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Der Soldat - Ein Nachruf

Eine Weltgeschichte von Helden, Opfern und Bestien

AutorWolf Schneider
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783644036611
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Warum «ein Nachruf»? - Weil die Ära des Soldaten, wie wir ihn kennen, zuende geht. Heute taugt der Soldat nicht mehr zum Siegen: Selbstmordattentäter, sogar Partisanen sind ihm überlegen, erst recht die Drohnen, die Atomraketen, die Computer und auch menschliche Kampfmaschinen wie die Navy Seals. Der «klassische», der «symmetrische» Krieg ist so gut wie gestorben. Wolf Schneider geht dieser Entwicklung nach und nimmt dies zum Anlass einer umfassenden Erzählung: einer Geschichte des Soldaten, seines Handwerks, seiner Waffen, Strategien, atavistischen und kulturellen Motive, seiner gesellschaftlichen Stellung. Was waren das für Menschen, die da töteten oder auch nicht - wie taten sie es und warum? Wie ist es ihnen ergangen - auf dem Kasernenhof und in den Schlachten, die Länder verwüstet, Kulturen zerstört und Völker ausgerottet haben? Was trieb sie zu den Waffen - und wenn ihnen die Waffe in die Hand gezwungen wurde: Was zwang sie, von ihr Gebrauch zu machen? Wolf Schneider breitet in diesem Buch eine umfassende Weltschichte der Menschen aus, die andere Menschen töten sollten - der Begeisterten (die gab es) und der in Uniform Gepressten, der Schinder und der Geschundenen, der schreienden Opfer und derer, die man allenfalls «Helden» nennen könnte. Eine 3000 Jahre umfassende, facettenreiche Geschichte des Kriegers über Zeiten, Kontinente und Kulturen hinweg, die ihresgleichen sucht.

Wolf Schneider, geboren am 07. Mai 1925 und gestorben am 11. November 2022, hat zahlreiche Sachbücher veröffentlicht, darunter große, erzählende Bücher ebenso wie Standardwerke zu Sprache, Stil und Journalismus. Er war Soldat von 1943 bis 1945, Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung» in Washington, Verlagsleiter des «Stern», Chefredakteur der «Welt», Moderator der «NDR-Talk-Show» und 16 Jahre lang Leiter der Hamburger Journalistenschule. 2011 erhielt er den Henri-Nannen-Preis für sein Lebenswerk, 2012 wurde er vom «Medium Magazin» als Journalist des Jahres für sein Lebenswerk geehrt. Zuletzt erschienen bei Rowohlt «Der Soldat. Ein Nachruf» (2013) und «Denkt endlich an die Enkel! Eine letzte Warnung, bevor alles zu spät ist» (2019). Er lebte in Starnberg.

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Leseprobe

4 Die Selbstmordattentäter warten nicht


Ein Selbstmordattentat hätte Deutschland brauchen können an jenem 20. Juli 1944, an dem ein Soldat, Oberst Graf Schenk von Stauffenberg, zweierlei auf einmal wollte: Hitler umbringen und dann den Staatsstreich durchziehen. Und so misslang ihm beides.

Das wirksamste aller Kampfmittel ist das Attentat, das der Täter nicht zu überleben sucht. Noch nie haben sich so wenige Menschen so umstürzend in die Weltgeschichte eingeschrieben wie die zehn, die am 11. September 2001 die beiden Türme des World Trade Center in New York rammten und vernichteten.

Töten mit der klaren Einsicht, ja der Absicht, dabei getötet zu werden: Diese vorsätzliche Durchkreuzung des Selbsterhaltungstriebs ist zuerst aus dem 12. Jahrhundert von den Assassinen überliefert, «Haschisch-Rauchern». So wurden die meist jugendlichen Anhänger eines fanatischen schiitischen Geheimbunds genannt, den der Wanderprediger Hasan Ibn Sabbah seit dem Jahr 1090 in einer persischen Bergfestung um sich versammelt hatte. Sie betrachteten sich als Vorkämpfer des wahren Islams, und im Auftrag ihres Meisters ermordeten sie nicht nur christliche Kreuzfahrer (seit 1096), sondern auch hochgestellte Muslime: Gouverneure, Generale, zwei Kalifen sogar.

Dies stets in der Form, dass sie sich anschlichen mit dem Dolch im Gewande – und dann, das war das Unheimlichste für die Zeitgenossen, nicht zu fliehen versuchten, sondern gleichsam darauf warteten, von den Leibwächtern erstochen zu werden. Was für die Selbstmordattentäter von heute bloß unvermeidlich ist (die Opfer und sich selbst durch dieselbe Tat zu vernichten): Das führten sie mutwillig herbei. Im Englischen und in den romanischen Sprachen haben sie ihre Spuren bis heute hinterlassen: assassinate, assassiner, assassinare heißt «einen Meuchelmord begehen».

