I.
KURORTFREUDEN – SCHÜLERLEIDEN
1862–1880
Familienleben im Hotel
Es herrschte mildestes Maiwetter, als Gerhart Hauptmann – oder, wie der korrekte Taufname lautete:[1] Gerhardt (!) Johann Robert Hauptmann – am 15. November 1862, einem Sonnabend, im schlesischen Salzbrunn geboren wurde. Seine Eltern Robert Hauptmann und Marie geb. Straehler konnten genau fünf Tage zuvor ihren zehnten Hochzeitstag begehen. Die drei älteren Kinder Georg, Johanna und Carl hatten am Vormittag gerade ein Schaukelpferd zu Bruch geritten, als sich ihre Mutter zu Beginn der pünktlich um 12 Uhr eingenommenen Mittagsmahlzeit «totenbleich» verfärbte. Johanna Hauptmann wird sich noch Jahrzehnte später daran erinnern, dass das «polnische Fräulein» sie und die Brüder daraufhin zum Dachrödenshof, dem benachbarten Anwesen der Großeltern Straehler, brachte, von wo sie knapp drei Stunden später in das väterliche Hotel zurückgerufen wurden: «Als Vatel der uns im Wohnzimmer empfing, die Geburt eines Brüderchens ankündigte, war mein Glück so groß, daß ich nicht wußte, was tun. Keine Puppe, ein lebendiges Brüderchen. Ich kullte mich Minuten lang auf dem Teppich herum, – und als man mir Abends tief in Betten versteckt den kleinen Mann, – eine lebendige Puppe zeigte, – war mein größter Herzenswunsch erfüllt.»[2]
Für Johanna, die unverheiratet und kinderlos bleiben sollte, war die mütterliche Rolle gegenüber dem um sieben Jahre jüngeren Bruder eine singuläre Erfahrung. Sie sollte ihr wohl auch den Namen geben, denn nach Kaulbachs Stich «Lotte, Brot schneidend» (also wie Werthers Geliebte die Geschwister versorgend) wurde Johanna nach Georgs Vorschlag allgemein im Familienkreis Lotte genannt.[3] Jedenfalls gehörte es später zu den schönsten Momenten ihrer Striegauer Pensionszeit, wenn «Gerhart der kleine reizende verwöhnte Liebling, mich besuchte und Alles vom Rector bis zu den Pensionärinnen von dem wirklich wonnigen Kerlchen so entzückt waren, daß sie ihn am Liebsten da behalten hätten.»[4] Allerdings muss Johanna-Lotte bald erfahren, mit welchen Sorgen die Aufzucht dieses Kindes verbunden ist. Schon im Alter von wenigen Monaten erleidet Gerhart eine schwere Hirnhautentzündung; die Schwester findet ihn in seinem Bett mit «Blutegeln um das zarte Köpfchen»: «Als Jüngster, zart und nervös, blieb er immer das Schmerzenskind.»[5]
Im Zentrum der Sensibilität dieses Benjamin steht sein Freiheitsbedürfnis: «Er liebte immer die vollkommene Freiheit über Alles.»[6] So sieht es die Schwester, und so stellt auch Hauptmann selbst in seiner Autobiographie Das Abenteuer meiner Jugend (1937) seine kindliche Persönlichkeit dar. Das Glücksgefühl, das er dort seinen ersten Lebensjahren zuspricht, erklärt sich nicht zuletzt aus dem hohen Maß an Freiheit, das der Gastwirtssohn aus dem Hotel Zur Krone (später: Preußische Krone) im Mikrokosmos des schlesischen Kurorts genoss. Zumal in der (Sommer-)Saison, wenn die Eltern durch die vielfältigen Aufgaben des Hotelbetriebs gebunden waren, konnte der Junge fast unbeaufsichtigt das Terrain um das häusliche Domizil erkunden, sich mit der gleichaltrigen Dorfjugend verbünden und verschiedene Milieus entdecken, deren Beschreibung auf den Leser wie eine Einstimmung auf die naturalistische Dramatik der 1890er Jahre wirkt. So fühlt man sich unwillkürlich an Hauptmanns Tragödie Fuhrmann Henschel erinnert, wenn der Autobiograph den Fuhrmannsbetrieb auf dem Hof des elterlichen Hauses und die Faszination beschreibt, die für den Knaben von der proletarischen Esskultur der Familie Krause ausging.
Dabei war es dem jungen Gerhart natürlich nicht um künftige literarische Verwertbarkeit zu tun, sondern um eine Freiheitserfahrung grundsätzlicher Art, die die Autobiographie in die eigentümliche topographische Formel fasst: «Nach unten zu wächst nun einmal die Natürlichkeit, nach oben die Künstlichkeit. Nach unten wächst die Gemeinsamkeit, von unten nach oben die Einsamkeit. Die Freiheit nimmt zu von oben nach unten, von unten nach oben die Gebundenheit.»[7] Hauptmanns Erklärung bewegt sich in bemerkenswerter Nähe zur wenig später (1939) veröffentlichten Zivilisationstheorie des Soziologen Norbert Elias; nach dieser ist die Herausbildung der höfischen Gesellschaft mit einer deutlichen Verschärfung von Scham- und Peinlichkeitsschwellen, einer Verfeinerung der Ess-Sitten und einer fortschreitenden Tabuisierung der Sexualität verbunden – mit einem Zuwachs also (um es wieder mit Hauptmanns Worten zu sagen) von «Künstlichkeit» und «Gebundenheit».
