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E-Book

In Rente

Der größte Einschnitt unseres Lebens

AutorWolfgang Prosinger
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783644031715
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Was für eine Zumutung, dachte Hecker, dass wir gerade im Alter gezwungen sind, aus diesem Trott, den wir uns wohlweislich geschaffen haben, herauszutreten und das Leben neu zu erfinden. In Rente, fand Hecker, und er hielt das für eine nüchterne Betrachtung, sollte man eigentlich mit zwanzig gehen, dann hätte man Kraft für diesen Lebensumschwung. Aber ihn mit seinen 65 Jahren damit zu belästigen - ?Nein danke?, rief er laut, und er fand sich wunderlich, weil er allein in der Küche stand, Pilze putzte und nirgendwo ein Zuhörer war.» Nichts bedeutet eine größere Veränderung für unser Leben als der Renteneintritt. Denn wir werden ab der Grundschule vom Leistungsgedanken bestimmt: Schule schaffen, Job bekommen, Karriere machen etc. Plötzlich aber geht es nicht mehr um Leistung. Eine Konstante, die das Leben 60 Jahre lang bestimmt hat, bricht weg. Ist das ein Glücksfall, weil leidige Pflichten und Zwänge endlich wegfallen? Oder bedeutet es den Absturz in die Bedeutungslosigkeit und den Verlust des Lebenssinns? Einfühlsam, dicht und humorvoll beschreibt Prosinger den Weg in die Rente, der uns alle - ganz unmittelbar oder als Angehörige - angeht.

Wolfgang Prosinger, Jahrgang 1948, ist Journalist und Autor mehrerer Bücher. Nach seinem Studium der Germanistik und Geschichte in München und Freiburg arbeitete er bei verschiedenen Zeitungen, u. a. als Italienkorrespondent für die Basler Zeitung und die Badische Zeitung. Bis 2013 leitete er die Seite 3 des Tagesspiegels. Zuletzt erschien von ihm «Tanner geht. Sterbehilfe - Ein Mann plant seinen Tod».

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Leseprobe

Die Einladung


Hecker geht zu einer Rentner-Party, hört den Gesprächen seiner früheren Kollegen zu und ärgert sich

Ein Kollege hatte eine E-Mail geschickt, er war ein paar Jahre älter als Hecker, Ruheständler seit geraumer Zeit. Viele Jahre hatten sie zusammen gearbeitet bei der Monatszeitschrift. Eine Zeitlang waren sie sogar in einem gemeinsamen Büro gesessen, waren mittags miteinander in die Kantine gegangen, hatten Alltagserlebnisse und Alltagssorgen miteinander besprochen, den jüngsten Klatsch im Betrieb und auch die Texte, die sie für die Zeitschrift schrieben. Hatten sich gegenseitig kritisiert und verbessert. Sich dann aber ein wenig aus den Augen verloren, hie und da ein Telefonat, immer seltener, und seit einem guten Jahr hatten sie gar nichts mehr voneinander gehört. Hecker war nicht verwundert darüber, Ruhestand hat eben etwas mit Ruhe zu tun. Beruf, dachte er, verbindet, Rente trennt.

Und jetzt diese unverhoffte E-Mail. Er plane für den letzten Freitag im März eine kleine Einladung, hatte es darin geheißen, keine große Sache, zehn, zwölf Leute, alles ehemalige Kollegen, Ruheständler wie er, es wäre ihm eine große Freude, wenn er Zeit hätte. Denn Zeit, fügte er hinzu, sei bei ihm gewiss ein kostbares Gut. Schließlich genieße er, Hecker, noch nicht die Vorteile des Rentnerdaseins, diese Zeit im Übermaß. Aber er gehöre, auch wenn er noch nicht pensioniert sei, ganz unbedingt zur Seniorengruppe der Zeitschrift, die er eingeladen habe. Jedenfalls sei diese Freitagseinladung ein Pflichttermin für Hecker, ein Wiedersehen mit der alten Zeit, ein echtes Ehemaligentreffen, er freue sich schon ungemein darauf. Ein Abend voller Erinnerungen, feuchtfröhlich womöglich. Für das leibliche Wohl sei gesorgt.

