ganz Europa ein Vorbild war, vielleicht hatte ich es auch nur vergessen oder im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst. Tomas war sichtlich stolz, mich aufklären zu können. «Weißt du», sagte er, «ihr Deutschen vielleicht besser im Fußball, aber Demokratie wir haben in Europa zuerst.»

Um Tomas herum standen Tüten, jede Menge Tüten. Er war einkaufen gewesen. Als seine Frau kam und seine Tochter, beide ebenfalls bepackt mit Einkaufstüten, sagte Tomas: «Meine Frau, meine Tochter, elf Jahre alt. Aber am 4. Mai ich fahre schon wieder nach Köln.» Dann gab er mir noch seine Handynummer. «Wenn du brauchst einen Handwerker, ich komme.»

 

Oder Widuchowa. Widuchowa ist eine ganz besondere Geschichte.

Ich kam dort nach einer langen Strecke, zwanzig Kilometer von Pniewo, abends an und ging ins «Przystan pod lipami», die einzige Gaststätte des Ortes. Wahrscheinlich sah ich ermattet aus. Noch bevor ich bestellen konnte, schob mir Valdek, ein Gast, der zuvor am Nebentisch gesessen hatte und kurz verschwunden war, einen Teller hin, Brot, eine eingelegte Gurke, ein gegrilltes...

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