Als Marco Polo 1292 auf der Heimreise Persien querte, hatten die Mongolen die Bergfestung der Sekte längst erobert und sie zerstört – aber der Venezianer ließ sich noch etwas erzählen, was wahr sein könnte: Hasan Ibn Sabbah habe seinen Jüngern ein paar Tage lang jenes Paradies vorgegaukelt, das nach ihrer Tat auf sie warte. Sie seien in einen Haschisch-Rausch versetzt worden und in einem schattigen Garten erwacht, der in der Burg verborgen war; in Seide gekleidet, mit Honig, Milch und Wein verwöhnt und von schwarzäugigen Jungfrauen erwartet, wie im Koran verheißen. Nach neuerlichem Haschisch-Rausch hätten sich die Jünger in ihren alten Kleidern wiedergefunden, und der Meister habe ihnen erklärt: Das sei nur ein kurzer Vorgeschmack auf jenes Paradies gewesen, in das sie nach ihrer Tat einziehen würden für immer.

Eine Variante auf die Assassinen (Fliehe nicht!) demonstrierten zwei britische Staatsbürger nigerianischer Herkunft, 28 und 22 Jahre alt, im Mai 2013 in London. Auf offener Straße zerhackten sie einen britischen Soldaten – und blieben, die blutigen Fleischerwerkzeuge in der Hand, zehn Minuten am Tatort stehen, bis die Polizei sie überwältigte; von einer unerschrockenen Londoner Hausfrau ins Gespräch verwickelt, erklärten sie, dies sei die Rache für die vielen Muslime, die von britischen Soldaten getötet worden seien.

Zwischen den Meuchelmördern des 12. Jahrhunderts und den Terroristen unserer Zeit, denen das Leben von Christen und Juden nichts gilt, steht historisch das Unternehmen Kamikaze, «göttlicher Wind». So nannten die Japaner den Taifun, der im Jahr 1281 eine mongolische Invasionsflotte vernichtet und damit Japan gerettet hatte – und dann den verzweifelten Versuch von 1944/45, die Niederlage doch noch abzuwenden oder wenigstens ein Zeichen des Stolzes zu setzen. Dies aber, anders als früher die Assassinen und später die Al-Quaida-Terroristen, auf soldatische Weise: bewaffnete Männer gegen bewaffnete Männer.

Das Korps der Selbstmordflieger wurde im Oktober 1944 von Admiral Takijiro Ohnishi gegründet, dem Befehlshaber der japanischen Marineluftwaffe auf den Philippinen. Damals drohten die Philippinen verlorenzugehen, Japans letzte überseeische Bastion. Das wirksamste Kampfmittel der Amerikaner waren die Flugzeugträger; die Reste der japanischen Luftwaffe befanden sich ihnen gegenüber in hoffnungsloser Position.

Ohnishi machte die Rechnung auf: Wenn eines meiner Flugzeuge einen Träger angreift, so hat es geringe Chancen, zurückzukehren, geringe Chancen, einen Treffer zu erzielen, und fast keine Chancen, mit der 250-Kilo-Bombe, die die allein verfügbaren Zero-Jäger tragen können, das Riesenschiff ernstlich zu beschädigen. Verzichtete man dagegen bewusst auf die geringe Chance der Rückkehr, so wurden die beiden anderen Chancen erheblich erhöht: Ein Pilot, der sich mitsamt seinem Flugzeug auf das Schiff stürzte, konnte sein Ziel schwerlich verfehlen, und die Bombenwirkung wurde durch Aufprall und Explosion des Flugzeugs wesentlich verstärkt. Die verletzlichen Stellen eines Flugzeugträgers waren seine Aufzugschächte, durch die die Flugzeuge an Deck befördert wurden; gelang es, sie durch Kamikaze-Piloten zu zerstören, so war er wochenlang lahmgelegt.

Nach dem Verlust der Philippinen starteten weitere Selbstmordpiloten von Okinawa, schließlich vom Mutterland aus. Sie stürzten sich auch auf Transporter und Kriegsschiffe aller Art, und ihre relative Rolle in der zusammenbrechenden japanischen Verteidigung wuchs noch dadurch, dass der Sturz ins Ziel eine viel kürzere Ausbildungszeit erforderte als der herkömmliche Bombenabwurf.