Hecker schauderte kurz, als er den Satz vom leiblichen Wohl las. Hatte er die Formulierung doch in all seinen Redakteursjahren konsequent aus Texten gestrichen. Sein Kollege hatte das, daran zweifelte er nicht, bestimmt genauso gehalten. Leiblich, spottete Hecker, leiblich! Verbotene Wörter hatten sie so etwas zu ihren gemeinsamen Arbeitszeiten genannt, ganze Listen solcher Wörter zusammen angelegt. «Maßnahmen durchführen» stand da zum Beispiel oder «Erholung pur», «Drahtesel» oder «vorprogrammieren», «Sohnemann» oder «menscheln» oder «kriseln» oder «urlauben» oder «kuren». Mehr als hundert Wörter waren es am Ende, die sie auf ihre Listen geschrieben hatten. Und jetzt benutzte der Kollege selbst so ein Wort! Aber Hecker nahm eine Anwandlung von Altersmilde bei sich wahr, vielleicht, dachte er, würde es ihm auch so ergehen, wenn er erst einmal aus dem Beruf ausgeschieden war. Deshalb war die Rührung über die Einladung größer als der Spott. Die alten Freunde wiedersehen, die Kollegen von gestern: Hecker gefiel die Idee. Ein Rentnerabend, auch wenn er noch nicht ganz dazugehörte.

Für halb sieben war die Einladung angesetzt. Hecker hatte sich nicht über die Uhrzeit gewundert. Rentner sind oft Frühschläfer, das wusste er, zeitige Bettgänger, obwohl er das nicht verstand. Der einzige Vorteil dieses Daseins schien ihm stets der Zeitgewinn am Morgen zu sein: die ungewohnte und ungeheuerliche Freiheit, den Wecker nicht stellen zu müssen, in den Tag hinein zu träumen, ohne Pflicht, ohne Zwang, ohne Frühstückshektik. Und deshalb mit dem Glück, abends nicht auf die Uhr schauen zu müssen, die Zeit unbeschwert dehnen zu dürfen, feuchtfröhlich womöglich.

Das war offenbar nicht so. Rentner, so hatte er oft gehört, folgten noch immer einer inneren Uhr, Macht der Gewohnheit, waren ihr untertan, wahrscheinlich für alle Zeiten, und hörten ihr Ticken, auch wenn dieses Ticken längst aufgehört hatte.

Halb sieben also. Hecker schaffte es nicht. Ein Autor hatte seinen Text verspätet abgeliefert, aus Italien wurde eine Regierungskrise gemeldet, in Spanien hatte eine Demonstration gegen die Jugendarbeitslosigkeit zu Gewaltausbrüchen geführt, in Brüssel redeten Finanzminister über den nächsten Euro-Rettungsschirm. Hecker hatte zu tun. Auch wenn bei seinem Monatsblatt die journalistische Hektik mit der einer Tageszeitung nicht vergleichbar war. Hecker erinnerte sich noch gut an die Stresszeiten mit dem täglichen Redaktionsschluss an seinen früheren Arbeitsstellen. Aber auch jetzt kam es immer wieder vor, dass es plötzliche Terminballungen gab, Engpässe, Zeitdruck.

Als er schließlich kurz vor acht beim Treffen der Zeitungsveteranen ankam, waren alle voller Verständnis. Kennen wir, sagten die Kollegen, Ex-Kollegen, mach dir nichts draus, bist ja die Last auch bald los, und hoben ihre Sektgläser. Prost, Arbeitstier, schön, dass du da bist. Wir sind schon beim dritten Glas.

Hecker, das erste Glas in der Hand, sah sich vergnügt um. Fühlte sich sofort eingemeindet in die Gruppe der Sekttrinker. Kannte sie schließlich alle seit Jahren. Ihre Eitelkeiten, ihre Scherze, ihre Klugheiten, ihre Macken. Er fühlte sich zugehörig, er war einer von ihnen.

Gerade mit dem Kollegen, mit dem er einst das Büro geteilt hatte, war das Wiedersehen eine Freude. Ein kurzes Wort genügte, eine Anspielung, und schon wusste der andere Bescheid. Intimität der Vergangenheit. Die Zeit schien stehengeblieben zu sein.

Die Gespräche wogten, die alkoholischen Befeuerungen taten das ihre. Hecker bemerkte allerdings, dass ihn schon bald eine Müdigkeit überfiel, und er wurde immer stiller. Der Vorrat an Neuigkeiten schien allzu schnell erschöpft zu sein. Also wandten sich die Gespräche mehr und mehr rückwärts, ergingen sich in bekannten Betriebsanekdoten, Geschichten von früher, aus den alten Zeiten, erzählten das so oft Erzählte. Weißt du noch? Kennst du noch? Erinnerst du dich noch?

