VORWORT
In die Jahre 2014/15, in denen das vorliegende Buch entstand, fielen hochkarätige Gedenkdaten der deutschen Geschichte. 2014 jährte sich der Beginn des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal, 2015 das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal. Beide Ereignisse haben einschneidende Bedeutung für das Leben der Generation der heute rund 70-Jährigen, die zugleich den Großteil der Seniorenstudierenden an der Universität München ausmacht. Diese historischen Ereignisse wirken weiter bis in die Gegenwart – im familiären und im gesamtgesellschaftlichen Kontext.
Deshalb widmete das Seniorenstudium der LMU dem Thema Kriegskinder im WS 2014/15 eine eigene Vortragsreihe. Sie war konzipiert zum einen als Bestandsaufnahme für die aus Anlass der Jubiläen anschwellende Flut an Publikationen; seien es literarische Texte, Sachbücher, Erlebnis- und Erinnerungsbände oder die Ergebnisse von Forschungsprojekten. Zum anderen verstand sich die Reihe als später Versuch der Auseinandersetzung mit einem Thema, das das Leben der Kriegs- und Nachkriegskinder und ihrer Nachkommen entscheidend geprägt hat, auch, wenn es lange Zeit tabuisiert worden ist; öffentlich wie privat.
Das Programm dieser Vortragsreihe bot – teils hochproblematische – zeitgeschichtliche Themen in einer bunten Mischung von Fächern und Formen: aus Medizin, v.a. Geriatrie und Psychologie, Pädagogik und Erziehungswissenschaften, Kunstgeschichte, jüdischer Geschichte sowie wissenschaftlichen Forschungsprojekten1 und ihren Ergebnissen samt einem Blick auf andere Medien wie Film, Literatur und v.a. autobiografisches Schreiben.2
Die Vortragsreihe stieß bei den Hörerinnen und Hörern auf außergewöhnlich große, positive Resonanz. Den Abschluss bildete eine Lesung: Teilnehmer der Arbeitskreise für Autobiografisches Schreiben aus dem Programm des Seniorenstudiums der LMU trugen Texte vor, die sie in diesen Kursen geschrieben hatten. Die vorliegende Anthologie versammelt eine Auswahl der dort unter Leitung von Dr. Roswitha Goslich und Arwed Vogel entstandenen Texte. Die Autorinnen und Autoren berichten als Zeitzeugen von ihren Kindheitserfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit. Der Zeitraum umfasst beinah das ganze 20. und das beginnende 21. Jahrhundert. Von den Vätern, die bereits traumatisiert aus dem Ersten Weltkrieg kamen, über Krieg, Flucht, Vertreibung spannt sich der Themenbogen bis zur akribischen Suche nach Position, Beteiligung und Schuld der Eltern an den Kriegsverbrechen aus der NS-Zeit. Thematisiert werden auch die unterschiedlichen Erfahrungen der Sozialisation in den beiden deutschen Staaten, in den Anfangsjahren von BRD und DDR.
Alle Texte machen deutlich, wie stark das kollektive Schicksal von Krieg, Flucht, Vertreibung, Bombennächten, Vaterlosigkeit und zerrissenen Familien diese Kindheiten geprägt haben. Und sie zeigen, welch weitreichende Folgen diese frühen Erfahrungen für das Leben der Betroffenen hatten.
Geordnet sind die hier versammelten Textbeiträge nicht chronologisch, sondern thematisch, unter acht verschiedenen biografischen Leitmotiven, die ungewöhnliche Verbindungen zwischen den Texten eröffnen. Es sind die Themen Vergangenheit/Umbruch, Unterwegs, Angst, Fremde, Ankommen, Scham, Lernen/Erwachsenwerden – und – fast allgegenwärtig – immer wieder: der Vater.
Seine Abwesenheit – bedingt durch Krieg, Kriegstod oder späte Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft – prägt auch die Biografien der Frauen, Mütter und Kinder. Aus dieser Konstellation ist ein eigenes literarisches Genre entstanden, die Väterliteratur.3 Sie ist thematisch konzentriert auf die Reflexionen und Erfahrungen der sogenannten ‚zweiten Generation’, verstanden als die Generation der während der national-sozialistischen Herrschaft und in den unmittelbar darauffolgenden Jahren Geborenen.
Ihr wesentliches Element ist die Kritik am Vater als dem symbolischen Vertreter der Macht und des Gesetzes. Mit dieser Väterliteratur entsteht ein Genre, in dem sich Söhne und Töchter im autobiografischen Kontext mit der Nazi-Vergangenheit ihrer Väter auseinandersetzen und diese literarisch darstellen, mit dem Ziel, so einen Spiegel der Selbstreflexion zu schaffen. Zu diesem Genre gehören sowohl die entpolitisierten Texte der ‚Neuen Subjektivität’ als auch stark politisch oder polemisch aufgeladene autobiografische Texte.