Was wurde mit dem Unternehmen Kamikaze ausgerichtet? 1428 Flugzeuge kehrten nicht zurück. Da sich darunter auch abgeschossene Begleitmaschinen sowie solche Selbstmordflieger befanden, die abgeschossen wurden, ehe sie ins Ziel stürzen konnten, dürften etwa 1100 Piloten ihr Ziel erreicht und den Kamikaze-Tod gefunden haben, unter ihnen zwei Admirale.

Diesen Piloten gelang es, 34 amerikanische Kriegsschiffe zu versenken, darunter drei Flugzeugträger und 14 Zerstörer, sowie 288 feindliche Schiffe zu beschädigen, davon 36 Flugzeugträger und 15 Schlachtschiffe. Es kann als sicher gelten, dass dieselben überwiegend schlecht ausgebildeten Piloten in ihren veralteten Maschinen mit der spärlichen Bombenlast einen ungleich geringeren Erfolg erzielt hätten, hätten sie in herkömmlicher Weise angegriffen, und dass wahrscheinlich die Hälfte von ihnen dennoch gefallen wäre.

«Das Kamikaze-Korps hat uns ungeheuren Schaden zugefügt», bestätigte der amerikanische Vizeadmiral C. R. Brown in seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der offiziösen japanischen Geschichte von den Selbstmordfliegern. «Es hat Tausende unserer Männer getötet und verwundet, ja unseren Schiffsbesatzungen vor Okinawa größere Verluste zugefügt als das japanische Heer unseren gelandeten Truppen in den fast dreieinhalb Monate dauernden Kämpfen an Land.»[14]

Dass die Japaner aus ihrer noch vorhandenen Luftwaffe das Beste zu machen verstanden, steht also nicht in Zweifel. Was Admiral Brown und mit ihm den meisten Abendländern und auch vielen Japanern dennoch missfiel, ist, dass die Kamikaze-Angriffe trotz ihrer Erfolge nichts mehr an Japans Niederlage zu ändern vermochten, dass die japanischen Militärs dies auch gewusst hätten, dass die Unternehmung also sinnlos gewesen sei. «Selbst wenn wir militärisch keinen Sieg erringen konnten», halten die Verfasser der Kamikaze-Geschichte dem entgegen, «war es unsere Pflicht, zu den Waffen zu greifen, um dem japanischen Geist treu zu bleiben.» Und Admiral Ohnishi verkündete im Januar 1945: «Selbst wenn wir geschlagen werden, wird der Opfergeist dieses Kamikaze-Korps unsere Heimat vor dem völligen Zerfall bewahren.»[15] Bei Kriegsende beging Ohnishi Harakiri.

Harakiri – ja, lieber glorreich sterben als in Schande untergehen! Zur rituellen Selbsttötung hatte Japans Adel ein ungewöhnliches Verhältnis; sie galt als Ausdruck von Mut, Demut, Reue, Selbstbeherrschung. Harakiri hieß, sich mit einem Dolch den Bauch aufschlitzen von links nach rechts, und wenn die Eingeweide herausgequollen waren, schlug der Freund, der hinter dem Selbstmörder stand, ihm mit einem Schwert den Kopf ab. Diesen unsäglichen Tod wählte der Samurai entweder, um einer Strafe zu entgehen oder sich von einer Sünde zu befreien, die seine Familie oder den Kaiser entehrt hätte; oder weil der Kaiser ihm einen juwelenbesetzten Dolch zuschickte, mit der höflichen Bitte, von ihm Gebrauch zu machen. Damit war alle Schande getilgt.

Vor dem Hintergrund dieses Todeskults ist es glaubhaft, dass Admiral Ohnishi 1944 zunächst nur Freiwillige annahm, dass viele ihn bestürmten – die Flugzeuge reichten nicht für die opferwilligen Piloten. «Liebe Eltern, ihr könnt mir gratulieren!», schrieb der Feldwebel Isao Matsuo nach Hause. «Ich habe eine glänzende Gelegenheit zum Sterben bekommen … Möge unser Ende schnell sein und glatt wie zerbrechendes Glas!»[16]

Sie waren fröhlich zwischen der Entscheidung und dem Einsatz, die Piloten, sie feierten Feste, sie machten, bei allem Respekt vor dem Leben nach dem Tode, an das die Mehrheit von ihnen fest geglaubt haben dürfte, zugleich ihre Witze darüber, indem sie sich etwa darum stritten, wer von ihnen Kantinenchef werden solle im Yasukuni-Schrein beim Kaiserpalast in Tokio, in dem sich die Geister der Gefallenen versammeln.

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