Hecker, mittlerweile ein wenig gelangweilt, versuchte, der Vergangenheit zu entkommen, begann die Ereignisse des heutigen Tages anzusprechen, die italienische Regierungskrise, überhaupt das schwierige Thema Europa. Das war stets sein journalistisches Spezialgebiet gewesen. Außenpolitik, besonders die Mittelmeerländer und da vor allem Italien. Immer war er ein glühender Verfechter eines Vereinten Europas gewesen, und er wusste, dass allen, die hier zusammenstanden und tranken, das Thema am Herzen lag, ja zu Herzen ging. Waren sie doch fast alle in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren, eine Generation mit ganz eigenen Erfahrungen. Kriegskinder, Nachkriegskinder. Oft aus verletzten Familien, die böse Erfahrungen gemacht hatten. Und deshalb immer voller Überschwang für die Idee eines Europas ohne Grenzen und ohne jene nationalen Torheiten, die die Massaker der Weltkriege angerichtet hatten. Bei diesem Thema, Hecker wusste es, waren sich alle einig, und diese Einigkeit hatte ihr gemeinsames Alter geschaffen.

Umso verblüffter war er, dass kaum jemand Notiz nehmen wollte von dem, was er zu sagen hatte. Weshalb er insistierte. Früher hatten die Kollegen seinen Eifer stets geteilt. Über das Europa der Bürokraten hinwegsehen!, hatten sie immer gesagt, das Europa des Friedens beschwören! Das war ihre Devise gewesen, ihre tiefste Überzeugung. Hecker hatte sich all die Arbeitsjahre an diesem gemeinsamen Geist erfreut. Gleichgesinnte Kollegen.

Der Fall Italien schien an diesem Abend jedoch niemanden sonderlich zu interessieren. Regierungskrise!, das sei doch in Italien an der Tagesordnung, alle paar Monate eine neue Regierung, mehr als fünfzig in sechzig Jahren, und früher sei das alles doch noch schlimmer gewesen.

Früher, ärgerte sich Hecker, früher, früher.

Und schon erzählte einer die Geschichte von früher, von jenem Redakteur aus den achtziger Jahren, der damals mit einer sehr jungen Volontärin nach Rom durchgebrannt war. Hecker hatte die Geschichte schon zwanzig Mal gehört.

Er spürte, wie sich Widerwille in ihm aufbaute, der von Minute zu Minute größer wurde. Wie man denn hier die Ereignisse in Spanien bewerte, versuchte er es erneut, und es klang schon ein wenig ungeduldig. Es sei ja so, antwortete die Ex-Kollegin aus der Kulturredaktion, dass sie seit einiger Zeit, seit ein paar Jahren eigentlich schon, ein extremes Problem mit ihrer Galle habe. Appetitlosigkeit, plötzliche Fieberschübe, rätselhafte Angelegenheit, das häufe sich, sie wisse gar nicht, wie sie der Sache Herr werden solle. «Versteht ihr?», sagte sie. «Wochenlang kein Appetit, Lust auf nichts. Nicht mal auf Alkohol.»

«Prost», rief einer dazwischen.

«Und auf Sex schon gar nicht», sagte die Kulturredakteurin.

Hecker fragte sich, ob er in die ausbrechende Heiterkeit einstimmen sollte, aber er blieb stumm, weil er eigentlich lieber etwas Tröstliches gesagt hätte. Trost spenden – das war oft seine Rolle in der Redaktion gewesen. Immer war er einer gewesen, den die Kollegen gerne aufgesucht hatten mit ihren Sorgen. Hecker war ein guter Ratgeber, verständnisvoll, einer, der zuhören konnte. Aber an diesem Abend blieb er still, hatte sein Sektglas ausgetrunken, holte sich jetzt ein Glas Weißwein und beschloss, dass es damit genug sein sollte. Es war Zeit, bald zu gehen, fand er.

Apropos Europa, sagte jetzt der frühere Wirtschafts-Ressortleiter, er war gerade siebzig geworden, ihn störe dieses Europa-Denken ja schon seit etlichen Jahren, immer nur Europa. Endlich, endlich habe er die Ferne entdeckt, Bali, Alaska, Malediven – ihr glaubt gar nicht, wie ich rumgekommen bin in den vergangenen Jahren. Ruhestand, sagte er, die neue Freiheit.

«Unruhestand!», rief einer.

Unruhestand, dachte Hecker. Das Wort stand auch auf seiner Liste der verbotenen Wörter. Er zählte es zu den «Verniedlichungswörtern». Eine ganze Reihe gab es davon, etwa die Formulierung «50 Jahre jung» oder der Ausdruck...

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