Abb. 1: Das Geburtshaus Hotel Preußische Krone in Obersalzbrunn, ca. 1878
Und in den Sälen der Preußischen Krone herrschten damals in der Tat quasi höfische Standards. Robert Hauptmanns Hotel war eine der ersten Adressen Obersalzbrunns (ab 1935: Bad Salzbrunn, heute: Szczawno-Zdrój), eines seit 1815 ausgebauten Heilbads, das seinerzeit vor allem Kranke und Erholungssuchende des russisch-polnischen Adels anzog. Die den geselligen und repräsentativen Bedürfnissen dieses Publikums dienenden Säle des ersten Stocks – mit Klavier und gelben Mahagonipolstermöbeln, Rembrandt- und Raffael-Kopien sowie lebensgroßen Ölporträts des preußischen Königspaars an den Wänden – «wiesen gewissermaßen feierlich in eine fremde Welt höherer Lebensform». Im gleichen Stockwerk befanden sich die «Bürgerzimmer», in denen sich während des Winterhalbjahrs – zur Zeit der Hotelschließung – das Familienleben der Hauptmanns abspielte. Als «Wildling» und «Naturkind»[8] fühlte sich Gerhart hier allerdings weniger zu Hause als in der Kutscherstube des Erdgeschosses oder dem hauswirtschaftlich genutzten Bereich mit dem bezeichnenden Namen «Unterm Saal». Er verhielt sich dementsprechend und verzichtete beispielsweise auf den Gebrauch des Taschentuchs: «Die künstlichen Sitten der elterlichen Bürgerzimmer konnten den natürlichen Unsitten der Straße und des sogenannten niederen Volkes nicht standhalten.»[9]
Wie ein Euphorion – die aus Faust II bekannte Verkörperung der Poesie – sieht sich Hauptmann zwischen Oben und Unten hin- und herspringen. Zu einem echten Seitenwechsel kommt es dabei natürlich nicht. Der kleine Gerhart probiert nur einmal, zusammen mit den Dorfjungen im Staub des Krause’schen Omnibusses den weniger betuchten Kur-Ankömmlingen aufzulauern und gegen ein kümmerliches Trinkgeld seine Trägerdienste anzubieten. Wenn er in der väterlichen Equipage sitzt, überkommt ihn sogar ein «Vornehmheitsdünkel», der ihn am lauten Gesang der Geschwister Anstoß nehmen lässt.[10] Wie stark im Übrigen sein ästhetischer Sinn von der Welt der Hotelsäle geprägt wurde, zeigt allein schon seine lebenslange Vorliebe für Rembrandt. Aber auch der Geist des Klassizismus, der den Kuranlagen insgesamt seinen Stempel aufdrückte, ging kaum spurlos am Knaben vorbei; in seiner Autobiographie beruft sich Hauptmann wiederholt auf die Beziehung seines Großvaters Ferdinand Straehler zum Goethe-Freund Karl Josef Raabe und auf dessen Anteil an der Planung des Gebäude-Ensembles, das dem aufblühenden Kurort sein unverwechselbares Gesicht gab: von der Elisenhalle mit ihrer dorischen Säulenreihe über das Kurtheater bis zur historistischen Burgarchitektur des Ausflugslokals Wilhelmshöhe.[11]
Man wandelt nicht ungestraft unter Säulen – Hauptmanns lebenslanges Interesse an der Kunst der Antike mag in diesen kindlichen Eindrücken seine Grundlage haben. Noch direkter scheint sich in der Vorliebe des Dichters für längere Aufenthalte in Kurorten (Baden-Baden, Bad Liebenstein, Bad Eilsen) ein Muster seiner Kindheit fortzusetzen. In einem sehr umfassenden Sinn gilt Ähnliches auch für den ausgeprägten Wechsel zwischen Phasen der Zurückgezogenheit (etwa im Wiesenstein oder auf Hiddensee) und Phasen der Repräsentanz mit vielbeachteten Auftritten auf der Bühne der Hauptstadt als charakteristischem Rhythmus von Hauptmanns künftigem Leben. Einen solchen Wechsel lernte schon das Kind kennen: in der regelmäßigen Abfolge von Sommersaison mit Kurgastbetrieb und winterlicher Schließung des Hotels, wenn der Großteil des Personals entlassen war und die Familie in wenigen Räumen des ersten Stocks zusammenrückte.
Der schon 1853 geborene Bruder Georg, der in Breslau das Gymnasium besuchte und danach in Schweidnitz seinen Militärdienst ableistete, kam damals allerdings nur zu den Ferien nach Hause. Auch Lotte dürfte bald durch den Besuch des auswärtigen Mädchenpensionats abgehalten worden sein. Umso enger und intimer gestaltete sich zur Winterszeit die Konstellation der Restfamilie: Die jüngsten Söhne Carl und Gerhart, viereinhalb Jahre im Alter voneinander entfernt, waren den Eltern damals so nahe wie zu keiner anderen Zeit und dürften auch einiges von den unterschwelligen Spannungen ihrer nicht in jeder Hinsicht glücklichen Ehe...