Die Autorinnen und Autoren dieser Anthologie – Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Herkunft, Sozialisation, Lebenserfahrung und politischer Haltung, deutlich mehr Frauen als Männer – blicken aus sehr unterschiedlichen Perspektiven zurück. Auch sprachlich sind Kontraste spürbar. Die Bandbreite der Gestaltungsweisen reicht vom einfachen Bericht bis zur gestalteten autobiographischen Erzählung, von dokumentarischen Darstellungen bis zu lyrischen und experimentellen Versuchen. Als Zeitzeugen-Dokumente sind sie in ihrer ursprünglichen Art, ihrer Authentizität belassen worden.
Allen Texten gemeinsam erscheint eine Grunderfahrung und Haltung im Umgang mit der Familiengeschichte: das kollektive Tabu, mit dem das Leben in der NS-Zeit lange belegt war und oft noch immer belegt ist. Ein Interview im SPIEGEL fasst dieses Tabu in der Titelformulierung Ich habe nie gefragt.4 Zwar versteht der dort Interviewte, Andrew Reich-Ranicki, der Sohn des bekannten Literaturkritikers, sein Schweigen als durchaus individuelle Reaktion, geprägt von der Scheu, stark emotionale und zugleich problematische, als „verfänglich“ empfundene Themen anzusprechen – ganz so, wie es in seiner Ursprungsfamilie offenbar üblich war. Trotzdem darf man seine Haltung auch verstehen als Teil kollektiven Verhaltens einer ganzen Generation, als das kollektive Tabu, das in letzter Zeit immer wieder in unterschiedlichsten Zusammenhängen der deutschen Emigrations- und Nachkriegsgeschichte auftaucht und aufgegriffen wird. Zum Beispiel in der verbreiteten Haltung jüdischer Emigranten in USA, die bis heute über ihre Herkunft und ihr kollektives Emigrantenschicksal schweigen: „Wir haben nicht darüber geredet. Warum auch?“5
Diese Haltung erweist sich als prototypisch für die der Kriegs- und Nachkriegsgeneration – gleich ob Täter- oder Opferkinder – zu dieser zentralen Frage ihrer Vergangenheit, individuell ebenso wie kollektiv. Ihren ersten Ausdruck fand diese kollektive Verweigerung einer ganzen Generation im Titel der bereits 1967 erschienenen Studie von Alexander und Margarete Mitscherlich über Die Unfähigkeit zu trauern.6
Die in der vorliegenden Anthologie versammelten autobiografischen Texte wollen diese Verweigerungshaltung durchbrechen. Ihnen gemeinsam ist der Wunsch der Autorinnen und Autoren nach Klärung, nach Aufarbeitung und Niederschrift, verbunden auch mit dem Wunsch, Rechenschaft abzulegen: vor den eigenen Kindern und Enkeln, vor den nachfolgenden Generationen – und der Wunsch, sich auszusöhnen mit dem kollektiven Schicksal, Kriegskind, Nachkriegskind, Täterkind zu sein.
Ganz so, wie es Bettina Alberti mit Bezug auf die mittlerweile zur Metapher gewordenen Trümmerfrauen formuliert hat: Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt.“7
Edda Ziegler
Zentrum Seniorenstudium der Universität München
1
Meinolf Peters, Karin Jeschke, Lisa Peters: Therapeutenverhalten bei älteren Patienten. Studie am Institut für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie/Marburg. Stuttgart, New York 2013. Die Studie wurde von der Heidehof-Stiftung (Stuttgart) finanziell unterstützt und zusammen mit der Psychotherapeutenkammer Berlin, der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld und dem Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Marburg durchgeführt.
Hartmut Radebold, Werner Bohleber, Jürgen Zinnecker (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Stuttgart 2006
Kriegskindheit im Zweiten Weltkrieg und ihre Folgen. Forschungsprojekt an der Ludwig-Maximilians-Universität München 2003 – 2011; Leitung: Prof. Dr. Michael Ermann (ca. 20 Publikationen in Fachzeitschriften)
2
Zum Programm im Einzelnen vgl. das Vorlesungsverzeichnis des Seniorenstudiums der LMU im WS 2014/15, S. 16 f.
3
Julian Reidy: Vergessen, was Eltern sind. Relektüre und literaturgeschichtliche Neusituierung der angeblichen Väterliteratur. Diss. Zürich 2012
4
DER SPIEGEL, 26. Mai 2014; Interview mit Andrew Reich-Ranicki, geb. 1949, dem Sohn des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki. Andrew Reich-Ranicki ist als Kind einer jüdischen Familie aus Warschau in der BRD aufgewachsen und lehrt heute als Professor der Mathematik an der Universität Edinburgh.
5
Willen zum Optimismus. In: SZ vom 10.9.2014 über jüdische Designer in USA
6
Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967
7
Bettina Alberti: Seelische Trümmer. Geboren in den...